Münek hat geschrieben:closs hat geschrieben:Konkret: Sie kann die Aussage, Jesus habe eine eigene Naherwartung gehabt, nur unter dem Vorbehalt treffen, dass dies ein Ergebnis EINER spezifischen Perspektive ist.
Es existiert keine spezifische Perspektive. Das redest Du Dir bloß ein...
Reden sich die modernen Wissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker das auch nur ein?
Schau mal in die von Halman verlinkte Vorlesung "Was ist Wissenschaft" hinein.
Oder schau einmal in ein Buch über Wissenschaftstheorie.
Oder befasse Dich einmal mit der historisch-kritischen Forschung.
Du wirst überrascht sein. Sie alle sehen es als ein entscheidendes Kriterium der Wissenschaft an, zu klären, welche "Vorprägungen" ein Mensch hat, wenn er Aussagen machen möchte, also aus welcher "Perspektive" eine Aussage gemacht wird.
Das ist doch das A & O der Wissenschaft.
Münek hat geschrieben:Ein gläubiger Christ oder ein interessierter Nichtgläubiger schlägt das "Neue Testament" auf und liest in den
Evangelientexten, dass Johannes der Täufer, danach Jesus und später dessen Jünger dem Volk verkündet
haben:
"Die Zeit ist erfüllt. Tut Buße. Das Reich Gottes ist NAHE herbeigekommen."
Das sind nicht misszuverstehende biblische An- und Aussagen. So steht es nun mal klipp und klar in der "Heili-
gen Schrift". Nimm es einfach zur Kenntnis.
Die historisch-kritische Methode widerspricht Dir da aber, sie sieht es genau gegenteilig. Denn sie geht eben gerade nicht von dem aus, was der Laie als "klipp und klar" und als "unmissverständlich" empfindet. Der heutige abendländische Laie stammt aus dem 20. oder 21. Jahrhundert und liest nicht mit der Denke, in der die biblischen Schriften entstanden sind.
Dazu ist die historisch-kritische Methode gerade entwickelt worden: um dieser naiven Lesart etwas entgegenzusetzen.
Ich zitiere aus dem Artikel "Bibelauslegung, historisch-kritische" von Joachim Vette
https://www.bibelwissenschaft.de/wibile ... 1a1edc2bb/ ->
Joachim Vette hat geschrieben:Als Leitmethode wissenschaftlicher Bibelauslegung bemüht sich die historisch-kritische Exegese zu ermitteln, welchen Sinn ein biblischer Text zur Zeit seiner Abfassung hatte.
Du, Münek, liest, wenn ich Dich richtig verstanden habe - ansonsten widersprich mir - den Text aus der Perspektive der heutigen Zeit und Deines Kulturraumes.
Die HKM hingegen versucht den Text aus der Perspektive vor 2000 Jahren und der Kulturräume, in denen der Text entstanden ist, zu lesen.
Das sind unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Perspektiven.
Und sie kommen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen.
Weiter schreibt Joachim Vette:
Joachim Vette hat geschrieben:Der ursprüngliche Text der Bibel liegt uns nicht einheitlich vor, sondern in einer Vielzahl von Manuskripten, die sich durch mehr oder minder große Varianten unterscheiden
"Klipp und klar" oder "unmissverständlich" kann Dir der Text auch darum vorkommen, weil Du nicht berücksichtigen möchtest, dass das Original gar nicht mehr existiert.
Wer sich aber in das "historisch-kritische Abenteuer" begibt, wird begreifen müssen, dass es keine Eindeutigkeiten gibt, sondern nur verschiedene Perspektiven; es ist der Leser, der sich für die eine oder die andere Perspekive entscheidet.
So kann der naive Leser zum Beispiel bei der Geschichte von der "Opferung Isaaks" der Meinung sein, Gott sei brutal und verlange Menschenopfer.
Da klinkt sich dann die historisch-kritische Wissenschaft ein und zeigt auf, dass "Die Opferung Isaaks" vermutlich erst in der babylonischen Gefangenschaft oder später als dichterischer Text verfasst war, der Opferungsversuch nie stattgefunden hat, dass "Gott" nie einen solchen Befehl gegeben hat, sondern dass der Text in der "Denke" des damaligen jüdischen Volkes symbolhaft zum Beispiel aufzeigen wollte, dass Gott keine Menschenopfer mehr wünscht.
Der naive Leser hat also eine gänzlich andere Perspektive auf den Text, kommt zu ganz anderen Schlussfolgerungen bezüglich Aussage als der historisch-kritische Forscher.
Für mich ist darum die historisch-kritische Forschung also keineswegs positivistisch, sondern ein Weg der "Befreieung" - wie es der Weg jeder Wissenschaft sein sollte - aus einem festgefahrenen Denken.
Sie gerade zeigt auf, dass jede Deutung ein Erzeugnis der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Deuters ist.
Welche Deutung jemand wählt, ist notgedrungen Basis der eigenen Entscheidung.
Die Entwicklung der historisch-kritischen Methode hat gerade den Weg frei gemacht zu dem Verstehen, dass am Ende immer die eigene Entscheidung steht, wie die Bibel verstanden wird.