closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Da haben die theologischen Forscher selber zu klären gewusst, dass diese Erzählung schon vom Erzähler geistig gemeint sei.
Wie kommen sie darauf? - Mein Verdacht: Man entwickelt das Begriffs-Pärchen: "historisch" versus "geistig". - Was nicht historisch sei, sei geistig - weshalb sei nicht geistig, was historisch sei.
Es geht mir nicht um "Verdacht", sondern um Beleg dafür, dass die historisch-kritische Forschung per se nicht geistig sein darf.
Wie kann ein Literaturforscher seinen zu untersuchenden Text als "nicht historisch" ansehen, ohne dass er in die Klapse gehört?
Wie kommt man auf einen solchen Verdacht, den man zudem noch als Fakt behauptet?
Warum ist sorgfältige Argumentation so schwer? Warum schießt man immer aus der Hüfte?
closs hat geschrieben:Von der Sache her gebe ich Dir bei Moses und dem Dornbusch natürlich recht - ich frage mich nur, wie ein HKM-ler drauf kommen kann, außer durch die erwähnte fragwürdige "Historizität versus Geist"-Konstruktion.
Ich verstehe die Frage nicht einmal. Welcher HKM-ler tut das denn überhaupt, was Du ihm unterstellst.
Mein Verdacht: es wird einigen Usern nachgeplappert, was sie - ebenfalls ohne Beleg - behaupten.
In der tatsächlichen Forschungsarbeit ist es doch aber immer das Gleiche:
Die Textforscher untersuchen die Intention der Texte, indem sie - zum Beispiel - eine mythische Intention von einer Sachbeschreibung unterscheiden.
Das ist das, was Literaturforscher insgesamt tun. Thomas Manns "Tod in Venedig" kann man als "geistige Erzählung" identifizieren und sie von einer biographischen Erzählung durch deutliche Merkmale unterscheiden: zum Beispiel dadurch, dass Thomas Mann Dialoge Platons einflicht, die das Geschehen mythisch einbetten.
Ebenfalls dadurch, dass verschiedene Personen - obwohl sie in ganz unterschiedlichen Ländern auftauchen - die gleichen Gesichszüge tragen.
Dadurch wird das zu einem mythischen Element, denn es ist nicht realistisch: es wird die Begegnung mit einer Innenfigur - einer geistigen Figur - geschildert, die insofern dem Protagonisten immer wieder begegnet: eine Art innerer Antrieb, der bildhaft als diese gleiche und nicht-gleiche Figur gestaltet wurde.
Auch die venezianische Gondel wird mythisiert zu einer Art Sarg, in dem der Protagonist am Ende der Erzählung ja auch sein wird, denn er stirbt.
Kein Literaturforscher, der solche Dinge an einer Erzählung ausfindig macht, kann selber "ungeistig" sein oder auch nur so tun, als sei er nicht-geistig.
Im Gegenteil, er muss seine Geistigkeit aktivieren, denn die literarischen Stilmittel, die Thomas Mann anwendet, müssen ja auch erkannt werden.
Kein un-geistiger Forscher wäre dazu in der Lage, kein eingefleischter Naturalist wäre dazu in der Lage.
Bei der Dornbuschgeschichte des Alten Testamentes haben die Textforscher zum Beispiel beobachtet, dass - ich habe das vorhin gelesen, jetzt schon wieder aber nicht mehr wörtlich im Kopf, ich hatte es aber verlinkt - der Pharao nie mit Namen genannt wird. Das ermöglicht dem Texteschreiber, "Pharao" mehr allgemein zu fassen, ihn als "geistige Entität", als Archetyp zu fassen.
Der Erzähler also habe "geistige Wahrheiten" vermitteln wollen.
closs hat geschrieben:Savonlinna hat geschrieben:Wo hast Du die Definition gefunden, dass die historisch-kritischen Forscher selber nicht unterscheiden dürfen, was geistig und was ungeistig ist?
Siehe oben: KR.
KR??? Müssen die Literaturforscher neuerdings einen ideologischen Eid ablegen, dass sie nur in einer bestimmten Ideologie arbeiten?
Wo um Hmmels Willen hast Du das her?
closs hat geschrieben:Savonlinna hat geschrieben:Da sie ja ständig solche Ergebnisse publizieren, indem sie gerade dies unterscheiden: ob die Erzählungen historisch oder geistig gemeint seien
Hehe - Du bestätigst exakt, was ich oben ankreide.
Mitnichten. Ich bin doch nicht bescheuert.
Was ich sage, hat nichts mit Unhistorischem zu tun. Sondern damit, zu erkennen, ob eine Erzählung vorliegt oder ein Sachbericht.
Beides ist durch
literarische Kriterien unterscheidbar.
Wer "ungeistig" ist, kann dergleichen nicht unterscheiden.
So wenig, wie ein notorisch Unmusikalischer - der paraktisch bei klasssischer Musik nur Geräusche hört - in der Lage wäre, den Charakter eines Operettenwalzers von dem Charakter einer Bruckner-Sinfonie zu unterscheiden.
closs hat geschrieben:Savonlinna hat geschrieben:Die Texte sind immer historisch. Wie sollen sie nicht-historisch sein?
Moment: Wir reden hier von Begebenheiten INNERHALB der Texte. - Dass Texte selber historisch entstanden sein müssen, weil es sie sonst gar nicht geben würde, sollte nicht Gegenstand einer Diskussion sein müssen.
Na, also. Das bedeutet eben der Begriff "historisch-kritisch". Das haben wir vor einem Jahr doch wer weiß wie oft durchgekaut, und Du hast das bestätigt. Die historich-kritische Methode ist eine literarische Methode, die sich mit Texten befasst.
Sie buddeln nicht wie Archäologen in der Erde und sie sind keine Historiker im engen Sinn, sondern Kulturhistoriker Litearaturhistoriker.
Sie untersuchen zum Beispiel die geistige Mentalität zur Zeit der Abfassung des Matthäus-Evangeliums, um daraus abzuleiten, ob der Verfasser dieses Evangeliums den Heidenchristen oder den Judenchristen zuzurechnen sei.
Sie untersuchen weiterhin, welche Art von Literatur und geistiger Dichtung in dieser Zeit üblich war, um daraus abzuleiten, was die damalige Bevölkerung in dieser Zeit gewohnt war und
wie sie also Texte verstanden.
Daraus lässt sich die begründete - intersubjektive - Vermutung ableiten, dass die Bevölkerung - wieder als Beispiel - mühelos geistige Texte verstehen konnte, was der heutige Mensch nicht mehr so ohne Weiteres kann.
"Intersubjektiv" heißt hier: plausibel machen können, dass man damals Literatur anders las als heute.
Ich zitere also noch einmal das aus Wikipedia, was wir vor einem Jahr mindestens zehnmal zitiert haben:
Wikipedia hat geschrieben:Die Historisch-kritische Methode ist ein im 18. und 19. Jahrhundert entwickelter Methodenapparat zur Untersuchung von historischen Texten. Bekannt ist sie vor allem aus der biblischen Exegese. Sie hat zum Ziel, einen (biblischen) Text in seinem damaligen historischen Kontext zu verstehen und schließlich auszulegen, wobei die Rekonstruktion der vermuteten Vor- und Entstehungsgeschichte des Textes und seine situative Einbindung in das historische Geschehen eine besondere Rolle spielt. Wichtige methodische Teildisziplinen der historisch-kritischen Methode sind die Textkritik, die Textanalyse, Redaktionskritik, Literarkritik, Formkritik und die Traditionskritik. Die historisch-kritische Methode ist bis heute in der evangelischen und katholischen Kirche die Standardmethode der Bibelauslegung.
[...]
Die Bezeichnung Historisch-kritisch verweist auf eine Kombination zweier Grundannahmen dieser hermeneutischen Methoden:
Historisch ist diese Methode, weil sie davon ausgeht, dass die zu untersuchende Textgestalt eine Geschichte hat. So kann z. B. eine Sage über Jahrhunderte mündlich überliefert worden sein und dabei zahlreiche Veränderungen erlebt haben. Diese Sage wird vielleicht von zwei verschiedenen Schriftstellern notiert. Die Drucklegung erlebt mehrere Auflagen, bei denen korrigierend oder aus anderen Gründen in den Text eingegriffen wurde. Der Text, der aktuell in einer Sagensammlung erscheint, ist nicht in dieser Form ursprünglich, sondern er hat eine Geschichte.
Kritisch ist die Methode, weil sie davon ausgeht, dass es allgemein einsichtige Kriterien für die wissenschaftliche Untersuchung der historischen Textgestalt gibt. Das bedeutet keineswegs, dass jeder Wissenschaftler mit seinen Untersuchungen zum gleichen Ergebnis kommen muss. Jeder einzelne Untersuchungsschritt muss aber dennoch für andere nachvollziehbar sein; ob er tatsächlich nachvollzogen wird, ist eine Frage der Qualität des Argumentes. Unterschiedliche Bewertungen von Details zeitigen wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedliche Resultate.
closs hat geschrieben:Savonlinna hat geschrieben:Das gelingt den Forschern auch, eben weil sie wissen, was geistig ist.
Deshalb würde mich deren Definition mal interessieren - meinen Verdacht habe ich weiter oben formuliert.
Das, was Du nun "Verdacht" nennst, bezog sich ja auf eine ganz falsche Vorstellung von dem, was der Gegenstand der historisch-kritischen Forschung ist.
Ich hoffe, diesen Verdacht nun ausgeräumt zu haben.