Das ist EXAKT meine Auffassung, weshalb ich immer und meistens vergeblich darauf hinweise, dass die Bibel-Texte in Bezug auf Jesus nicht das Original, sondern Rezeptionen sind. - Falls ich mich nicht verlese, sind wir uns dann diesbezüglich einig.Thaddäus hat geschrieben:Was "Jesus auf geistiger Ebene historisch gedacht" hat, wie du es ausdrückst, findet sich nicht im NT. Es findet sich dort nicht unmittelbar, was "der historische Zimmermann Jesus aus Nazareth gedacht, geglaubt, gesagt und getan" hat. Im NT findet sich stattdessen, was die Verfasser und Redaktoren der diversen Schriften dachten und glaubten, was der Messias und Gottessohn Jesus gedacht, geglaubt, gesagt und getan hat.
Für diesen Fall aber verstehe ich nicht, was Du vorher schreibst, weil mir dieses genau im Gegensatz zu dem zu stehen scheint, worüber wir uns einig sind, falls ich mich bei Deinem zweiten Absatz nicht verlesen habe. - Denn:
Unter heilsgeschichtlichen, hermeneutischen ("Hermeneutischer Zirkel") Gesichtspunkten ist der Erkenntnis-Prozess ein Prozess in der Rezeption - hier gilt also NICHT, dass die älteste Quelle die wahrheits-näheste sein muss - ganz im Gegenteil. - Dies entspricht natürlich nicht der HKM, die aus guten Gründen ganz anders arbeitet.
Entweder man schließt daraus, dass entweder HKM oder Heilsgeschichte/Hermeneutik doof sind, oder man erkennt, dass beide Unterschiedliches tun und anstreben - dies scheint mir die elegantere Interpretation zu sein. - Dementsprechend zeichnet die HKM die Entwicklung der Rezeption auf und weist nach, welche Aussagen älterer oder neuerer Natur sind - das tut sie aus meiner Sicht gut, sogar raffiniert und hochprofessionell - das ist ganz sicher nicht mein Kritikpunkt.
Die kanonische Exegese (die ja nur ein austauschbarer Statthalter für eine Disziplin ist, die die Bibel unter der nicht-falsifizierbaren Prämisse untersucht, dass Jesus göttlich ist) dagegen versucht, das "Original Jesus" (und eben nicht die Abfolge dessen Rezeption) zu untersuchen - im Sinne von: "Was hat Jesus eigentlich geistig wirklich gedacht, also was war sein Denken in der Historie?"
Nun gibt es darauf keine sichere Antwort, sondern nur spekulative Antworten ("Spekulation ist eine philosophische Denkweise zu Erkenntnissen zu gelangen, indem man über die herkömmliche empirische oder praktische Erfahrung hinausgeht und sich auf das Wesen der Dinge und ihre ersten Prinzipien richtet" - wik). - Weiterhin ist das auch keine Konkurrenz zur HKM, WENN sich diese auf ihr rezeptions-spezifisches Mandat beschränkt. - Nichtsdestoweniger kann die kanonische Exegese (bessere Gegenüberstellung wäre wahrscheinlich die biblisch-grammatische Exegese) dem historischen Denken Jesu näher sein als die HKM, weil das Denken Jesu eben keine rezeptions-abhängige Größe ist.
Insofern würde ich mir zweierlei wünschen:
1) Mehr Disziplin bei wissenschaftlichen Disziplinen: "Wofür sind wir eigentlich mit unserem Ansatz da und wozu nicht?"
2) Mehr interdisziplinären Austausch.
Dieses Dilemma ist eigentlich in der Theologie auch ohne Existenz der HKM bekannt - deshalb sagt man ja "Glaube" und nicht "Wissen". - Richtig ist, dass die weltanschaulichen SChützengräben beide Seiten verführt haben, immer neue Waffen zu entwickeln.Thaddäus hat geschrieben:Der Glaube an eine Wortinspiration der biblischen Schriften ist der eher verzweifelte Versuch, sich diesem grundsätzlichen Dilemma zu entziehen
Davon abgesehen: Rein geistig gesehen ist "göttliche Inspiration" eine eigene Größe (auch ohne SChützengräben) - und "Wortinspiration" ist ein Thema für Habilitationen: Wort=Logos=Memra. - Allein dadurch bleibt von "Wort" im Sinne des allgemeinen Verständnisses nichts mehr übrig.
Das ist etwas differenzierter:Thaddäus hat geschrieben:Es ist auch nicht plausibel, warum Gott sich überhaupt Verfassern seiner Schriften bedient, denen er erst mühsam "diktieren" muss (wie immer man sich das vorstellen möchte). Er hätte seine Schriften auch einfach aus dem Nichts und deutlich und klar formuliert erschaffen können.
1) Jede Offenbarung (= alles, was uns in unserer Wahrnehmung zugänglich) ist der Kontamination ausgesetzt, sobald es im dialektischen Raum ist, zu dem der Mensch und somit dessen Finger beim Schreiben gehören-
2) Der Sinn von Offenbarungen ist es, dass der Mensch alles prüft und das Gute ERKENNT (= es wird nichts vorgesetzt, sondern muss geistig individuell erkämpft werden).
3) "Wortinspiration" heißt nicht, dass jedes Wort in der Bibel wahr ist - das sagt sogar die RKK (ich weiß nicht, ob ich das im Katechismus oder woanders gelesen habe). - Jedenfalls steht da, dass es sich nur auf die Grundpfeiler des Glaubens bezieht - und nicht darauf, ob die Drei Typen aus dem Morgenland Könige, Weise oder überhaupt "real" existent waren.
4) "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" (Goethe). - Die Bibel ist ein Gleichnis/eine Offenbarung/eine Chiffre "für etwas" - wichtig: Ob eine Chiffre historischer oder metaphorischer Natur ist, ist komplett egal - beides ist möglich. - Insofern tanzen in der Bibel historische und metaphorische Chiffren miteinander - eine Herausforderung für die HKM.
5) In der Bibel geht es ausschließlich darum, wofür diese Chiffren stehen - die Chiffren selbst sind zweitrangig - was (und somit schließt sich der Kreis) die Theologie nur sekundär um Historisch-Kritisches kümmert - es ist zwar wichtig, aber nicht entscheidend. - Aber das erkennt man halt nur, wenn man überhaupt weiß, was "geistig" ist!