Neuzeitliche Exegese der Bibel

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sven23
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#151 Re: Neuzeitliche Exegese der Bibel

Beitrag von sven23 » Di 30. Dez 2014, 07:49

closs hat geschrieben: 1) Man übersetzt ein Wort mit "Generation" (Assoziation: ca. 25 Jahre), dabei ist damit "Geschlecht/Volk" gemeint. - Damit wird die Bedeutung "Euer Volk wird noch bestehen, wenn ich zurückkomme" umgebaut in "Solange ihr noch lebt, werde ich kommen" - das wäre dann wirklich Naherwartung.


So ist es. Jesus wendet sich aber noch in direkter Rede an seine Jünger:

(Mk 9,1): "Und er sprach zu ihnen (den Jüngern): Wahrlich, ich sage euch: Es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie sehen das Reich Gottes kommen mit Kraft."

aber auch:

(Mt 10,23): "Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so flieht in eine andere. Wahrlich, ich sage euch (den Jüngern): Ihr werdet (mit eurer Mission) mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt."

So groß war Israel nun auch nicht, als daß man 2000 Jahre für die Missionierung gebraucht hätte.

closs hat geschrieben: 3) Es gibt Zitate, aus denen ersichtlich wird, dass das Himmelreich nah ist - da ist selbstverständlich kein zeitlicher Bezug gemeint (Du guckst ja auch nicht auf die Uhr, wenn Du zu Deiner Tochter sagst, dass sie Dir nah ist), wird aber so interpretiert (= "Ich komme bald zurück")

Ich würde eher sagen, daß alles andere als zeitliche Nähe eine falsche Interpretation ist.

(Hebr 10,37): "Denn nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben. ..."

(Jak 5,8): "Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe."


(1. Petr 4,7): "Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge. So seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet."

siehe auch:
http://www.bibelkritik.ch/bibel/g28.htm

closs hat geschrieben: 4) Von K.Barths übergeordneter Deutung (die ich sehr gut nachvollziehen kann) ganz abgesehen, die all diese Zitate in einen geistigen Kontext stellt (was bei der Bibel eigentlich nicht überraschen dürfte)

Einem Glaubensdogmatiker fehlt der ganzheitliche Blick. Er fokussiert sich auf seine Glaubensperspektive und schaut nicht recht und links. Das ist old fashioned, nicht mehr zeitgemäß.

closs hat geschrieben: Und dann gibt es 5) zwischendrin tatsächlich vereinzelte Zitate, aus denen man schließen muss, dass Paulus tatsächlich eine Naherwartung hatte. - Das wiederum würde ich unter "Kontaminierung" einordnen - er hat einfach nicht gecheckt, was sein Chef gemeint hat (was ja öfter der Fall ist - "und sie verstanden ihn nicht").

Das ist wiederum verständlich. Er hat Jesus persönlich nicht gekannt, geschweige denn ein Wort mit ihm gewechselt. Die Naherwartung war aber so weit verbreitet und fester Glaubensbestandteil, daß er das gar nicht in Frage stellen mußte. Das Versprechen einer nahen Verbesserung der Lebensumstände war doch das Kerngeschäft der vielen Wanderprediger, Messiasse und Heilsverkünder.
Es gab auch radikale Heilsverkünder, die Aufstände organisierten und von den Römern blutig niedergeschlagen wurden.
Eins ist doch klar: wer sich eine Verbesserung seiner Lebensumstände erhofft, der will das möglichst zeitnah selbst noch erleben und nicht erst in 2000 Jahren oder noch länger. Mit solchen wagen Versprechen hätten Wanderprediger keinen Erfolg gehabt.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

R.F.
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#152 Re: Neuzeitliche Exegese der Bibel

Beitrag von R.F. » Di 30. Dez 2014, 13:24

sven23 hat geschrieben: - - -
(Mt 10,23): "Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so flieht in eine andere. Wahrlich, ich sage euch (den Jüngern): Ihr werdet (mit eurer Mission) mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt."

So groß war Israel nun auch nicht, als daß man 2000 Jahre für die Missionierung gebraucht hätte.
- - -
Jakobus richtete sein Schreiben “an die zwölf Stämme in der Zerstreuung”. Zur Zeit Jesu befanden sich jedoch auf dem Territorium im wesentlichen nur Abkömmlinge der Stämme Juda, Benjamin und Levi. Wo aber hielten sich die übrigen neun oder zehn Stämme auf?

Jesu Vorhersage war durchaus berechtigt. Die damaligen Menschen waren weit mobiler als allgemein angenommen. Selbstverständlich tauschten lange vor Marco Polo Völker des Mittelmeerraumes Waren mit Fernost aus. Wie schon das AT berichtet, war der Stamm Dan und die Phönizier erfahrene Seefahrer. Selbstverständlich war die Route Palästina - Rom - Britannien nichts Ungewöhnliches. Es gibt Hinweise, wonach sich die “verlorenen Stämme” in europäischen Regionen ihren Wohnsitz hatten...

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#153 Re: Neuzeitliche Exegese der Bibel

Beitrag von R.F. » Di 30. Dez 2014, 13:31

Münek hat geschrieben: - - -
Du kannst davon ausgehen, dass die Professoren an den theologischen Fakultäten
ihr Handwerk verstehen. Das sind weder Stümper noch Dilettanten.
- - -
Nein, die sind weit schlimmer. Leider sind die angemessenen Bezeichungen strafbewehrt...

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#154 Re: Neuzeitliche Exegese der Bibel

Beitrag von R.F. » Di 30. Dez 2014, 13:39

Münek hat geschrieben: - - -
Weshalb bezweifelst Du, dass die theologische Wissenschaft ergebnisoffen forscht?
Die Berechtigung solcher Zweifel ist leicht zu belegen. Wir müssen uns dazu nur mal den einen oder anderen Kommentar etwas näher anschauen...

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#155 Re: Neuzeitliche Exegese der Bibel

Beitrag von R.F. » Di 30. Dez 2014, 13:58

Münek hat geschrieben: - - -
Selbstverständlich darf und soll hier jedermann seine Glaubensüberzeugungen ohne Einschränkung vertreten. Keine Frage! :thumbup:
- - -
Fein, wir dürfen also weitermachen wie bisher. Herr Spar-Club-Präsident, ich bewundere Euren Großmut... :lol:

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#156 Re: Neuzeitliche Exegese der Bibel

Beitrag von Pluto » Di 30. Dez 2014, 14:10

R.F. hat geschrieben:
Münek hat geschrieben:Weshalb bezweifelst Du, dass die theologische Wissenschaft ergebnisoffen forscht?
Die Berechtigung solcher Zweifel ist leicht zu belegen. Wir müssen uns dazu nur mal den einen oder anderen Kommentar etwas näher anschauen...
Dann bitte ich darum, es zu zeigen.
Oder willst du jetzt etwa kneifen, Lieb-Erwin?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#157 Re: Neuzeitliche Exegese der Bibel

Beitrag von Münek » Di 30. Dez 2014, 14:12

R.F. hat geschrieben:
Münek hat geschrieben: - - -
Selbstverständlich darf und soll hier jedermann seine Glaubensüberzeugungen ohne Einschränkung vertreten. Keine Frage! :thumbup:
- - -
Fein, wir dürfen also weitermachen wie bisher. Herr Spar-Club-Präsident, ich bewundere Euren Großmut... :lol:

Tja, lieber Erwin, so bin ich eben: Ein feiner Kerl. Im neuen Jahr kannst Du
mich übrigens wieder duzen. :thumbup:

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#158 Re: Neuzeitliche Exegese der Bibel

Beitrag von closs » Di 30. Dez 2014, 14:17

sven23 hat geschrieben:Glaubensdogmatikern fehlt oft der ganzheitliche Blick
Das ist exakt mein Vorwurf an die Historisch-Kritischen, weil sie den Eindruck erwecken, reduktiv Einzelzitate ohne Blick für Zusammenhänge zu interpretieren.

sven23 hat geschrieben: Jesus wendet sich aber noch in direkter Rede an seine Jünger
Worauf bezieht sich das? - Auf die "Verklärung"? Auf die Auferstehung? Auf Pfingsten? Auf die Zeit, bis die Offenbarung, also die Wiederkunft Jesu, stattfindet? - Warum schreibt Johannes üpberhaupt die Offenbarung mit ihren verschiedenen Phasen? Warum wird vom Antichrist gesprochen, der vorher in die Welt treten wird? Alles innerhalb von einigen Jahren/Jahrzehnten?

sven23 hat geschrieben: Das ist old fashioned, nicht mehr zeitgemäß.
Ich meine, dass es der einzige Weg bleibt, wenn man Einzelzitate im Zusammenhang interpretieren möchte. - Reduktive Einzel-Deutungen führen in die Irre.

sven23 hat geschrieben:Eins ist doch klar: wer sich eine Verbesserung seiner Lebensumstände erhofft, der will das möglichst zeitnah selbst noch erleben und nicht erst in 2000 Jahren oder noch länger.
Das ist menschlich und gleichzeitig kontaminierend.

Unterm Stich vermute ich, dass Jesu geistige Aussagen (davon abgesehen, dass einige heute fragwürdig ausgelegt werden) schon damals utilitaristisch umgedeutet wurden ("wir werden noch davon profitieren"), also kontaminiert wurden. - Dass Paulus bei all seinen wirklich schlauen sonstigen Sprüchen davon erfasst wurde, ist überraschend. - Aber auch zu Petrus hat Jesus gesagt "Weiche, Satan".

Im gesamten Kontext der Bibel (also ganzheitlich) wäre es ein brutaler Widerspruch, wenn neben den Verheißungen für die Zukunft, der Gründung einer Kirche (für ein paar Jahrzehnte?), etc. plötzlich ein erratischer Block zwischendrin stehen würde, der sagt: "Alles so nicht gemeint - ist eh demnächst rum". - Das passt hinten und vorne nicht.

Halman hat geschrieben: gewann ich den Eindruck, dass der Zeitgeist in der Exegese einen gewichtigen Einfluss hat.
Auch mein Eindruck.

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#159 Re: Neuzeitliche Exegese der Bibel

Beitrag von sven23 » Di 30. Dez 2014, 16:03

closs hat geschrieben:Worauf bezieht sich das? -

Ist doch ziemlich eindeutig.

(Mk 9,1): "Und er sprach zu ihnen (den Jüngern): Wahrlich, ich sage euch: Es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie sehen das Reich Gottes kommen mit Kraft."

aber auch:

(Mt 10,23): "Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so flieht in eine andere. Wahrlich, ich sage euch (den Jüngern): Ihr werdet (mit eurer Mission) mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt."


closs hat geschrieben: Das ist menschlich und gleichzeitig kontaminierend.

Also wenn man dir glauben kann, ist der Mensch ein einziges Kontaminationsgerät. :lol:


closs hat geschrieben: Das passt hinten und vorne nicht.

Taj, das sind aber die Fakten.

closs hat geschrieben:
Halman hat geschrieben: gewann ich den Eindruck, dass der Zeitgeist in der Exegese einen gewichtigen Einfluss hat.
Auch mein Eindruck.

Schon im 1. Jahrhundert schrieb eine Kritiker, daß die Schriften über Jesus überhaupt nichts mit dem ursprünglichen Jesus zu tun hatten.
Hätte Jesus selbst was schriftlich hinterlassen, müßt man nicht so rumrätseln. Andererseits ist es auch positiv für die Auslegung. Wer was schriftlich hinterläßt, ist auch angreifbar. So kann man immer sagen, die Mittelsmänner (Paulus und die Evangelisten) haben das falsch verstanden.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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#160 Re: Neuzeitliche Exegese der Bibel

Beitrag von closs » Di 30. Dez 2014, 16:29

sven23 hat geschrieben:Ist doch ziemlich eindeutig.
Anderes (mehrfach Genanntes) ist auch ziemlich eindeutig - und zwar gegenteilig eindeutig. - So kommt man nicht weiter.

sven23 hat geschrieben:Also wenn man dir glauben kann, ist der Mensch ein einziges Kontaminationsgerät.
Da ist was dran - Sprachkrise gab es schon immer.

sven23 hat geschrieben: das sind aber die Fakten.
Das sind Fäktchen auf EINER Ebene - insgesamt reicht das nicht.

sven23 hat geschrieben:Schon im 1. Jahrhundert schrieb eine Kritiker, daß die Schriften über Jesus überhaupt nichts mit dem ursprünglichen Jesus zu tun hatten.
Denkbar - aber auch nicht so wichtig: Wer sehen kann, sieht.

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