Tyrion hat geschrieben:Halman hat geschrieben:Dazu hatte ich Dir u.a. Logan5 zitiert, der mehrere Semester Theologie studiert hatte.
Ich habe da einfach ein Logikproblem. Gott soll für die Inhalte der Bibel verantwortlich sein und hier dem Menschen quasi eine Anleitung hinterlassen haben.
Dem sollte ich vorrauschicken, dass Logan5 Agnostiker ist und dies ganz sicher nicht so glaubt.
Ist die Bibel Gottes verbalinspiriertes Wort, so wie es Muslime über den Koran glauben? Dies glauben wohl näherungsweise manche Christen, aber die Mehrheit glaubt dies so meines Wissens nicht.
Meiner Meinung nach entfalten sich in den Bibel die Erfahrungen von Menschen, welche religiös gedeutet wurden. Ein gutes Beispiel wären hierfür die Apostel, welche Jesus persönlich erlebten und über die in der Bibel erzählt wird.
Tyrion hat geschrieben:Diese Anleitung ist für jemanden, der nicht mehrere Semster Theologie studiert offensichtlich schwer zu interpretieren. Und auch Menschen, die sich ihr Leben lang mit Theologie beschäftigt haben und diese studiert haben, haben sie so fehlinterpretiert, dass sie daraufhin viele Menschen foltern und töten ließen (bekannte Beispiele).
Nun, ich habe null Semester Theologie studiert und bin imstande, Menschen, die foltern und töten "christlich" rechtfertigen wollen, zu widerlegen. Ich setzte hier nichts voraus, was ich nicht selbst kann. Es geht im Grunde nur um die Grundlagen einer redlichen Textinterpretation.
Ich werde mal direkt: Du bist doch Physiker. Dann hast Du Abitur, richtig? Du warst auf dem Gymnasium, stimmts? Dann hattest Du dort Deutschunterricht auf einen deutlich höheren Niveau als ich. Somit kann ich Dich eigentlich nicht überfordern.
Ich habe Mittlere Reife. Mein Wissen reicht bereits aus, um zu verstehen, dass in einer zusammen gestellten Textsammlung, die als Gesamtheit von Glaubensgemeinschaften als religiöse Grundlage rezipiert wird, der Gesamtkontext entscheidens ist. Mein Wissen reicht bereits aus, um zu verstehen, dass die Dekaloge und die Bergpredigt/Feldrede vorrangig gegenüber anderen Texten in der Bibel sind. Bei Spannungen/Widersprüchen trimphieren die vorrangigen Verse vor den nachrangigen.
Dies ist ja das Problem beim Islam. Die vorrangigen Verse sind dort die Schwerverse, zumindest nach sunnitischer Koranexegese.
Tyrion hat geschrieben:Die wenigsten Menschen studieren Theologie. Und selbst auf Theologen passt die Aussage: Frag drei Theologen und du hast drei Interpretationen.
Sicherlich. Nur worin werden ihre Meinungen differieren? Ich spreche von Grundlagen. Dass man sich nicht an der jesuanischen Bergpredigt vormogeln darf, ist so eine Grundlage.
Tyrion hat geschrieben:Dass es nicht fair ist, Textpassagen aus dem Kontext zu reißen, verstehe ich gut. Wobei es dabei teils um ganze Bücher geht, nicht um Sätze, die komplett aus dem Zusammenhang gerissen werden (ich denke z. B. an das Buch Josua).
Das Buch Josua ist sicher ein bedeutsames Bibelbuch, da es den Pentateuch fortsetzt (Hexateuch). Allerdings entfalten die Narrationen über die Landnahme Kanaans keine normative Kraft für Christen, welche übrigens gem. der historisch-kritischen Exegese ohnehin kein historisches Geschehen schildert.
Tyrion hat geschrieben:Und wenn es um Gesetze geht, dann ist auch ein Paragraph allein, wenn er den Tod für eine Kleinigkeit fordert, verstörend.
Ja, mir geht es auch so. (Dies erklärt übrigens auch die Rutenverse im Buch der Sprüche.)
Das erste Testament (AT) wird durch das christologische Prisma des zweiten Testaments (NT) gelesen und im "Dialog" mit dem NT gedeutet. In den paulinischen Lehrbriefen wird über viele Kapitel die urchristliche Theologie entfaltet, welche das christliche Verhältnis zur mosaischen Weisung und dem Tanach (AT) erklärt.
Tyrion hat geschrieben:Aber o.k. - wenn also nur ganz wenige Menschen die Bibel wirklich verstehen können, wie kann sie dann eine Anleitung für jeden sein?
Es lag nicht in meiner Absicht zu unterstellen, dass man Theologie studiert haben müsse, um die Bibel zu verstehen. Dies kann die Urgroßmutter u.U. sogar besser als manche Theologen.
Tyrion hat geschrieben:Und das alte Problem: was war früher, als weniger Menschen überhaupt lesen konnten?
Warum schaffte Gott es nicht, sich so klar auszudrücken, dass man ihn kaum missverstehen konnte? Und warum gibt es nach endlosen Schilderungen von Gewalttaten und Verbrechen erst in völlig anderen Kapiteln des Buches Aufforderungen, auf Gewalt zu verzichten? Warum keinen deutlichen Disclaimer?
Nun, die Bibel wurde von Menschen geschrieben. Daher müsste sich die Kritik eigentlich eher gegen die Bibelschreiber richten. Hierbei sollte man berücksichtigen, dass die Menschen zu der Zeit, als die biblischen Schriften verfasst und zusammengestellt wurden, ganz anders dachten als wir. Und dieses alttümlich-orientale bis antik-orientale Denken schlug sich natürlich auch in ihren Schriften nieder.
Falls Dich dies interessiert, findest Du in meinem Beitrag vom
Di 19. Jul 2016, 22:13 Logan5-Zitate mit Links zu seinen vollständigen Beiträgen im SciFi-Forum.
Tyrion hat geschrieben:Entweder ist es Gottes Wort an die Menschen oder es ist Gottes Wort an Theologen, die dann die Aufgabe haben, dieses den Menschen zu erklären. Dann sollte man als Normalmensch die Bibel aber nicht lesen, denn man versteht sie zu schnell falsch..
Die Bibel ist Gottes Wort in
Menschen Schrift für die Menschheit. Dies ist allerdings mein persönliches Glaubenszeugnis. Übrigens sehe ich die moderne Theologie kritisch.
Zurzeit der Urchristen wurde das Evangelium mündlich, insbesondere von den Aposteln, verkündet und erklärt. Es ist Aufgabe der christlichen Gemeinde, es verständlich zu machen. Versagt sie darin, muss man sie dafür kritisieren.
Luther prangerte ja zurecht an, dass die mittelalterliche katholische Kirche nicht mehr mit allem auf dem Boden der Schrift stand. Die Predigten wurden in Latein, einer damals im Volk schon toten Sprache, vorgetragen. Es gab sehr viele Laien und die "entrückte" Geistlichkeit.
In urchristlicher Zeit war dies anders. Dort gab es noch keine Trennung zwischen Geistlichen und Laien
(meines Wissen wurde diese recht früh vom apostolischen Vater Ignatius von Antiochien ~110 n. Chr. vorgenommen, als die urchristliche Gemeinde angewachsen war) und jeder konnte sich einbringen, auch die Frauen.
Die biblischen Schriften waren meines Wissens immer als "lebendige" Schriften für die Rezeption der christlichen Gemeinde gedacht. Doch die urchristliche Gemeinde wandelte sich zur Alten Kirche, es kam zu Zersplitterung (Gnosis, Arianismus usw.) und dann zur römischen Reichskirche. Plötzlich war die teils verfolgte Untergrundbewegung, welche gem. ihrem
Gründungsgeschen vom Staat getrennt war, Staatsreligion. Diese römische Traditation beeinflusste das gesamte Mittelalter ("in Gottes Gnaden").
In den letzten Jahrhunderten erschien die alte Traditationsgesellschaft zunehmend altmodisch, weil der Wandel der Zeit sich enorm beschleunigte und nun zu Lebezeiten eines Menschen spürbar wurde. Es ist nur zu verständlich, dass ein Mensch aus dem modernen europäischen Kulturkreis des 21. Jahrhunderts zunehmend Schwierigkeiten damit hat, die biblischen Ätiologien, Narrationen und Psalter zu verstehen, von den prophetischen Texten ganz zu schweigen.
Die biblischen Texte aus den orientalen Kulturkreisen, von der Bronzezeit bis zur Antike, müssen uns "fremd" erscheinen.