SilverBullet hat geschrieben: ↑Mi 25. Dez 2019, 22:31
Wie du bereits bemerkt haben dürftest, steht der Körper hierbei voll und ganz im Mittelpunkt und ist „unangefochten von Nicht-Körperlichkeits-Phantasien“. Dies müsste gegen zahlreiche Aussagen der buddhistischen Lehre verstossen (vermutlich gegen alle)
Nein, das verstösst ganz und gar nicht gegen
mein buddhistisches Verständnis. Wenn ich unser Gespräch bisher richtig verstanden habe, dann ist das, worum es uns geht, eine Antwort auf die Frage zu finden: "Wie funktioniert der Mensch" (und deiner Ansicht nach vermag keine Religion diese Frage sinnvoll zu beantworten).
Zuerst mal: Was ist der Mensch? Du sagst: "Der Körper ist das Subjekt". Damit kann ich mich einverstanden erklären. "Nicht-Körperlichkeits-Phantasien" hege ich keine, falls du damit meinen solltest, dass es eine menschliche Existenz ohne Körper geben könnte. Hier das fünfgliedrige buddhistische Modell des Menschen (ein einfaches Konzept, das in der buddhistischen Philosophie noch viel differenzierter ausgearbeitet ist):
Der Mensch ist eine körperlich-geistige Einheit (besser: eine ebensolcher Prozess). Zum Zwecke eben der Einsicht in das Funktionieren dieses geist-körperlichen Prozesses - also des Subjekts - definierte der Buddha 5 Aspekte des Subjekts:
1) Körper
2) Gefühl
3) Wahrnehmung
4) Willensregungen
5) Bewusstsein
1) Beginnen wir beim Körper: Der Körper ist ausgestattet mit 6 Sinnen (Seh-, Hör-, Geruchs-, Geschmacks-, Tast-, Geist-Sinn).
Diese sechs Sinne kommen in Kontakt mit den ihnen zugehörigen Sinnesobjekten und das was dabei geschieht, nennen wir Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, Denken.
2) Jeder Sinneskontakt ist mit einem Gefühl verbunden, der Kontakt wird gefühlt, empfunden, und zwar als angenehm, als unangenehm oder als neutral. Das Gefühl bewertet den Kontakt ("das riecht gut", "das stinkt", "schöne Töne", "fürchterlicher Lärm", usw.).
3) Aufgrund des gefühlten Sinnenkontakts entsteht die (sechsfache) Wahrnehmung (ohne Sinnesempfindung gibt es keine Wahrnehmung). So wie das Gefühl den Kontakt bewertet, so nimmt nun die Wahrnehmung wahr was das Gefühl ausgelöst hat. Das Gefühl meldet beispielsweise "wohl" und die Wahrnehmung meldet "tut das" (z.b. diese körperliche Berührung = Tastsinn). Also an den fünf Körpersinnen geschieht gefühlte Wahrnehmung von Physikalischem und am Geistsinn gefühlte Wahrnehmung von Nicht-Physikalischem (das, was die fünf Körpersinne nicht wahrnehmen können, eben die Gefühle und die Willensregungen.
4) Nun kommen die (sechsfachen) Willensregungen ins Spiel und natürlicherweise lösen wohltuende Empfindungen Begehren und Anhaften aus (schliesslich erleben wir gerne Wohltuendes) und unangenehme Empfindungen lösen Aversion aus, also die Tendenz zur Flucht oder zum Angriff. Bei den neutralen Empfindungen besteht die Tendenz zur Gleichgültigkeit, zur Ignoranz.
5) Das ganze gipfelt in dem (gemäss den den Prozess auslösenden Sinnen ebenfalls sechsfachen) Bewusstsein: Seh-, Hör-, Geruchs-, Geschmacks-, Tast-, Geistbewusstsein). Der gesamte erlebte Prozess (inkl. der durch diesen ausgelösten sprachlichen und körperlichen Handlungen) wird im Bewusstsein abgespeichert und bei ähnlichen Erlebnissen auch wieder abgerufen (und wirkt so auch wieder als ein bedingender Faktor auf die Art des Erlebens ein).
Um es ganz klar zu stellen, keiner dieser Aspekte des Menschseins hat irgendwie Bestand, alle fünf - die im übrigen nur gemeinsam existieren können, also eben als das "Subjekt" - sind vergänglich. Hierzu aus dem buddhistischen Wörterbuch von Nyanatiloka (er übersetzt statt "Willensregungen" "Geistesformationen"):
Unser so genanntes individuelles Dasein ist in Wirklichkeit nichts weiter als ein bloßer Prozess dieser körperlichen und geistigen Phänomene. Hier sei besonders betont, daß auch die sog. 5 Daseinsgruppen als solche, genau genommen, lediglich eine abstrakte Klassifikation darstellen und daß, von der vierten Gruppe der Geistesformationen (Anm: "Willensregungen") abgesehen, die Gruppen als solche überhaupt keine Wirklichkeit haben (Anm: die "Willensregungen" haben "Wirklichkeit" in dem Sinne, dass sie Handlungen initieren, also "wirken").
Verkehrt ist es auch, daß man die Gruppen im Allgemeinen als zu kompakt, ja oft geradezu als mehr oder weniger dauernde Entitäten auffaßt, wohingegen sie doch als Gruppen überhaupt keine Wirklichkeit besitzen und auch selbst ihre Repräsentanten nur ein momentanes, schnell dahinschwindendes Dasein haben.
In den Lehrreden des Buddha lesen wir:
Unmöglich ist es, Abscheiden, Insdaseintreten, Wachstum und Entwicklung des Bewußtseins anzugeben, unabhängig von Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung und Geistesformationen.
Ich hege also keinerlei "Nicht-Körperlichkeits-Phantasien".
So "funktioniert" in diesem Modell der Mensch.
Und was tut "der Buddhist" nun damit?
Der Buddhismus kennt ein dreifaches Training:
a) Sozialtraining
b) Emotionstraining
c) Kognitionstraining
a) Eigentlich spielt es keine Rolle, wo ein Schüler einsteigt, traditionell wird aber meist mit dem Sozialtraining begonnen (ich als Sozialtherapeut sehe darin nichts anderes als dies: Sozialtherapie). Wir können es auch als Verhaltenstherapie bezeichnen. Die fünf hauptsächlichen Bereiche dieses Trainings beziehen sich auf den Umgang mit
- Gewalt
- Geld
- Sexualität
- Betäubung/Rausch
- Sprache
b) Indem hier bewusst und willentlich Grenzen akzeptiert werden, werden dann schnell einmal Emotionen (Willensregungen) erlebbar, die diese Grenzen nicht akzeptieren wollen (Gier, Hass, Egoismus, usw.). Da setzt dann das Emotionstraining ein: Ich lerne den Umgang mit starken Emotionen, lerne sie aushalten und kanalisieren um mir selber und anderen nicht unnötiges und sinnloses Leiden zu verursachen (du hast zu Beginn unseres Gesprächs einmal die "Emotionsregulation" erwähnt, darum geht es). Es geht aber dabei weder um ein Leugnen noch um ein Verdrängen der Emotion, sondern um ein klarbewusstes Erkennen und ein akzeptierendes Aushalten ohne durch sie "versklavt" und zu Reden oder Handlungen gezwungen zu werden, die unserem ethischen Verantwortungsbewusstsein widersprechen.
c) Das Kognitionstraining nun fasst das, was im Sozial- und Emotionstraining an Einsicht gewonnen wird konzeptuell zusammen, so dass mithilfe der Konzepte (wie hier mit dem Konzept der 5 Gruppen) - deren Ziel stets Leidvermeidung und Leidüberwindung ist - jederzeit der Intellekt (der eigene, wie auch im Falle des Lehrens der des Schülers) auf das Training ausgerichtet werden kann. Das klar Erkannte wird so immer weiter vertieft und reift mit der Zeit zu einem intuitiven Verhalten (wie z.B. das Autofahren "intuitiv" wird oder, wie bei meinem Bruder, der Kampfsport praktiziert, die Bewegungen "intuitiv" werden und nicht mehr darüber nachgedacht werden muss). Das bezeichnen wir im Buddhismus als "Weisheit" (und diese ist das Ziel oder der Sinn der gesamten buddhistischen Schulung) oder einfach im Sinne der drei Schulungen:
- Sozialkompetenz
- Emotionale Kompetenz
- Kognitive Kompetenz
In diesen drei praxisbezogenen "Kompetenzen" oder in dieser "Weisheit" erkenne ich einen "reifen Menschen" (und so "funktioniert" im Verständnis meiner Tradition ein "reifer Mensch").