
Schöpfungsmystik und Weisheit
Die Vorliebe der Mystik für das Feuer als Symbol der göttlichen Liebe und des göttlichen Geistes zeigt sich auch in der Ausrichtung auf den Himmel und die ‚himmlischen Naturen‘ – die ‚Serafim‘ sind die ‚Brennenden‘. Das hebr. Wort für ‚Himmel’, schamajim, vereint die irdischen Gegensätze von Feuer (Geist) und Wasser (Materie) auf höchste Weise: „So wird das Wort ‚schamajim’ auch als eine Zusammenziehung der Worte ‚esch’ (Feuer) und ‚majim’ (Wasser) gesehen, damit also wiederum die Möglichkeit von den Gegensätzen am gleichen Ort zur gleichen Zeit ausdrückend.“[38] Während die Silbe ‚scham’ einen bestimmten Ort (‚dort’) bedeutet im Sinne von ‚hier oder dort’, fällt in der Einheit des Himmels der Gegensatz weg. Das für den abendländischen Begriff der Wissenschaft konstitutive ‚Widerspruchsprinzip’, der ‚Satz vom zu vermeidenden Widerspruch’, ist für den religiösen oder mystischen ‚Himmel’ daher nicht mehr anwendbar. Mystik ist so eine Form der Weisheit, das heißt jenes (Mit-)Wissen, „das prinzipiell den Göttern, dem Gott zugedacht wird, sodann aber auch jenen Menschen, die Anteil an dieser einheitlichen, über den diskursiven Verstand reichenden Weise des beschauenden Denkens haben“. Weisheit erscheint „als geistiges Vermögen, auch jene dem Verstand widersprüchlich erscheinenden oder dem Verstand unzugänglichen Erfahrungen zu erkennen und in Lebenspraxis umzusetzen.“[39]
Eine Synthesis von polaren Bestandteilen wie Seele und Leib, Geist und Sinnlichkeit, Vernunft und Triebnatur, Unendlichkeit und Endlichkeit, ‚männliche‘ Innenseite und ‚weibliche‘ Außenseite stellt der Mensch selbst dar. Maximus Confessor (um 580-662), der wichtigste griechische Kirchenvater des 7. Jahrhunderts, hat daraus im Anschluss an Origenes eine Erlösungstheologie des ‚Aufstiegs‘ in ‚Synthesen‘ gebaut: Am Menschen soll das „große Mysterium des Schöpfungsplans Gottes offenbar werden“, nämlich „alle Extreme der Schöpfung miteinander sich vereinigen und in die gemeinsame Einigung in Gott münden“ zu lassen.[40] Für Maximus geschieht der Überstieg von der geschaffenen Welt der Polarität zum Schöpfer in der ekstatischen Liebes-Vereinigung und höchsten Aufgipfelung aller Tugend und Weisheit in der Kraft des inkarnierten Logos (= Weisheit), dessen Einheit der beiden Naturen von Gottheit und Menschheit in der ‚hypostatischen Union‘ (gemäß dem Konzil von Chalcedon, 451) dem Kosmos insgesamt eine gott-menschliche Struktur verleiht: „And with us and for us He [Christ] embraced the whole creation through what is in the center, the extremes as being part of Himself … He recapitulated in Himself all things, showing that the whole creation is one …â€[41]
Diese den ganzen Kosmos in die Fleischwerdung des Schöpferwortes einbeziehende Vision findet in gewissem Sinn ihre Fortsetzung in den mystischen Himmels- und Kosmos-Visionen einer Hildegard von Bingen. Für die große Benediktinerin ist die Liebe symbolisiert im „feurigen Leben“ der dreieinen Gottheit, die sie in Gestalt des ‚Kosmos-Menschen’ schaut; diese Gestalt sagt in ihrer ersten Vision von sich: „Alles brennt allein durch Mich, so wie der Atem den Menschen unablässig bewegt, gleich der windbewegten Flamme im Feuer. Dies alles lebt in seiner Wesenheit, und kein Tod ist darin. Denn Ich bin das Leben.“[42]
An die Schöpfungsmystik von Maximus und Hildegard reicht im 20. Jahrhundert erst wieder der französische Paläontologe und Jesuit Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) heran. In seiner Vision der Einheit von Gott und Welt ist Jesus Christus die entscheidende „vermittelnde Gestalt“, und zwar als „Omega der Schöpfung (vgl. Offb 22,13)“, das heißt als letzter Konvergenzpunkt und Zielpunkt (causa finalis) der ganzen evolutionären Geschichte des Universums und der Menschheit: „Gott ist nicht nur ins Fleisch inkarniert, er ist in die Materie inkarniert: Christus amictus mundo, Christus mit der Welt umkleidet. (…) Evolution ist daher nicht ein schlicht naturgesetzlicher Vorgang, blind-mechanisch; sie ist Ausdruck einer währenden Schöpferkraft, einer beständigen Anfeuerung. (…) Materie wird Geist, Geist wird Person, Person wird absolute Person Christi – Universum und Christus stürzen gewissermaßen aufeinander zu und ineinander.“ „Nicht allein der Mensch, geschweige nur die Seele, vielmehr die gesamte Erde wird nach Teilhard erlöst, gelöst, in die Teilhabe nicht nur, sondern in die Verwandlung ins göttliche Fleisch und Feuer einbezogen.“[43] Für Teilhard, den „Zeugen des Feuers“, wirkt Gott schöpferisch als Feuer die uni-versale Einheit: „Esse est uniri, Sein ist Einswerden. ‚Oben ist alles nur eins!‘ Aber eben eins aus Vielem, nicht eins aus Selbigem.“[44] Von seiner Schöpfungsmystik her sieht Teilhard auch die in Paris im 17. Jahrhundert in neuer Gestalt entstehende Herz-Jesu-Mystik und -Frömmigkeit (Margareta Maria Alacoque) mit neuen Augen (s.u. Zitate).
https://de.wikipedia.org/wiki/Christliche_Mystik