Aus der Werkstatt des Theologen

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abc
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#21 Re: Aus der Werkstatt des Theologen

Beitrag von abc » Di 1. Okt 2019, 16:52

Thaddaeus hat geschrieben:
Mo 30. Sep 2019, 07:49
Festhalten kann man, dass die Zweiquellentheorie die literarkritische Hypothese ist, die praktisch von allen wissenschaftlich arbeitenden Exegeten akzeptiert wird und als Minimalkonsens und Arbeitsgrundlage verwendet wird.
Hallo Thaddäus,
möglicherweise geht das Ur-Evangelium auf Marcion von Sinope zurück, siehe neuere Studien von Matthias Klingenhardt, Prof. und Theologe der TU Dresden. Anbei ein Artikel der Zeitschrift "Welt", der die Zusammenhänge, wenn auch persönlich eingefärbt, im Überriß zeigt.
Gruß abc

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Thaddaeus
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#22 Re: Aus der Werkstatt des Theologen

Beitrag von Thaddaeus » Di 1. Okt 2019, 18:14

abc hat geschrieben:
Di 1. Okt 2019, 16:52
Thaddaeus hat geschrieben:
Mo 30. Sep 2019, 07:49
Festhalten kann man, dass die Zweiquellentheorie die literarkritische Hypothese ist, die praktisch von allen wissenschaftlich arbeitenden Exegeten akzeptiert wird und als Minimalkonsens und Arbeitsgrundlage verwendet wird.
Hallo Thaddäus,
möglicherweise geht das Ur-Evangelium auf Marcion von Sinope zurück, siehe neuere Studien von Matthias Klingenhardt, Prof. und Theologe der TU Dresden. Anbei ein Artikel der Zeitschrift "Welt", der die Zusammenhänge, wenn auch persönlich eingefärbt, im Überriß zeigt.
Gruß abc
Danke an alle Kommentatoren für ihre interessanten Einwürfe, mit denen man sich jeweils tiefer beschäftigen müsste!

Marcion von Sinope erscheint als Verfasser eines Ur-Markus - zumindest dem ersten Eindruck nach - nicht besonders plausibel, denn dann müsste der synoptische Markus alles Gnostische daraus getilgt haben und die zu vermutende sehr starke Judenfeindlichkeit (Marcion lehnte das AT ja komplett ab) zurückgenommen (obwohl der synoptische Mk. judenfeindliche Tendenzen hat, - aber eben auch nicht mehr).

Außerdem passen seine Lebensdaten nicht! Marcions Geburtsdatum wird zwischen 70-100 n.Chr. angesetzt und er lebte bis 160 n.Chr. Die Entstehungszeit des synoptischen Mk.-Ev.'s wird aber auf 70 n.Chr. datiert. Demnach müsste er schon im Säuglingsalter gewirkt haben ...

Um diese Fragen zu klären müsste man aber natürlich erst einmal das Buch lesen und besprechen ...
Auch Andreas' interessante Überlegung müsste ausfürlich in ihren Konsequenzen durchdacht werden.

Die eigentliche Exegese geht demnächst los, aber möglicherweise komme ich vor Do. noch nicht dazu ...

Edelmuth
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#23 Re: Aus der Werkstatt des Theologen

Beitrag von Edelmuth » Do 3. Okt 2019, 00:24

Thaddaeus hat geschrieben:
So 29. Sep 2019, 19:35
In diesem Forum wird zwar sehr viel ÜBER die historisch-kritische Exegese debattiert, doch es werden keine konkreten Exegesen von speziellen alt- oder neutestamentlichen Erzählungen vorgestellt, die auf der Basis dieser wissenschaftlichen Methode gewonnen wurden.
Es wird nie recht ersichtlich, wie genau historisch-kritische Methodik eigentlich arbeitet und wie sie zu ihren Ergebnissen kommt: wie also ihre Gedankengänge und exegetischen Schlussfolgerungen zustande kommen.
An dieser Stelle - also im neutestamentlichen Bereich des Forums - soll es nun also um neutestamentliche Erzählungen im Lichte ihrer historisch-kritischen Erforschung gehen.

Jeder, der eine bereits fertige, historisch-kritische Untersuchung eines Textes vorstellen, die exegetischen Ergebnisse einer bestimmten neutestamentlichen Erzählung eines wissenschaftlichen theologischen Kommentars präsentieren oder sich an einer eigenen, historisch-kritischen Auslegung versuchen möchte, sei herzlich eingeladen, dies hier zu tun.
Kommentare zu dem, was hier vorgestellt wird, sind selbstverständlich willkommen und erlaubt. Sie sollten sich aber auch wirklich auf das beziehen, was präsentiert wird.
Ich werde mich - nach einigen notwendigen Vorbemerkungen - an einer historisch-kritischen Analyse der spektakulären Wundergeschichte von Mk.5, 1-20: Der Besessene von Gerasa versuchen. Da ich keinen Markus-Kommentar vorliegen habe, mache ich das aus dem Kopf, so wie ich es theologisch-handwerklich an den Fakultäten, an denen ich studierte, gelernt habe. Wenn ich Fehler machen sollte, nehme ich es nicht übel, wenn man mich darauf hinweist. Es geht mir nicht darum, festgelegte Wahrheiten in irgendwelche Köpfe zu rammen.
Der von mir verwendete Quelltext ist der Text der Patmos Synopse (Schierse, Patmos Synopse, 16. Aufl., Düsseldorf: 1983), der versucht den griechischen Text möglichst getreu im Deutschen wiederzugeben, ohne dabei Rücksicht auf gefällige Lesbarkeit zu legen. Es ist mir schlicht zu viel Arbeit, den Text selbst zu übersetzen (und ich hätte vermutlich auch meine Schwierigkeiten). In der Patmos-Synopse sind die Evangelien der Synoptiker: also von Matthäus, Markus und Lukas synoptisch und Vers für Vers nebeneinander gestellt. Diese sehr nützliche, weil sehr übersichtliche Präsentationsform, ist hier leider nicht möglich.
Tatsächlich ist es kein banales Unterfangen historisch-kritische Exegesen vorzustellen, denn jede historisch-kritische Untersuchung im NT beginnt mit einer Untersuchung des rekonsttruierten, griechischen (Ur-)Textes (= TEXTKRITIK) auf der Grundlage des NOVUM TESTAMENTUM GRAECE (von Nestle Aland). Der Text des Novum Testamentum Graece ist deshalb nur rekonstruiert, weil alle Urtexte des Alten und Neuen Testamentes verloren gegangen sind.
Bild
Quelle
Darin finden sich eine rekonstruierte Annäherung der ältesten Textquellen der vier griechischen Evangelien, aller paulinischen Briefe, der Apostelgeschichte und der Offenbarung des Johannes an die Urtexte dieser Schriften.
Da die meisten User hier aber vermutlich kein Altgriechisch beherrschen, macht es wenig Sinn, auf die griechischen Quellen einzugehen und den griechischen Text zu besprechen. Also lassen wir das.
Studenten arbeiten mit der Synopsis Quattuor Evangeliorum. Darin sind die rekonstruierten griechischen Urtexte aller vier Evangelien nebeneinander gestellt.
Die Vorbemerkungen sind naturgemäß etwas theoretisch, aber eben notwendig, weil sie Verständnisgrundlagen darstellen. Die eigentliche Exegese der markinischen Wundergeschichte vom Besessenen von Gerasa geht erst danach los. Ich bitte um Geduld.

Fortsetzung folgt ...
Matthäus 11:25+26,
25 Zu jener Zeit begann Jesus und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen geoffenbart hast! 26 Ja, Vater, denn so ist es wohlgefällig gewesen vor dir.
:wave:
Doch wenn eintrifft, was du ihnen angekündigt hast – und es wird ganz sicher eintreffen –, dann werden sie erkennen, dass ein Prophet unter ihnen gelebt hat.«
Hesekiel 33:33
            

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Thaddaeus
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#24 Re: Aus der Werkstatt des Theologen

Beitrag von Thaddaeus » Do 3. Okt 2019, 00:38

Edelmuth hat geschrieben:
Do 3. Okt 2019, 00:24
Matthäus 11:25+26,
25 Zu jener Zeit begann Jesus und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen geoffenbart hast! 26 Ja, Vater, denn so ist es wohlgefällig gewesen vor dir.
:wave:
Ja Edelmuth, du glaubst eben an einen Gott der Trottel.
Andere aber Gottseidank nicht. Übrigens auch nicht der Evangelist Matthäus, der in unserer Geschichte etwas Entscheidendes erkennt - wie wir noch sehen werden - und es abändert, weil er sah, das seine markinische Textvorlage falsch lag. ;)

Bist du dir übrigens sicher, dass dieser Mt.-Vers in den ältesten Quellen überhaupt vorkommt? Im Gegensatz zu mir weißt du ja nicht, wer den Text deiner Bibel zusammengestellt hat ... [die Quellen sind: C, L, W, θ] :wave:
Zuletzt geändert von Thaddaeus am Do 3. Okt 2019, 00:52, insgesamt 1-mal geändert.

Edelmuth
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#25 Re: Aus der Werkstatt des Theologen

Beitrag von Edelmuth » Do 3. Okt 2019, 00:46

Thaddaeus hat geschrieben:
Do 3. Okt 2019, 00:38
Edelmuth hat geschrieben:
Do 3. Okt 2019, 00:24
Matthäus 11:25+26,
25 Zu jener Zeit begann Jesus und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen geoffenbart hast! 26 Ja, Vater, denn so ist es wohlgefällig gewesen vor dir.
:wave:
Ja Edelmuth, du glaubst eben an einen Gott der Trottel.
Nitschewo liebes Tanzgirl. :) Mein Gott hilft mir deinen Nonsens zu demaskieren. Unbedarften kannste aber einen vom Pferd erzählen-gelle? ;)
Doch wenn eintrifft, was du ihnen angekündigt hast – und es wird ganz sicher eintreffen –, dann werden sie erkennen, dass ein Prophet unter ihnen gelebt hat.«
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Edelmuth
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#26 Re: Aus der Werkstatt des Theologen

Beitrag von Edelmuth » Do 3. Okt 2019, 01:05

2.Korinther 10:3-5,
3 Ja, wir wandeln wohl im Fleische, führen aber unsern Kampf nicht nach Fleischesart; 4 denn die Waffen, mit denen wir kämpfen, sind nicht fleischlicher Art, sondern starke Gotteswaffen zur Zerstörung von Bollwerken: wir zerstören mit ihnen klug ausgedachte Anschläge 5 und jede hohe Burg, die sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt
:wave:
Doch wenn eintrifft, was du ihnen angekündigt hast – und es wird ganz sicher eintreffen –, dann werden sie erkennen, dass ein Prophet unter ihnen gelebt hat.«
Hesekiel 33:33
            

Helmuth
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#27 Re: Aus der Werkstatt des Theologen - Der Text: Mk.5, 1-20

Beitrag von Helmuth » Do 3. Okt 2019, 07:23

Servus Thaddaeus,

Gerne beteilige ich mich an deiner Nachforschung. Bin gespannt wo sie uns hinführt.

Thaddaeus hat geschrieben:
So 29. Sep 2019, 20:15
Was man bereits nach dem ersten Durchlesen unschwer bemerkt, ist der schlechte griechische Stil des Markus, der auch in der Übersetzung nicht zu übersehen ist. Markus reiht in simpelster grammatischer Konstruktion einfach Satz um Satz parataktisch aneinander und sein griechischer Wortschatz ist dabei ziemlich überschaubar. Dies bedeutet, dass Markus mit hoher Literatur sicherlich nicht vertraut war und aus eher einfachen intellektuellen Verhältnissen stammte.
Auffällig ist der häufige Satzanfang mit "und". Ist der simple "Telegrammstil" vielleicht beabsichtigt? Da der Urtext in Koine in Majuskeln verfasst wurde, zwischen Worten kein Trennungsabstand erfolgte bzw. Sätze nicht durch Satzzeichen voneinander getrennt wurden stellt sich für mir die Frage ob das "und" (griech. "kai") nicht schlicht dafür diente?

Was sagt die Textforschung dazu?

Thaddaeus hat geschrieben:
So 29. Sep 2019, 20:51
Fest steht aber, dass sowohl dem Mt. als auch dem Lk. das Mk.-Ev. als schriftliche Grundlage bereits vorlag.
Inwiefern steht das fest? Wer kann das belegen, wenn doch alles "Theorie" ist?

Eine Frage zur Logienquelle: In welcher Art exisiterte diese? Was lehrt die Forschung darüber?

Unter der Annahme, dass es in den ersten 20 Jahren vorwiegend mündliche Überlieferung gegeben hatte (Ausnahme Paulus), wird es auch keine "Logienquelle" in Schrifform gegeben haben. Für mich macht dann nur Sinn, diese Q-Quelle als Allgemeinwissen der damaligen Jünger anzunehmen. Die Q-Quelle exisiterte demnach in deren Köpfen. Kann man nicht ebenso annehmen, dass Mk damit nur als erster Wurf für eine Abfassung war? Es gar nicht beabsichtig war, eine hohe literarische Form anzustreben da es nur die ersten Notizen der Q-Qelle war?

Davon ausgehend verfasste man später Abfassungen in Schriftform, wobei der Heilige Geist nachweisbar mitwirkte. Für Lk nehme ich hingegen den echten Abfasser vor, sonst wäre seine Einleitung eine Irreführung. Das seien hier meine Gedankenänge dazu ohne höhere Ansprüche aber als Anregungen für deine Studien gedacht.

Thaddaeus hat geschrieben:
So 29. Sep 2019, 22:27
Viele, sich als besonders fromm verstehende Christen, gehen von einer Verbalinspiration der biblischen Schriften aus. Dies ist die Auffassung, dass Gott den Verfassern der biblischen Texte Wort für Wort unmittelbar eingegeben hat, so dass also Gott selbst eigentlich der Autor ist.
Hier vergisst man in erster Linie das innerbiblische Zeugnis genauer heranzuziehen. Was steht da, wer sagt es und was sagt es aus? Das Selbstzeugnis der Schrift spricht wesentlich deutlicher als das die Textforschung extern (exegetisch) bewerkstelligen könnte.

Die Inspirationsfrage kann nicht Aufgabe der Textkrtitk sein. Hier überschätz sie sich, da es ja an und für sich auch einen Grund gibt, warum es diese Texte überhaupt gibt. Ein einfaches Beispiel für ein innerbiblisches Zeugnis ist dieses:
Johannes 14,26 hat geschrieben: Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.
Was Textkritik dazu sagt ist gleichgültig. Dass Gott den Menschen ein Erinnerungsvermögen gegeben hat ist nicht ihr Forschungsfeld, weder zu zu belegen noch zu widerlegen. Es ist aber wie man sagen würde de jure und de facto Tatsache.

Wie es z.B. auch nichts bringt eine Analyse von Weintrauben vorzunehmen und anhand dessen darauf zu schließen, wer sie gepflanzt hat. Die Größe der Reben alleine sagt das nicht. Es ist aber auch hier de jure und de facto Tatsache, dass es jemand gegeben haben muss, der sie urspünglich an Ort und Stelle gepflanzt hat.

Ich glaube dabei nicht an die sog. totale Verbalinspiration. Jeder erinnert sich so gut er kann und je näher er an der Quelle sitzt umso zuverlässiger gilter als Zeuge. Fehler sind menschlich, was der Inspiration aber nichts abtut, da der Glaube auch gottgewirkt ist.
Der Herr steht zu mir, deshalb fürchte ich mich nicht. Was kann ein Mensch mir anhaben?
Ps 118:6

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Thaddaeus
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#28 Aus der Werkstatt des Theologen

Beitrag von Thaddaeus » Do 3. Okt 2019, 11:37

Exegese von Mk. 5,1-8 (Mt.8,28-29 + Lk.8,26-29)

Nachdem Jesus in der vorhergehenden Naturwundergeschichte einen Sturm gebändigt hat (Mk.4,35-40), geht er am anderen Ufer des "Meeres" (gr. "Thalassa", womit aber der See Genezareth gemeint ist) an Land ins Land der Gerasener.

Zur redaktionsgeschichtlichen Methode gehört, sich die Rahmung der zu untersuchenden Perikope genauer anzuschauen: was geschah vorher, was geschieht nachher? Ebenfalls werden die örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten unter die Lupe genommen. Wo kommt Jesus her, wo befindet er sich gerade, wo geht er hin und welche Zeitangaben werden genannt (Wieviel Zeit braucht er für den Weg? Sind gerade jüdische Feiertage oder stehen welche an etc.pp.). Ich gehe auf diese Fragen hier nicht weiter ein, weil eine genaue Untersuchung zu weit führen würde. Ich verrate an dieser Stelle aber soviel: wir werden diesbezüglich noch eine Überraschung erleben mit weitreichenden Konsequenzen ... ;)


Kaum hat Jesus den Fuß an Land gesetzt, kommt ihm sogleich ein Mann entgegengelaufen "mit unreinen Geist", also von mindestens einem Dämon besessen. Dieser Mann wird von Mk. schauerlich beschrieben:
3 der die Behausung hatte in den Gräbern, und auch mit Ketten konnte ihn niemand mehr binden, 4 weil er (schon) oft mit Fußfesseln und Ketten gebunden worden war, und zerrissen wurden von ihm die Ketten und die Fußfesseln waren zerrissen worden, und niemand vemochte ihn zu bändigen. 5 Und immerdar, nachts und tags, war er in den Gräbern und in den Bergen, schreiend und sich schlagend mit Steinen. (Mk.5,3-5)
Eine Szenerie wie aus dem Horrorfilm. Die monströse Beschreibung soll verdeutlichen, um einen wie schweren Fall es sich hier handelt, um den sich Jesus nun kümmern muss. Auf Jesus läuft ein Mann zu, der Ketten sprengt und Fußfesseln zerreibt, der laut herumschreit, sich selbst mit Steinen verletzt, in den Gräbern lebt und den niemand zu bändigen vermag. Ein wildes, übermenschlich starkes, bedrohliches, völlig irres und vielleicht früher einmal zur menschlichen Zivilisation gehörendes Wesen - jetzt aber nicht mehr -, welches augenscheinlich höchst gefährlich ist.

Dem Evangelisten Lukas scheint das alles ein wenig zu sehr Spektakel und Horror gewesen zu sein. Als gebildeter Arzt möglicherweise literarisch zurückhaltender, verlegt er einen Teil der ebenso ausführlichen wie wüsten Beschreibung des wilden Mannes, die bei Mk. vollständig vor der Begegnung mit Jesus erfolgt, nach dessen Begegnung mit ihm. Dadurch wirkt seine Beschreibung zunächst zurückhaltender als die des Mk. Parallel zu Markus' 2 Versen findet sich bei Lukas nur 1 Vers:
27 Ihm aber, der (kaum) ausgestiegen war ans Land, trat entgegen irgendein Mann aus der Stadt, der hatte Dämonen, und seit geraumer Zeit zog er kein Gewand an, und im Haus blieb er nicht, sondem in den Gräbern. (Lk.8,27)
Und parallel dazu Mk.
2 Und (kaum) war er ausgestiegen aus dem Boot, gleich trat ihm entgegen aus den Gräbern ein Mensch in einem unreinen Geist,
3 der die Behausung hatte in den Gräbern, und auch mit Ketten konnte ihn niemand mehr binden, 4 weil er (schon) oft mit Fußfesseln und Ketten gebunden worden war, und zerrissen wurden von ihm die Ketten und die Fußfesseln waren zerrissen vorden, und niemand vemochte ihn zu bändigen. 5 Und immerdar, nachts und tags, war er in den Gräbern und in den Bergen, schreiend und sich schlagend mit Steinen. (Mk.5,2-5)
Lukas fährt erst nach der Konfrontation Jesu mit dem Dämon (den Dämonen) mit der Beschreibung des Mannes fort:
29 Denn eingeschärft hatte er [Jesus] dem Geist, dem unreinen, auszufahren von dem Menschen. Denn seit langer Zeit hatte er ihn gepackt, und er wurde gefesselt mit Ketten und Fußfesseln, zur Bewachung, und er sprengte die Fesseln und wurde getrieben vom Dämon in die Wüsteneien. 30 Es fragte ihn aber Jesus: Was ist dein Name? (Lk.8,29-30)
Dem aufmerksamen Leser wird bei der Beschreibung des Besessenen durch Lk. etwas aufgefallen sein. Na, was ist bei Lk. auffällig ...?
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Richtig! Bei Lk. ist der Besessene plötzlich nackt ("und seit geraumer Zeit zog er kein Gewand an"). Bei Mk. wird nicht erwähnt, dass der Besessene nackt ist. Warum aber tut Lk. das?

Nun, er nimmt einen Teil der drastischen Beschreibung weg, die Mk. gleich zu Anfang bringt, um diesen Teil erst später einzufügen, und zwar nachdem die Dämonen Jesus als "Sohn Gottes, des Höchsten" (Lk.8,28) bezeugt (und seine Macht über sie damit anerkannt) haben und Jesus den Dämonen bereits geboten hat, auszufahren aus dem Mann (Lk.8,29). Lk. verteilt die monströse Beschreibung des Besessenen, um einreseits eine dramatische Steigerung von dessen Bedrohlichkeit zu erreichen, um aber andererseits deutlich zu machen, dass Jesus - als Sohn Gottes, des Höchsten - dennoch nie wirklich in Gefahr war. Lk. möchte sozusagen nicht das ganze Pulver schon gleich zu Anfang verschießen, wie Mk. Er möchte aber auch nicht, dass seine Beschreibung des Besessenen durch seinen Eingriff nun plötzlich zu wenig eindrücklich wird und der Besessene zu wenig unzivilisiert, wild und gefährlich wirkt. Die Wirkung der Beschreibung auf den Leser ist bei Mk. eindrücklicher (und beängstigender), während Lk. die Macht und Überlegenheit Jesu hervorhebt, indem er nach dessen Befehl (an die Dämonen auszufahren) mit der weiteren Schreibung des Bessenen vor Augen führt, wie mächtig diese Dämonen sind und in welch bedauernswerten Zustand sie den Mann versetzt haben.

Die Nacktheit des Besessenen bringt ein neues erzählerisches Element in die Beschreibung und literarisch passt sie ja auch sehr gut, denn wenn der Besessene auch noch nackt ist, macht ihn das in gewisser Weise natürlich noch unzivilisierter. Zudem ergänzt Lk. auch noch: "... und wurde getrieben vom Dämon in die Wüsteneien ", also weit weg von menschlicher Zivilisation.

An solchen stilistische Verbesserungen und Stileigentümlichkeiten, betreffend die Wortwahl, die Änderung der Satzkonstruktion o. ä. vermag man sehr schön die Eigentümlichkeiten der redaktionellen Überarbeitungen der verschiedenen Evangelisten erkennen.

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STILISTISCHE VERBESSERUNGEN und STILEIGENTÜMLICHKEITEN bei Lukas
Wenn z.B. Lukas das praes. hist.*, des Markus fast durchgehend in eine Form der Vergangenheit abwandelt und vielfach die parataktische Darstellungsweise des gleichen Evangelisten entweder durch eine hypotaktische oder eine partizipiale Konstruktion verändert, so handelt es sich um stilistische Verbesserungen. Zugleich kann damit auch die Stileigentümlichkeit des Lukas gefaßt werden. Stiluntersuchungen gehören notwendigerweise zur redaktionsgeschichtlichen Methode, weil dadurch die Eigenart und auch die Absicht des jeweiligen Verfassers besser in den Blick kommen. Bei Lukas z. B. hat man darauf zu achten, daß er seine Sprache häufig der der LXX angleicht.
(Heinrich Zimmermann, Neutestamentliche Methodenlehre, Darstellung der historisch kritischen Methode, 7. Aufl, Katholisches Bibelwerk, Stuttgart: 1982, S.226+227)

*praes.hist.= praesens historicum = historisches Präsenz = wenn Geschehnisse in der Vergangenheit durch die Verwendung des Präsenz so dargestellt werden, als ob sie gerade geschähen

Matthäus geht einen anderen, literarisch dramatisierenden Weg als Lk.:
28 Und als er gekommen war ans jenseitige Ufer, ins Land der Gerasener, traten ihm entgegen zwei Besessene, aus den Gräbern hervorkommend, ganz gefährliche, so daß keiner vermochte vorbeizugehen auf jenem Weg. (Mt.8,28)
Es ist leicht zu sehen, was Mt. ändert, da es offensichtlicher ist als bei Lk.
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Mt. wendet die literarische Kunstform der VERDOPPELUNG an, in dem er aus einem Besessenen Gerasener einfach zwei macht. Sinn und Zweck der Doppelung ist es wiederum, die Autorität und Macht Jesu größer erscheinen zu lassen.
Wenn Jesus nicht nur einen Besessenen heilen kann (indem er dessen Dämonen austreibt, deren Anzahl "Legion" ist), sondern gleich zwei, dann muss er logischerweise auch über doppelt soviel Macht verfügen. So jedenfalls will es die erzählerische Logik von Wundertaten (die gelegentlich dazu führt, dass alle Synoptiker so genannte SUMMARIEN bilden und diese Summarien zuweilen sogar kopieren. Siehe hierzu den Exkurs weiter unten!).

Zudem versperren jetzt gleich zwei gefährliche Besessene Jesu Weg, womit Mt. ebenfalls sehr schön deutlich macht, dass es nun gefährlich für Jesus werden könnte. Erzählerisch stümperhaft ist freilich, dass Mt. die Gefährlichkeit der Besessenen nicht so bild- und lebhaft vor Augen führt, wie Mk. und auch Lk. Matthäus ist der Ansicht, es reichte einfach hinzuschreiben, die beiden Besessenen seien: "... ganz gefährliche ..."!

Die stilistische Vorgehensweise von Mt. an dieser Stelle ist freilich typisch für ihn: er verwendet häufig das Stilmittel der VORLAGENKÜRZUNG:

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VORLAGENKÜRZUNG:
Sowohl Matthäus als auch Lukas kürzen die Markus-Vorlage vielfach dort, wo ihnen die Darstellung zu breit und ausführlich erscheint. Vor allem für Matthäus ist charakteristisch, daß er insbesondere den erzählenden Teil einer Markus-Perikope oftmals stark verkürzt (vgl. etwa Mt 8,28-34 mit Mk 5,1-20; Mt 9,1-8 mit Mk 2,1-12). Gelegentlich ist zu beobachten, daß der erste Evangelist die Kürzung nicht nur als stilistisches Mittel verwendet, sondern damit eine Sinnänderung anstrebt (vgl. Mt 9,18-26 mit Mk 5,21-43).
(Heinrich Zimmermann, Neutestamentliche Methodenlehre, Darstellung der historisch kritischen Methode, 7. Aufl, Katholisches Bibelwerk, Stuttgart: 1982, S.226+227)

Exkurs: Das Bilden von SUMMARIEN:
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Summarien werden literarisch konstruiert, um die Wirkungen der Wundertätigkeit Jesu zu vervielfältigen und damit für die Leser eindrücklicher zu machen. Zudem erscheint Jesu Wundertätigkeit dadurch breiter und umfänglicher zu sein. Schon Mk. greift zu diesem Stilmittel:
Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war, brachten sie alle Kranken und Besessenen zu ihm. Und die ganze Stadt war vor der Tür versammelt. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. (Mk.1,32-34)
Man findet gerade in Summarien die typische Wortwahl und Gedankenwelt des Autors. Summarien schließen oftmals einzelne Geschichten summierend ab oder sie verbinden die eine Geschichte mit einer anderen, sie eignen sich also gut für Übergänge und Resümees.
Am Abend brachten sie viele Besessene zu ihm; und er trieb die Geister aus durch die Macht des Wortes und heilte alle Kranken. So sollte in Erfüllung gehen, was durch den Propheten Jesaja gesagt ist: Er nahm unsere Schwachheit auf sich, und unsere Krankheiten trug er. (Mt 8,16-17)
Ist der Unterschied aufgefallen? Während bei Mk. (nur) "viele" geheilt werden und (nur) "viele" Dämonen ausgetrieben, sind es bei Mt. gleich ALLE. Mt. nimmt es nicht hin, dass Jesus in seiner markinischen Vorlage nur viele heilen kann und nur viele Dämonen ausgetrieben werden, bei einigen dies aber offenbar nicht gelingt.

Mt. kopiert manchmal auch einfach ein Summarium:

Und er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in ihren Synagogen, verkündigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen im Volk. (Mt 4,23)

Und Jesus zog umher in allen Städten und Dörfern, lehrte in ihren Synagogen, verkündigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen. (Mt.9,35)
Die beiden Summarien sind fast bis in den Wortlaut identisch. Dadurch kann die Wunderkraft Jesu literarisch ohne großen Aufwand gesteigert werden.

Das geht aber auch so:
Und er bricht von dort auf und kommt in das Gebiet von Judäa jenseits des Jordan, und wieder strömen ihm die Leute zu. Und wie es seine Gewohnheit war, lehrte er sie wieder. (Mk 10,1)
Mt. macht aus dieser Stelle:
Und viele Leute folgten ihm, und er heilte sie dort. (Mt 19,2)
Aus Markus' "lehren" wird bei Matthäus "heilen". Und schwupps gibt es eine weiteres Wunder Jesu, dafür aber natürlich etwas weniger Lehrtätigkeit. Doch ein Heilungswunder ist eben spektakulärer als langweiliges lehren.


Nicht nur, dass Jesus der (bei Mt. gleich doppelten) Gefahr, die sich ihm nähert, nicht ausweichen kann, kommt der wilde Mann auch sogleich zu ihm gelaufen, kaum, als er Jesus erblickt. Es scheint geradezu, als würde dieses Wesen von Jesus magisch angezogen.

Und so ist es auch: das Geistwesen "Dämon" (bzw. die Dämonen) erkennen in Jesus sofort ein wesensähnliches - wenn auch ungleich mächtigeres Geistwesen - nämlich den "Gottessohn".

Was (ist zwischen) mir und dir, Jesus, Sohn Gottes, des Höchsten? (Mk.,5,7)

Was (ist zwischen) uns und dir, Sohn Gottes? (Mt.,8,29)

Was (ist zwischen) mir und dir, Jesus, Sohn Gottes, des Höchsten? (Lk.,8,28)
Matthäus bemerkt den kleinen Fehler seiner Markus-Vorlage, welcher den Dämon im Singular sprechen lässt. Doch es stellt sich ja heraus (wenn der Dämon Jesus seinen Namen bekennt), dass es sich in Wahrheit um "viele" Dämonen handelt.

Das Problem, wie man gleich viele Dämonen, die aber aus einem einzigen besessenen Mann sprechen, am besten sprechen lässt, ist freilich kein einfaches. Wie soll man das literarisch am geschicktesten ausdrücken?
Jesus spricht ja nicht mit dem besessenen Mann! Der ist sozusagen fort. Es sind Jesus und der Dämon (bzw. die Dämonen), die das Gespräch führen, wiewohl Gespräch zuviel gesagt ist, denn der Dämon/die Dämonen schreit/schreien und brüllt/brüllen mit "gewaltiger Stimme" wie Mk. und Lk. schreiben.
Und genau das ist die literarische Lösung des Problems! Der Dämon/die Dämonen sprechen "mit gewaltiger Stimme", weil sie einerseits auch mächtig sind (was man daran sieht, was sie mit dem armen Mann machen), andererseits sprechen sie aber auch gewaltig und laut und schreinen, weil es "viele" sind.
Bei Mt. "schreien" die Dämonen allerdings, indem sie "sagen" (29 Und siehe, sie schrien, indem sie sagten: Mt. fällt keine bessere Lösung ein.



Soviel bis dahin ... Das nächste Mal geht es mit den Dämonen, ihrem Namen und der sich in den Tod stürzenden Schweineherde weiter ...

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#29 Re: Aus der Werkstatt des Theologen

Beitrag von Edelmuth » Do 3. Okt 2019, 12:10

Hallöle liebes Tanzgirl. :wave: Was hält die holde Maid von folgender Aussage des weisen König Salomo in Prediger 12:9-14?

9 Der Lehrer war ein weiser Mann und er gab seine Erkenntnisse an die Menschen weiter. Er vertiefte sich in die Lehre und forschte darin. Auch verfasste er viele Sprüche. 10 Er versuchte, einprägsame Worte zu finden und nur das zu schreiben, was der Wahrheit entspricht. 11 Die Worte eines weisen Lehrers sind wie ein spitzer Stock, mit dem ein Hirte sein Vieh antreibt. Die gesammelten Worte gleichen fest eingeschlagenen Nägeln: Sie sind uns von dem einen Hirten gegeben. 12 Im Übrigen lass dich warnen, mein Sohn*: Es werden stets neue Bücher geschrieben - dein Körper wird müde, wenn du zu viel in ihnen forschst. 13 Als Ergebnis dieser ganzen Gedanken will ich dir Folgendes mitgeben: Bring Gott Achtung entgegen und tu das, was er in seinen Geboten fordert! Das gilt für jeden Menschen. 14 Gott wird über alle unsere Taten Gericht halten - seien sie gut oder böse - selbst über die Taten, die im Verborgenen liegen.
Ich vermute nicht viel-gelle? ;)
*hier sind aber nicht nur Söhne, sondern auch holde Maiden mit gemeint
Doch wenn eintrifft, was du ihnen angekündigt hast – und es wird ganz sicher eintreffen –, dann werden sie erkennen, dass ein Prophet unter ihnen gelebt hat.«
Hesekiel 33:33
            

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#30 Re: Aus der Werkstatt des Theologen

Beitrag von abc » Do 3. Okt 2019, 12:45

Thaddaeus hat geschrieben:
So 29. Sep 2019, 19:35
An dieser Stelle - also im neutestamentlichen Bereich des Forums - soll es nun also um neutestamentliche Erzählungen im Lichte ihrer historisch-kritischen Erforschung gehen.
(...)
Ich werde mich - nach einigen notwendigen Vorbemerkungen - an einer historisch-kritischen Analyse der spektakulären Wundergeschichte von Mk.5, 1-20: Der Besessene von Gerasa versuchen.

Große Klasse! Vielen Dank für deine Ausarbeitung/en ...
1. Teil: Exegese von Mk. 5,1-8 (Mt.8,28-29 + Lk.8,26-29)

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