

dw.com: Das Osmanische Reich im Ersten WeltkriegEinen gewaltigen Tritt mit dem Stiefel erhält diese prall gefüllte Hutschachtel auf einer französischen Propagandakarikatur aus dem Jahr 1915. In hohem Bogen fliegen viele kleine, rote Kopfbedeckungen, "Fes" genannt, mit ihren charakteristischen Quasten in die Luft. Für die Zeitgenossen war der Fes problemlos politisch zu verorten: Gemeint war damit das Osmanische Reich. Und noch eine europäische Macht bekommt diesen gewaltigen Tritt ab: "Made in Germany" steht auf der Hutschachtel. Deutschland und das Osmanische Reich waren im Ersten Weltkrieg Verbündete. Doch das Osmanische Reich erhält auf dieser Karikatur nicht nur einen symbolischen Tritt – hinter dem überdimensionalen Fuß folgt eine Flotte von Kriegsschiffen, die nun Kurs auf das Osmanische Reich nehmen.
Tatsächlich landeten 1915 Truppen der "Entente" auf der Halbinsel Gallipoli nicht weit entfernt von der osmanischen Hauptstadt Istanbul. Eine Position, deren strategische Bedeutung kaum zu überschätzen ist: Durch den Bosporus und die Dardanellen kontrollierte das Osmanische Reich die Durchfahrt zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer. Ein gigantisches Trommelfeuer von Schiffsgeschützen auf die türkischen Stellungen leitete deshalb am 25. April 1915 die Invasion von britischen und französischen Einheiten auf Gallipoli unweit der Dardanellen ein. Die obige Propagandakarikatur sollte den Soldaten und den Menschen in Frankreich Mut machen – mit einem einzigen Tritt, so die Botschaft, würde die britisch-französische Streitmacht die osmanischen Soldaten einfach hinwegfegen. Diese Annahme erwies sich jedoch als ein folgenschwerer Irrtum. Als die Franzosen und Briten Anfang 1916 ihre Truppen abzogen, hatten sie eine verheerende Niederlage erlitten[...]
Tatsächlich stand das Osmanische Reich bis 1918 an der Seite Deutschlands – und verlor mit seinem Bündnispartner den Krieg. Aber erst 1922 endete die jahrhundertealte Geschichte des Osmanischen Reichs – die moderne Türkei entstand.
1914 entbrennt in Europa ein Konflikt, der die Geschichte massiv verändert. Der erste Weltkrieg spaltet die mächtigsten Nationen des Kontinents in zwei Lager: zunächst steht Deutschland gemeinsam mit Österreich-Ungarn der sogenannten Entente gegenüber, dem Bündnis aus Frankreich, Russland und Großbritannien. Schnell breitet sich der Konflikt auch in die Kolonien und den Orient aus. Rund 17 Millionen Menschen sterben. Am Ende sind dutzende Länder der gesamten Welt in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts involviert. Kaum bekannt ist die arabische Dimension des 1. Weltkriegs. Die Kriegsschauplätze im Orient und das Schicksal muslimischer Soldaten, die damals auf beiden Seiten kämpften und starben. So formte der erste Weltkrieg auch den Nahen Osten, wie wir ihn kennen.
sueddeutsche.de: Die vergessene Liebe zwischen Türken und DeutschenEs gibt eine türkisch-deutsche Geschichte, einen türkisch-deutschen Mittelstand und türkisch-deutsche Literatur. Wieso nur nimmt das kaum jemand wahr?
Wenn heute mit angewiderter Miene über den "Türkei-Deal" gesprochen wird, sollte man bedenken: dass europäische Politik ohne dieses Land nicht zu konzipieren ist, war seit dem frühen 19. Jahrhundert Gemeingut der außenpolitischen Eliten. Die beiden erfolgreichsten Staatsmänner des 19. Jahrhunderts, Metternich und Bismarck, waren Freunde des Osmanischen Reiches, das sie vor allem gegen russische Expansionsgelüste stützten. Für sie war das europäische Staatensystem ohne die Grenzmacht am östlichen Mittelmeer nicht vorstellbar. Ähnlich sahen es die Briten, die weder Russen noch Franzosen am Bosporus haben wollten. Und so wurden die Beziehungen zwischen den westlichen Hauptstädten und "Konstantinopel", wie man damals noch gern sagte, ausgesprochen freundschaftlich. Der 1855 beendete Krimkrieg kann als gemeineuropäische Rettungsaktion für das Osmanische Reich verstanden werden; dabei war dessen "gesellschaftliche Zurückgebliebenheit" schon damals ein Thema der Pariser und Londoner Presse.
Preußen und später Deutschland hatten da weniger Probleme, dafür entstand seit den 1830er-Jahren eine zunächst militärische Modernisierungspartnerschaft, die mit Helmuth von Moltkes berühmter Reise von 1835 bis 1839 begann und im Bau der "Bagdad-Bahn" vor dem Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt fand. Moltkes Bericht von 1841, "Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei", gehört zu den Meisterwerken deutscher Reiseprosa des 19. Jahrhunderts. Eigentlich wartet man auf die überfällige Neuausgabe in der "Anderen Bibliothek". Sie könnte dazu beitragen, dem deutsch-türkischen Verhältnis wieder etwas von der historischen Tiefendimension zu geben, die es verdient.
Die preußische Liebe zum Osmanischen Reich
Hätte man sie im Blick gehabt, dann hätte man sich das Einfrieren der EU-Verhandlungen mit der Türkei 2010 vielleicht noch einmal überlegt; dass dahinter auch französischer Druck stand, wiederholt eine Konstellation des 19. Jahrhunderts. Frankreich war aus außenpolitischer Räson eben traditionell weniger türkeifreundlich als das Deutsche Reich. Bismarck handelte nicht ohne Bedacht, als er 1871 sein berühmtes Zitat in die Welt setzte: "Die Liebe der Türken und Deutschen zueinander ist so alt, daß sie niemals zerbrechen wird." Es ging um die Balance zu Russland, und dieses Problem ist in Syrien derzeit für die gesamte EU wieder akut geworden [...] 1933 machte die sich planvoll modernisierende Türkei die Tore für emigrierende deutsche Wissenschaftler und Künstler weit auf.
Elitenemigration in die Türkei
Arnold Reismans großartige Studie "Turkey's Modernization - Refugees from Nazism and Atatürk's Vision" aus dem Jahr 2006 erzählt die Geschichte dieser Elitenemigration, die ein kleines Who is Who der deutschen Moderne umfasst, mit Namen wie Erich Auerbach, Bruno Taut, Paul Hindemith, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Leo Spitzer, Ernst Engelberg und vielen, vielen anderen. Sie wurden anständig dotiert, lernten Türkisch, bauten, komponierten; vor allem schrieben sie dem jungen Nationalstaat moderne wissenschaftliche Bücher. Erich Auerbachs Jahrhundertklassiker zur europäischen Literatur "Mimesis" wäre ohne die Herausforderung der fremden Umgebung nicht zustande gekommen. Das türkische Universitätswesen ist ohne den Beitrag der deutschen Emigration nicht denkbar.