Irritiert fragt man sich, was aus jener »Einflussangst« geworden ist, die laut Harold Blooms großer Studie von 1973 dazu führt, dass sich jeder kulturell schöpferische Mensch instinktiv von seinen Vorbildern lösen will. Bloom verglich dies mit dem Freudschen Ödipuskomplex und behauptete, dass sich die Bedeutung etwa eines Gedichtes an der Kraft messen ließe, mit der es ein Vorgängergedicht verdrängen kann (womit Bloom natürlich auch wiederum selbst Vatermord verübte an den strukturalistischen und diskurstheoretischen Versuchen, die Vaterinstanz aufzulösen).
Noch in den sechziger und siebziger Jahren war es, genau wie Bloom beschreibt, für die großen deutschen Lyriker nach 1945, also Hans Magnus Enzensberger, Peter Rühmkorf und Robert Gernhardt, notwendig, den Übervater Gottfried Benn eigenhändig durch Spottgedichte aus dem Weg zu räumen, um überhaupt Raum zu haben für die eigene lyrische Stimme. Heute stattdessen: Lyrik »in memoriam x«, Poeme »in der Tradition von y« oder als »Reverenz an z«.
Hundert Jahre nach Sigmund Freuds Totem und Tabu scheint eine kulturelle Grundkonstante in Vergessenheit geraten zu sein: dass nämlich die Kulturgeschichte mit der Ermordung des tyrannischen Vaters der Urhorde durch die Söhne ihren Anfang nimmt. An die Stelle der bisherigen Ahnenreihe war mit Freud also das Ethos und Pathos des Neubeginns und der Erneuerung getreten. Kehrt mit Francis Ford und Sofia Coppola nun die Ahnenreihe als Deutungsmuster zurück?
Die Entwicklung der abendländischen Kultur belegt, dass wirkliches Wachstum immer aus dem Dreiklang von Adaption, Simulation und Überwindung entstand. Aus dem Manierismus erwuchs das Barock. Aus dem Historismus das Bauhaus. Wenn die Protegés nie hätten besser werden wollen als ihre Mentoren, dann würden wir immer noch Höhlenwände mit rennenden Mammuts bemalen. Mit hysterischen, spätpubertären Manifesten rempelten etwa die Expressionisten, die Futuristen und die Surrealisten am Anfang des 20. Jahrhunderts die kulturellen Platzhirsche von der Bühne.
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