Magdalena61 hat geschrieben:Und du meinst, dein Verständnis von "Wahrheit" sei nicht kontaminiert?
Grundsätzlich gibt es nie eine 100%ige Übereinstimmung von Realität und Wahrnehmung - weder im Geistigen noch im Naturwissenschaftlichen. - Insofern kann keiner selber entscheiden, ob seine Wahrnehmung kontaminiert ist oder nicht. Andere können es letztlich auch nicht, weil sie ja auch nur Wahrnehmende sind.
Allerdings gibt es vor dem Hintergrund dieser Feststellung eine große Gefahr: Der Relativismus. - Denn jetzt kann ich den größten Blödsinn in die Welt setzen, weil eh alles kontaminierbar ist. - Dies hat zur sogenannten "Meinungsgesellschaft" geführt. - Die Folge daraus ist nun, dass es eine Zweiteilung gibt: Die nach wissenschaftlichen Standards verifizierbare Wahrheit und eine persönliche Wahrheit - erstere präsentiert man schwarz auf weiß, für die andere "entscheidet" man sich.
Der Irrtum an dieser Sache ist: Auch system-immanente Wahrheit der Naturwissenschaft ist eine subjektive Meinung, weil streng genommen auch das Ablesen einer Messreihe "Wahrnehmung" ist. - Zwar ist das alles für den Daseins-Hausgebrauch objektiv, aber ontologisch (also in Bezug auf das Sein an sich) immer noch subjektiv. - Der weitere Irrtum: Man kann sich nicht für Wahrheit "entscheiden" - ich kann mich beispielsweise nicht dafür "entscheiden", dass Magdalena 2,15 m groß ist und 12 Arme hat - solange ich Dich nicht besuche, kann ich diese Meinung aufrecht erhalten. - Genauswenig wie ich mich dafür "entscheiden" kann, dass Jesus Gott "ist". - So etwas "entscheidet" man nicht, sondern man setzt es ( das ist ein Unterschied) - man geht also dogmatisch vor - ob Wissenschaft oder Christ.
Was man dagegen tun kann, ist: "Ich entscheide mich für die naturwissenschaftliche Methode als einziges System zur Annäherung an die Wahrheit" - das machen hier auf dem Forum viele. - Damit wählen sie einen anspruchsvollen Weg, der sich allerdings mit dem Attribut "als
einziges System" beschränkt - das wäre zum Beispiel keine Meinungs-Aussage, sondern eine logische Aussage. - Man kann auch sagen: "Ich entscheide mich, dass ich in Jesus die Wahrheit suche" - damit geht man auch seinen spezifischen Weg. - Das muss man auch, weil es so viele Wege gibt, dass man selber gar nicht alle gehen kann - insofern alles richtig.
Falsch ist, wenn man eigene (beschränkte!) Wege als einzige verbindliche Wege darstellt - das tun gelegentlich sowohl Naturalisten als auch Christen. - Es ist auch DANN falsch, selbst wenn es sich am Ende herausstellen sollte, dass es nur einen einzigen verbindlichen Weg gibt. - Denn WAS es am Ende gibt, ist wiederum Sache der Realität und nicht der Wahrnehmung.
Jetzt stehen wir also vor der Frage: "Wie kann ich anspruchsvoll wahrnehmen, ohne mich in die Beliebigkeit von Meinungs- Willkürlichkeiten oder in die Albernheit von Wahrheits-Entscheidungen zu verlaufen?". - Dazu gibt es imo drei Antworten:
1. Der Naturalismus, weil er in sich nachweisbar ist, aber halt beschränkt.
2. Die Liebe also höchste Form der Wahrnehmung. - Das ist zwar auch eine Behauptung, die man allerdings mit Mitteln von 3 sehr gut begründen kann. - Menschen der Kategorie 2 brauchen keine Weltbild-Diskussionen.
3. Vernetztes logisches, dialektisches, hermeneutisches, ontologisches Denken, das selbst NICHT das Ergebnis seines Nachdenkens von vorneherein kennt. - Die Frage lautet also beispielsweise NICHT: "Warum ist Jesus die Wahrheit?" (das machen Entscheidungs-Menschen - "Warum ist Magdalena ein Nachkomme der Königin von Saba?" - ich hab's einfach "entschieden", das es so ist). - Sondern die Frage lautet: "Ist Jesus die Wahrheit?".
Meine Frage vor 10 Jahren war: "Wer oder was IST Wahrheit (falls es eine gibt)". - Ich bin tatsächlich bei Jesus angekommen, ohne ein Wort aus der Bibel gelesen zu haben. - Warum, wäre eine ziemlich anspruchsvolle geistige Geschichte.
Und damit wären wir beim Stichwort "Anspruch". - Ich stelle generell fest, dass es gelegentlich nicht um anspruchsvolle Tiefe geht, sondern um "Meinungs-Austausch" - das ist mir zu wenig. - Dabei sind die Naturalisten nicht das Problem, weil sie sich ja auf daseins-intern nachweisbare Dinge (wissenschaftliche Methodik) beschränken. - Das Problem sind diejenigen (also u.a. Christen), die (wie ich monatelang erleben "durfte") inzucht-mäßig anhand der Bibel die Wahrheit erklären wollen, OHNE (!) sich Fragen zu stellen, die beantwortet sein müssten, BEVOR man überhaupt die Bibel aufschlägt. - Das heisst (zurückkommend auf Deine Frage): Das Verständnis von Wahrheit ist von vorneherein kontaminiert, weil es sich nicht verwurzelt mit der Beantwortung von Grundsatzfragen, sondern vorzieht, mit einem "entschiedenen" Systemchen auf dem eigenen (!) Ölfilm hin und her zu rutschen. - Das Systemchen wird dann in sich wasserdicht widerspruchsfrei gemacht (und wenn es mit dem Satz des "göttlichen Geheimnisses" ist) - und das wars dann. - Das heisst: Im Grunde beschränkt man den Wahrnehmungs-Horizont genauso wie die Naturalisten.
Im Grunde läuft es auf folgendes heraus: Sind Weltbilder operative Hilfskonstrukte, damit man durchs Leben kommt, oder gibt es so etwas wie eine davon unabhängige Suche nach Wahrheit? - Ich sehe in der Praxis vornehmlich ersteres.
Einen Ausweg sehe ich darin, Dinge von Grund auf zu hinterfragen. - Auch da kann man sich irren - also auch da ist Kontaminierung möglich. - Aber es ist wenigstens ein umfassender Anspruch. - Dieser Anspruch hat mich zur Bibel geführt UND zur Erkenntnis, dass in ihr die Wahrheit verborgen ist - WENN man sie umfassend liest. - WENN man sie aber umfassend liest, ergibt sich ein homogenes Bild, das ausdrücklich ein anderes ist, als wenn man sich von vorneherein dafür "entschieden" hat, dass die Bibel die Wahrheit ist. - Denn dann ist Bibel-Lektüre Ausdruck von Selbst-Bestätigung - das Maß ist also der Mensch. - Genau das sollte aber nicht sein - ist es aber, wenn man die Selbst-Heiligungen verschiedener Glaubensgemeinschaften beobachten muss.
So - das war jetzt relativ umfassend. - Vielleicht konnte ich Impulse setzen.