Halman hat geschrieben:
Nehmen wir den bibelwissenschaftlichen Artikel
Bibelauslegung, historisch-kritische. Dort steht einleitend:
Exegese ist das analytische Bemühen, durch Anwendung philologischer und historischer Methoden die kanonischen Schriften des Alten und Neuen Testaments zu verstehen. Als Leitmethode wissenschaftlicher Bibelauslegung bemüht sich die historisch-kritische Exegese zu ermitteln, welchen Sinn ein biblischer Text zur Zeit seiner Abfassung hatte. Sie berücksichtigt dabei, dass sich dieser Sinn durch Erweiterungen und Veränderungen gewandelt haben kann.
Wie Du bereits richtig festgestellt hast, wird im ersten Satz sauber zwischen Medhoden und und Exegese unterschieden. Doch bereits im zweiten Satz ist von
historisch-kritische Exegese die Rede und davon, dass er Anspruch erhoben wird, denn Sinn biblischer Texte zur Zeit ihrer Abfassung zu ermitteln.
Dies ist doch Auslegung (Exegese), oder nicht? (s. bitte rot markiertes Wort)
Ja, das wäre Auslegung. Weil der "Sinn" eines biblischen Textes ermittelt wird.
Nun kommt der Begriff "Sinn" in das Spiel - und die unsaubere Argumentation des Artikelschreibers kommt möglicherweise dadurch zustande, dass "Sinn" unsauber benutzt wird.
Ich nehme noch einmal das Beispiel mit der aufgefundenen antiken Tonscherbe:
Das Bewerten der Tonscherbe - zeitlich bestimmen, Herkunft klären - entspricht der historisch-kritischen Methode.
Genauso wie es bei Goethe-Texten wäre, die Goethe nicht selber veröffentlicht hat - nehmen wir an, es ist ein Gedicht. Historisch-kritisch wird geklärt, wann dieses Goethe-Gedicht geschrieben wurde, wo es geschrieben wurde, möglicherweise auch, in welchem Zusammenhang es geschrieben wurde.
Wenn obengenanntes Goethegedicht in einem aufgefundenen Brief steht, lässt sich noch ohne Deutung ermitteln: Der Text ist eine Briefantwort auf einen anderen Brief. Ist das Gedicht aber ohne Zusammenhang irgendwo gefunden worden, wäre der Versuch, diesen Zusammenhang nun zu rekonstruieren, schon Vermutung.
Man kann dann - auf der Basis der Kenntnis aller anderen Goethetexte - plausibel mehrere Modelle erstellen, und das auf der Basis anderer historisch-kritischer Fakten: wann das Gedicht geschrieben wurde - also, in welche geistige Entwicklung Goethes es gehört -, wo es geschrieben wurde.
All das ist noch mit der Methode der historisch-kritischen Forschung ermittelbar und ist noch lange keine "Deutung" des Gedichtes.
Die Entschlüsselung des "Sinnes" des Gedichtes, seine Auslegung, seine Exegese, seine Interpretation, beginnt erst danach.
Die historisch-kritische Methode hat dazu kein Rüstzeug mehr.
Es kommen andere, zum Beispiel literaturwissenschaftliche, Methoden ins Spiel.
So wird zum Beispiel die Form des Gedichtes als Ausgangspunkt genommen, um zum Beispiel zum Ergebnis zu kommen: Das Gedicht zeigt, dass die Natur geistig sei und diese Geistigkeit dem Menschen innewohne.
Man kann das Gedicht aber auch ideologiekritisch deuten: zum Beispiel, dass das Gedicht - was bei Goethe aber meines Wissens nie der Fall ist - faschistoid sei.
Und damit habe ich auch schon angedeutet, warum ich so großen Wert darauf lege, dass man strikt historisch-kritische Methode von der Exegese auch schon begrifflich trennt:
weil eine historisch-kritische Methode niemals ideologisch sein kann, eine Exegese aber sehr wohl.
Verbindet man das in einem einzigen Begriff - historisch-krititsche Exegese - kann man die Ideologie in seiner Methode verschleiern.
Gerade Atheisten sollten diese Verschleierung nicht mitmachen wollen.
Wenn sie Bibeltexte kritisch untersuchen wollen, dann sollten sie es zwar auf der
Basis der historisch-kritischen Methode machen - was allerdings unsere neo-atheistischen Wörtlichleser leider nicht wünschen -, dann aber diese Texte nicht nur literaturwissenschaftlich, sondern auch ideologiekritisch untersuchen.
Wer den Begriff "historisch-kritische Exegese" verteidigt, verteidigt die Verschleierungsmöglichkeit, den Ideologiegehalt biblischer Texte zu vertuschen.
Das war in der Nazizeit genau der Punkt. Es wurde diese Trennung zwischen historisch-kritischer Erkenntnis und "Deutung" nicht gemacht, sondern extra verwischt.
Unter "historisch-kritischer Exegese" kann man also wunderbar verstecken, dass man schon klammheimlich ideologische Aussage als "historisch-kritisch" verkauft.