Heidegger und kein Ende?

Philosophisches zum Nachdenken
closs
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#81 Re: Heidegger und kein Ende?

Beitrag von closs » Mo 4. Mai 2015, 22:04

Savonlinna hat geschrieben:Der Begriff "Sein" hat also gar keine eigene Existenz, sondern will nur bewusst machen, dass wir meist gar nicht merken, dass wir "sind".
Ich verstehe, dass das "Sein" unabhängig ist von dem, was wir "merken", UND uns nur bewusst werden kann, wenn wir es merken. - Das Sein hat also schon eine eigene Existenz - ist schlechthin der Überbegriff für alles, was vom Seienden thematisiert werden kann.

Erfahrungsgemäcß kommt man ziemlich weit, wenn man "Sein" mit "Realität" (bekannterweise und unbekannterweise) übersetzt und "Seiendes" mit "Wahrnehmung"/"Messung" übersetzt. - Ob man beide Begriffspaare in aller Konsequenz als synonym verstehen kann, weiss ich nicht, weil ich H. dazu nicht gut genug kenne.

Savonlinna hat geschrieben:Im Moment sehe ich noch gar nichts Metaphysisches.
So ist es. - Dieser Verdacht kommt nur dann auf, wenn man unter "Sein" auch metyphysisches Sein versteht - was man muss, weil man als "Seiende" nicht wissen, was wir alles NICHT thematisieren. - Aber das ändert nichts an der Beziehung zwischen "Sein" und "Seiendem".

Savonlinna hat geschrieben:Später wird "being" mal groß, mal klein geschrieben.
Vermutung: Das "Being" steht für "wesen" und das "being" für "seine" - etwas "west" und etwas "ist".

Mir ist eh schleierhaft, wie man H. übersetzen kann - das ist wohl so, wie es bei James Joyce ins Deutsche ist.

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Savonlinna
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#82 Re: Heidegger und kein Ende?

Beitrag von Savonlinna » Mo 4. Mai 2015, 22:33

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Der Begriff "Sein" hat also gar keine eigene Existenz, sondern will nur bewusst machen, dass wir meist gar nicht merken, dass wir "sind".
Ich verstehe, dass das "Sein" unabhängig ist von dem, was wir "merken", UND uns nur bewusst werden kann, wenn wir es merken. - Das Sein hat also schon eine eigene Existenz - ist schlechthin der Überbegriff für alles, was vom Seienden thematisiert werden kann.
Ich habe einfach nur den von Dir zitierten Wikipedia-Artikel in eigene Worte gefasst.
Ich habe es sogar blau untermalt. Noch einmal das Wikipedia-Zitat desbezüglich.
Sie tut dies, damit der Verständnishorizont überhaupt zum Thema werden kann. Die ontologische Differenz trennt Sein und Seiendes für die philosophische Thematisierung. Das heißt, dass „in Wirklichkeit“ natürlich niemals das Sein ohne ein Seiendes vorkommt.
Nach diesem Artikelschreiber hat das Sein also gerade keine eigene Existenz.

Was der Wikipedia-Fritze da schreibt, kann ich verstehen: philosophisch verstehen. Was Du bezüglich "Sein" schreibst, kann ich hingegen philosophisch nicht verstehen.
Es bleibt spannend. :D

closs hat geschrieben:Mir ist eh schleierhaft, wie man H. übersetzen kann - das ist wohl so, wie es bei James Joyce ins Deutsche ist.
Was dann aber eben heißt, dass nur der Deutschsprachige ein "Sein" hat. :D

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#83 Re: Heidegger und kein Ende?

Beitrag von Pluto » Mo 4. Mai 2015, 22:40

closs hat geschrieben:Mir ist eh schleierhaft, wie man H. übersetzen kann - das ist wohl so, wie es bei James Joyce ins Deutsche ist.
Man sagt mir, dass es tatsächlich sehr mühsam ist.

Hier eine englische Sammlung: http://www.beyng.com/hb/hbheid.html
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#84 Re: Heidegger und kein Ende?

Beitrag von closs » Di 5. Mai 2015, 00:11

Savonlinna hat geschrieben:Nach diesem Artikelschreiber hat das Sein also gerade keine eigene Existenz.
Das ist wahrscheinlich ein Missverständnis - die Argumentations-Kette läuft meines Erachtens so (im folgenden H.-Zitate):

• „Das Sein ist die Voraussetzung für das Seiende“. - Ohne Sein gibt es keine Wahrnehmung.
• „Das Sein kommt auf der Ebene des Seienden ohne ein Seiendes nicht vor.“ - Sein ist nur durch Wahrnehmung als Sein erkennbar (ein Stuhl, den man nicht sieht, ist wahrnehmungs-mäßig nicht vorhanden).
• „Da deshalb Sein und Seiendes niemals getrennt auftreten, wird das Sein nicht als solches thematisiert.“ Man fragt nicht "Was IST?", sondern was nehme ich wahr/messe ich. - Man fragt also nicht nach dem Sein, sondern nach dem, was man wahrnimmt.
• „Daher ist das Sein zwar das Nächste, weil es im Umgang mit der Welt immer schon vorausgehend und mitgängig ist; andererseits erweist es sich als das Fernste, da es als Unthematisches nie explizit wird.“ - Sein ist einerseits "da", weil es unabhängig von uns um uns rum ist - andererseits ist unthematisiertes Sein (das genauso wie thematisiertes Sein um uns rum ist) irrelevant.
• „Solange das Dasein als Seiendes ‚ist‘, hat es seine ‚Gänze‘ nie erreicht. Gewinnt es sie aber, dann wird der Gewinn zum Verlust des In-der-Welt-Seins schlechthin. Als Seiendes wird es dann nie mehr erfahrbar.“ Man kann nur vollumfänglich erkennen, wenn die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem überwunden ist - das geht nur per Tod ("Verlust des In-der-Welt-Sein schlechthin")

Das Sein hat immer eine eigene Existenz - aber nicht immer eine Wahrnehmungs-Existenz.

Savonlinna hat geschrieben:Was Du bezüglich "Sein" schreibst, kann ich hingegen philosophisch nicht verstehen.
Jetzt besser? ;)

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#85 Re: Heidegger und kein Ende?

Beitrag von Pluto » Di 5. Mai 2015, 00:23

Savonlinna hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Mir ist eh schleierhaft, wie man H. übersetzen kann - das ist wohl so, wie es bei James Joyce ins Deutsche ist.
Was dann aber eben heißt, dass nur der Deutschsprachige ein "Sein" hat. :D
Aua! :mrgreen:
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#86 Re: Heidegger und kein Ende?

Beitrag von closs » Di 5. Mai 2015, 00:34

Savonlinna hat geschrieben:Was dann aber eben heißt, dass nur der Deutschsprachige ein "Sein" hat.
Jedem das "Seine". :geek:

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Savonlinna
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#87 Re: Heidegger und kein Ende?

Beitrag von Savonlinna » Di 5. Mai 2015, 01:05

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Nach diesem Artikelschreiber hat das Sein also gerade keine eigene Existenz.
Das ist wahrscheinlich ein Missverständnis
Na ja, was soll ich dazu sagen.

• „Das Sein ist die Voraussetzung für das Seiende“. - Ohne Sein gibt es keine Wahrnehmung.
In dem ganzen Artikel steht nichts von Wahrnehmung.
Den zitierten Satz verstehe ich, Deine Auslegung nicht.
Ich kenne das, diesen Schreck, wo mir plötzlich auffällt: Stimmt ja, wir nehmen alles als "seiend" wahr. Und dann frage ich mich: Was genau heißt denn das, zu sein? Das ist eine urphilosophische Fragestellung. Wo man die eigenen Bedingungen plötzlich erkennt, über die man bisher gar nicht gestaunt hat. Sie also bisher nicht "thematisiert" hat. Die einem nicht bewusst geworden sind.

Ich verstehe eigentlich alle zitierten Sätze, aber Deine Umschreibungen sehe ich nicht in diesen Sätzen.
Und da wird man nichts machen können.

Es sei denn, die Umschreibungen sind auch von Heidegger, und dann bin ich natürlich reingefallen.

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#88 Re: Heidegger und kein Ende?

Beitrag von closs » Di 5. Mai 2015, 02:05

Savonlinna hat geschrieben:Es sei denn, die Umschreibungen sind auch von Heidegger, und dann bin ich natürlich reingefallen.
Nein - hinter den Zitaten sehen meine vereinfachten Deutungen.

Savonlinna hat geschrieben:In dem ganzen Artikel steht nichts von Wahrnehmung.
Deshalb habe ich ja irgendwo gesagt, dass man Sein - Seiendes in gewisser Weise mit Realität - Wahrnehmung bzw. Objekt - Subjekt assoziieren kann. - Genau ist diese Eselsbrücke nicht.

Die Verbindung zwischen Seiendem und Wahrnehmung besteht darin, dass "Seiendes" "thematisiertes Sein" ist (das wäre jetzt original Heidegger). - Thematisieren kann aber nur das Subjekt ("das Wahrnehmende"), so dass "Seiendes" der Anteil des "Seins" ist, das thematisiert ist, also wahrgenommen ist.

Ein anderer Ansatz frei nach wik: So wie im Gegebenen (das Seiende) der Geber (das Sein) nicht sichtbar ist, ist das Sein stets vor- und mitgängig im Umgang mit der Welt. - In Verbindung mit dem Begriff "Wahrnehmung": Man nimmt das Gegebene wahr und thematisiert damit insofern den Geber, dass der Geber als Ursprung des Gegebenen vorgängig ist - es ohne Geber kein Gegebenes gäbe. - So in die Richtung.

Savonlinna hat geschrieben:: Stimmt ja, wir nehmen alles als "seiend" wahr. Und dann frage ich mich: Was genau heißt denn das, zu sein?
Eben - und da sagt Heidegger, dass es immer eine ontologische Differenz zwischen "seiend" und "sein" gibt - dem als selbst-"seiend" Wahrgenommene geht das Sein voraus, aus dem das Seiende in der Wahrnehmung Ableitung ist. - Beides koinzidiert nie zu 100% - es gibt also eine Differenz.

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#89 Re: Heidegger und kein Ende?

Beitrag von Savonlinna » Di 5. Mai 2015, 09:50

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:In dem ganzen Artikel steht nichts von Wahrnehmung.
Deshalb habe ich ja irgendwo gesagt, dass man Sein - Seiendes in gewisser Weise mit Realität - Wahrnehmung bzw. Objekt - Subjekt assoziieren kann. - Genau ist diese Eselsbrücke nicht.
Es sind zwei Dinge:
Das, was Heidegger schreibt, und das, was Du schreibst.
Entweder ich entscheide mich dafür, Heidegger verstehen zu wollen, oder Dich verstehen zu wollen.
Da es für Dich möglicherweise existentiell wichtig ist, wie Du das im Laufe des Lebens reflektiert hast, werde ich daran vermutlich auch nicht rütteln können.

Ich halte es auch für legitim, dass man sich einen Autor nimmt, der einem dazu verhelfen kann, seine eigene Weltsicht aufzubauen, auch wenn man den Autor selber inzwischen innerlich verändert hat.

Dennoch bin ich daran nicht gebunden; ich kann ganz neu, und so wie ich gewohnt bin, philosophische Werke zu erschließen, die Begrifflichkeiten Heideggers nach meiner Erfahrung mit philosophischer Lektüre zu klären suchen. Ich benutze dazu möglichst nicht meine eigenen Assoziationen, da ich mir durch Heidegger kein Weltbild aufbauen will, sondern sein Denken in sich selber nachvollziehen möchte.

Würde ich darüber eine Seminararbeit oder einen Artikel in einer philosophischen Zeitschrift schreiben, könnte ich es mir auch nicht erlauben, ihn so auszulegen, wie es gut ist für den Aufbau meiner Weltsicht: ich darf ihn also nicht aus persönlichen Gründen verfälschen.

Legitim ist diese Art "Anpassung" eines Autors an mein schon bestehendes oder aufzubauendes Weltbild aber trotzdem, wie gesagt, weil Philosophen auch zur Abklärung der eigenen Lebensfragen dienen dürfen: und im letzteren Falle spielt es keine Rolle, ob das philosophische Werk das letzten Endes hergibt oder nicht.
Nur wäre das dann kein Beitrag zur Heidegger-Forschung.
Bei letzterem müsste man allerdings auch die bisherigen Heidegger-Deuter einbeziehen und bei Abweichung von ihnen belegen, dass die eigene Deutung aus dem und dem Grund von der bisherigen Deutungsgeschichte abweicht.

Das ist auch normal, darin besteht ja gerade eine lebendige Forschung: dass man immer wieder neue Sichtweisen ins Spiel bringt, die je nach Plausibilität die gesamte Forschung zu neuen Sichtweisen bringen kann.

Da Du Heidegger anders deutest als der Wikipedia-Schreiber, müsste man eben an Heidegger selber überprüfen, ob das eine persönliche Weiterentwicklung Heideggscher Gedanken ist oder den Nagel auf den Heidegger-Kopf trifft.

Folgenden Satz des Artikelschreibers fast am Ende Deines Zitierten finde ich darum wichtig, weil ich genau diese Sache in anderen Threads immer wieder gerade bei dem Begriff "Sein" ausführlichst reflektiert habe:

Durch die Substantivierung „Sein“ erscheint es, als sei das Sein ein innerweltliches Ding. Dies ist ein Problem, welches jede Repräsentation des Seins, auch die nicht-sprachliche, mit sich bringt und welches in der Heidegger-Rezeption zu vielen Missverständnissen geführt hat. Heidegger versuchte es beispielsweise dadurch zu vermeiden, dass er sagt, „es gibt sein“, statt „das Sein ist.“ Denn mit ist sagt man ja etwas über ein Seiendes aus, das ist. Das Sein ist gerade nicht das Seiende.
Genau dieses Missverständnis - entstanden durch unsaubere Anwendung von Sprache - habe ich immer wieder versucht zu thematisieren.
"es gibt sein" ist eben etwas ganz Anderes als "das Sein ist".

Und damit wäre dann auch eine Übersetzung ins Englische möglich. Deine Deutung von "Sein" wäre nicht übersetzbar und mittels englischer Grammatik auch nicht "denk"-bar. Es ist möglicherweise nur Sprachakrobatik.
Aber Heideggers "es gibt sein" - und damit nähmen wir alles als seiend wahr - ist logisch und verständlich. Das ist eine wirklich philosophische Aussage und keine bloße Sprachakrobatik.

Das jetzt nur zu dem, was ich dem Artikel entnommen habe.
Ansonsten wäre jetzt eigene Lektüre meinerseits angesagt.
Aber wann die eintritt, weeß keener.

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#90 Re: Heidegger und kein Ende?

Beitrag von closs » Di 5. Mai 2015, 10:15

Savonlinna hat geschrieben:Entweder ich entscheide mich dafür, Heidegger verstehen zu wollen, oder Dich verstehen zu wollen.
Fange mal mit Heidegger an (der ist wichtiger) und behalte meine Interpretation im Hinterkopf.

Savonlinna hat geschrieben:Denn mit ist sagt man ja etwas über ein Seiendes aus, das ist. Das Sein ist gerade nicht das Seiende.
Genau - exakt das spüre ich persönlich in der Praxis: "Das Sein ist gerade NICHT das Seiende".

Savonlinna hat geschrieben:Aber Heideggers "es gibt sein" - und damit nähmen wir alles als seiend wahr
Moment - das wäre mir jetzt noch wichtig:

"Alles vom Sein, was wir wahrnehmen, ist seiend" - verstehst Du es genauso? - Dann sind wir wieder bei meiner Wahrnehmungs-Gleichsetzung im Sinne von: Alles, was seiend ist, erfahren wir durch Wahrnehmung. - Oder in Frageform: Wodurch soll Sein in Seiendem thematisiert werden, wenn nicht durch Wahrnehmung? - Was meinst Du?

Savonlinna hat geschrieben:Aber Heideggers "es gibt sein" - und damit nähmen wir alles als seiend wahr - ist logisch und verständlich. Das ist eine wirklich philosophische Aussage und keine bloße Sprachakrobatik.
:thumbup: So ist es - Heidegger hat#s wirklich drauf. - Aber er ist halt wirklich so schwer zu verstehen - und ich habe auch nur das wenige verstanden, was ich gelesen habe.

Aber allein das hat Tore geöffnet, die ähnlich wie bei Hegels Dialektik in das Horizontale (Verhältnis Wahrnehmung - Realität) wie auch ins Vertikale (Verhältnis Mensch - Gott) führen - beide sind universal anwendbar und stimmig.

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