Novalis hat geschrieben: Die Wahrheit ist demnach ein Lebensweg, sie ist in lebendiger Bewegung und entfaltet sich, in dem der Mensch sich bewusst dafür entscheidet den Weg zu gehen.
Ja, Wahrheit ist gelebte Wirklichkeit.
so vereinigt sich die Seele mit Gott. Dabei gibt sie ihre begrenzte Identität auf (durchaus im buddhistischen Sinne: das kleine, vergängliche Selbst, welches sich von der restlichen Existenz als getrennt und unabhängig erlebt, wird als Illusion durchschaut, die Lehre von AnÄtman), aber dabei verliert sie sich nicht, sondern sie gewinnt ihre größere Identität, ihr wahres Selbst und wahres Sein.
Ich kann diese Ausdrucksweise von dir schon annehmen, Novalis, und ich akzeptiere, dass du das so siehst. Es ist aber nicht "buddhistisch", diesen Anspruch kannst du meines Erachtens nicht erheben. Anatta - Nicht-Ich - und Sunnata - Leerheit - sind umfassend und gelten nicht bloss für ein "kleines, vergängliches Selbst" und dann wird doch ein absolutes Atta (wahres Wesen, wahres Selbst, ewige Seele) definiert. Auch nibbana ist anatta und sunnata, also eben ohne ein Selbst, leer an einem Selbst.
Wohl kann der Buddhist Buddha als Personifizierung von nibbana ansehen, wenn er jedoch ein ernsthafter Buddhist ist, dann weiss er auch, dass - übrigens laut Buddhas eigener Erklärung im Palikanon - "der Buddha in Tat und Wahrheit nicht einmal zu Lebzeiten (des Siddharta Gotama) gefunden werden kann", und, wie er weiter sagt, "wie viel weniger erst nach dem Erlöschen der Daseinsgruppen" (die mit dem Namen Gotama benannt werden).
„Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20)
Ja, da ist die "Selbstverleugnung" ein Stück weit getätigt, nur sollte nun "Christus" nicht wiederum als ein Selbst verstanden werden, das dann an die Stelle des ursprünglich gewähnten tritt. Da bewegt sich Paulus, wenn er es denn so verstanden haben sollte, "vom Regen in die Traufe"...
CHRISTUS = DAS URANGESICHT, kannst Du mit dieser Formel etwas anfangen?
Als Buddhist kann ich mit überhaupt keinem vermeintlichen UR- (Anfang oder Ur-was-auch-immer) etwas anfangen. Einen Uranfang oder ein Urangesicht oder ein Urwesen (wie z.B. ein Schöpfergott) wird vom Buddha nicht gelehrt. Er lehrte die anfangslose bedingte Entstehung. Die Selbst- und Kernlosigkeit alles Seins zusammen mit der anfangslosen abhängigen Bedingtheit - und der abhängigen Befreiung - ergibt für mich ein klares Weltbild. Es fällt mir aber nicht schwer, mir Gott als einen Uranfang vorzustellen und dann wiederum als Heimathafen, in den der Mensch zurückkehrt. Und Christus als Urangesicht, in das der Christ verwandelt wird. Nur ist es nicht meine Sprache, nicht mein Symbolismus, denn ich bevorzugt zum Verstehen des Lebens benütze.
...da unsre wahre Heimat woanders ist...
»Wo gehn wir denn hin?« »Immer nach Hause.«
Oder wie Buddhisten zu sagen pflegen: „nibbÄna“ oder „das reine Land“ (im Reine-Land-Buddhismus)
Wie schon mehrmals gesagt: Nibbana ist nicht meine "Heimat", und zwar, weil da keiner ist, der Nibbana als "Heimat" bezeichnen und erleben könnte. Der Begriff "Heimat" bedingt eine Person, die diese Heimat empfinden, wahrnehmen und in ihr leben könnte: ein atta oder atman eben, eine "Seele", die in diese Heimat eingehen könnte. In Nibbana kann nichts und niemand eingehen. Nibbana ist frei von allem Etwas, eben leer an einem Ich oder Selbst. Und: Das "Reine Land" ist kein synonymer Begriff für Nibbana, bestenfalls ist es quasi als "Sprungbrett zu Nibbana" zu sehen.
Aber als Metapher, als Sinnbild, als mythologischer Symbolismus kann ich alle diese personalen Beschreibungen der Befreiung durchaus stehen lassen. Und ich habe ja auch selber Zeiten erlebt, in denen es mir eine grosse Hilfe gewesen ist, "Gott" anzusprechen und ihn zu "hören" - etwa so, wie ich als kleiner Junge meinen Teddybär angesprochen habe und er mir Antwort gegeben hat. Ich meine das nicht sarkastisch oder herablassend: Diese Gespräche mit dem Teddy waren dem kleinen Jungen oft eine grosse Hilfe und Stütze und daran ist nichts falsch oder lächerlich.
Es lässt sich kaum aus der Welt schaffen, dass die theistischen Religionen die phänomenale Weltwahrnehmung personifizieren, während der Buddhismus (und auch die Wissenschaft - ist das korrekt, Pluto?) die personale Weltwahrnehmung als blosse energetische (und chemische) Phänomene entlarven. Ich finde, das soll auch so sein und bleiben dürfen. Jede der beiden Wahrnehmungsweisen hat ihre Zeiten der Zweckdienlichkeit und ihre Zeiten der Unzweckmässigkeit.