Eigentlich wollte ich um diese Zeit nicht mehr antworten, aber ich bin sowieso öfter nachtaktiv und kann nicht schlafen
Mirjam hat geschrieben:Zweifellos korrekt: jede menschliche Wahrnehmung und Vorstellung ist ja "gefiltert" und begrenzt: durch unsere Unterbewusstes, durch unsere Sinnesorgane und durch unsere Erfahrungen und Erinnerungen. Somit ist aber unser "eigenes Bild" gewissermaßen die einzige Gussform, die uns zur Gestaltung eines Gotteskonzeptes zur Verfügung steht. Und hier kommt meine Abweichung zu Novalis' Meinung: Ich denke, dieser Anthropomorphismus ist nicht notwendig etwas Schlechtes - solange er reflektiert wahrgenommen wird. Für den Geist des modernen aufgeklärten Menschen ist das vielleicht so: Die Vernunft durchschaut die Projektion, entlarvt die Mythen als Archetypen menschlichen, nicht göttlichen Verhaltens und Verstehens. Aber ist der ganz und gar gestaltlose, transzendente Gott die einzig logische Konsequenz dieser Erkenntnis?
Ich denke nicht. Glaube ist für mich eine Sache des ganzen Menschen. Geist, Leib, Herz und Seele. Und unser Herz und Gefühl tun sich recht schwer mit so einem fremden, im Wortsinne "unbegreiflichen" Gott. Novalis, du meinst ja selbst, dass sogar der erhabene Koran Metaphern benutzt, wie das "Antlitz" Gottes, um den Menschen den Sinn leichter verständlich zu machen. Kann man nicht auch die als "Vermenschlicht" kritisierten Gotteskonzepte an sich als Metapher verstehen? Jesus von Nazareth hat nicht umsonst gerade durch seine anschaulichen Gleichnisse seine Anhänger begeistert
Das sind sehr gute Argumente und ich greife das gerne auf

Ich sehe das ganz praktisch: wenn etwas für Dich hilfreich ist, dann kann es zumindest für Dich nicht verkehrt sein. Bei orthodoxen Christen spielen Ikonen eine sehr wichtige Rolle, während Muslime Bildern kritisch bis ablehnend gegenüberstehen. Wenn man es sich genau anschaut, gibt es für beide Sichtweisen gute Argumente. Zwischen beiden besteht eine Spannung, aber nur oberflächlich gesehen sind sie unvereinbar. Ibn Arabi, der in der islamischen Tradition als „
Shaykh al-Akbar“ (der größte Meister) gilt, sah in Jesus nichts geringeres, als die vollkommene menschliche Verkörperung des Göttlichen Atems.
Doch Jesus war weit mehr als nur jemand, zu dem Ibn Arabi, der Shaykh al-Akbar, der »größte Meister«, ein persönliches Verhältnis der Hilfe und der gegenseitigen Fürsorge hätte haben können. Jesus ist eine Theophanie. Gewiss ist jeder Prophet eine bestmögliche Manifestation einer Göttlichen Eigenschaft, eines »Herrn« gemäß der Deutung des heiligen Hadith: »Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn.« Und Mohammed war der höchste aller Propheten in seiner Rolle als irdische Verkörperung des Absoluten, das die Wirklichkeit Mohammeds mit einschließt. Die Propheten andererseits sind lediglich sichtbare Manifestationen von Aspekten der Göttlichkeit: Adam beispielsweise ist der vollkommene Mensch, dem alle Namen gegeben wurden; Abraham ist der Freund Gottes (khalil Allah); Joseph ist der Inbegriff der Schönheit; Moses repräsentiert die Möglichkeit, dass Gott direkt und ohne Vermittler zum Menschen spricht; und David verkörpert das Kalifentum, indem er das innere Kalifat und die sichtbare Regentschaft über ein Volk in einer Person vereint. Obwohl Jesus auf dieselbe Weise wie die Propheten als Theophanie erscheint, wird der Leser Ibn Arabis überrascht sein von der Göttlichen Qualität, die er Jesus zuschreibt.
Jesus ist die Verkörperung des Göttlichen Atems, jenes spiritus also, den Gabriel in Marias Schoß legte. Der menschliche Körper Christi war von einem Göttlichen Geist beseelt,* wodurch ein Doppelwesen geschaffen wurde, halb menschlich und halb Göttlich und damit weder vollkommen Mensch noch vollkommen Gott. Daher offenbart Jesus die spirituelle Eigenschaft eines jeden Menschen, weil alle Lebenden den beseelenden Atem des Geistes empfangen haben. Während bei allen anderen Lebewesen der Geist erst nach der Schaffung des physischen Körpers eintritt, ist gemäß akbarischer [also Ibn Arabis] Ansicht der Geist bereits bei der Erschaffung des Körpers Christi aktiv. Für Ibn Arabi ist es somit nicht weiter überraschend, dass Jesus als ein Mann auftrat, denn Gabriel war Maria in vollkommener männlicher Gestalt erschienen. Aus diesem Grund sagt man von Jesus nicht, er habe einen Geist, sondern dass er tatsächlich Geist ist. Der Scheich sagt, sein Wesen werde mit seiner spirituellen Natur gleichgesetzt, weil seine spirituelle Seite erhabener sei als seine physische.
Seine spirituelle Natur – die Tatsache, dass er die Kondensation des Göttlichen Atems und daher das Göttliche Wort ist – bestimmt das ganze Leben Jesu, seine Fähigkeit zu heilen, Leben zu geben und zu transformieren, und ist der Quell seines Wissen, das er im höchsten Maße besitzt, nämlich die Lehren der Schrift, der Alchimie und der Geister. Die lange Liste der Wissenschaften, die man den Heiligen zuschreibt, die als Erben Jesu gelten, sowie der Einfluss des Planeten Merkur – sie alle entspringen diesen grundsätzlichen Lehren.
Dass er ein Geist ist und »das Wort Gottes«, macht ihn darüber hinaus zur musterhaften Verkörperung einer weiteren Eigenschaft: nämlich jener des Gotteswanderers, des spirituell Reisenden, der von Gott kommt und zu Gott zurückkehrt, ohne die Gegenwart Gottes jemals verlassen zu haben. Diese spirituelle Reise ist die Widerspiegelung einer kosmischen Schöpfungsbewegung, die Gott immerwährend verlässt und wieder zu Ihm zurückkehrt. Jesus ist das Muster beider Bewegungen.
Der akbarische Jesus: Das Vorbild eines Reisenden in Gott. Jesus als Verkörperung des Göttlichen Atems
Wenn Du dir ein „
Bild“ von Gott machen willst ( auch wenn er in seiner Wirklichkeit gestaltlos ist und alle Bilder transzendiert, als reiner und absoluter GEIST) dann kannst Du dich zweifellos an Jesus von Nazareth orientieren. Jesus ist ein sehr schönes Bild, ein wahrer Freund Gottes (khalil Allah) und wir können froh sein dieses Bild zu haben. Ein gläubiger Muslim darf da nicht widersprechen, denn das Bekenntnis zu allen Propheten, von Adam über Abraham, Moses, Jesus, bis hin zu Muhammad (der Frieden sei mit ihnen allen), sind die Propheten eines Muslims, er glaubt an sie und verehrt sie und muss auch ihre Nachfolger respektieren. Nach Ibn Arabi sind alle Menschen Spiegel Gottes, aber vorallem die großen Propheten, welche in der Essenz die selbe ewige Botschaft vermitteln.
Die entscheidende dogmatische Differenz zwischen dem Christentum und dem Islam ist eben: Christen verehren ihn als inkarnierten und menschgewordenen
Gott und Muslime verehren Jesus als Gesandten, heiligen Propheten und Auserwählten, Isa al Masih. Das wird sehr klar und nüchtern formuliert:
„Der Messias, Sohn der Maria, war nur ein Gesandter; gewiss, andere Gesandte sind vor ihm dahingegangen.“ (
Der Heilige Koran 5:76) Was von beiden Du glaubwürdiger findest, bleibt ganz und gar deiner persönlichen Glaubensfreiheit und selbstständigen Wahrheitssuche überlassen. Ich werde nicht intervenieren, um Dir irgendeine Sichtweise aufzudrängen (dazu respektiere ich den Weg deiner Seele zu sehr), aber es ist eine Sache der Redlichkeit, den Menschen wenigstens diese Sichtweise zur Auswahl zu stellen und sie ernsthaft zu durchdenken bevor man ihnen irgendwelche Dogmen im Sinne einer Friss-oder-stirb-Mentalität auftischt: aus koranischer Sicht ist Jesus ein
außerordentliches Wesen, ein
wahrer Prophet Gottes, er ist Gott
unglaublich nahe, ein
vollkommener und
erleuchteter Mensch, eine
lebendige Manifestation der
alles überragenden Weisheit Gottes in Fleisch und Blut, sicher auch eine „
Barmherzigkeit für alle Welten“ aber deshalb ist er - bei allem Respekt - noch lange nicht Gott
Seit Jahrhunderten hat die Menschheit von einem Ende der Welt bis zum anderen um diese Wahrheit gewusst, über sie gesprochen und auf ihr beharrt. All jene, die uns in der bekannten Menschheitsgeschichte als Weise, Propheten und dergleichen begegnen, haben immer wieder dieselbe universale Wirklichkeit in unterschiedlichen Sprachen ausgedrückt. Alle Religionen, von den allerältesten bis zu den neuesten, haben ihre esoterischen Grundlagen auf derselben fundamentalen Wahrheit errichtet: auf dem Dasein dieses einzigartigen Seins, Welches die absolute Selbstheit (Ipseität) Dessen ist, Was wir »Tao«, »Gott«, »Elohim«, »Allah« und so weiter nennen.
[...]Philon von Alexandria, der ungefähr zur selben Zeit wie Jesus Christus lebte, schrieb: »Der vollkommene Mensch ist theos (Gott), obschon er nicht o theos (der Gott) ist.« Der Mensch ist nicht anders als seine Wirklichkeit, obwohl er nicht die Wirklichkeit ist.
Über das Einssein. Ansprache am World Symposium on Humanity, London 1979
Warum sollen sich die Menschen in Gebet und Meditation nicht einer "Mutter Maria" zuwenden, die ihnen und ihrer Erfahrungswelt und Lebenssituation nun einmal näher steht? Gestalten also, die uns gerade durch ich menschlichen Aspekte Vertrautheit und Trost bieten.
Kann man! Auch der Islam verehrt Maria und preist sie als
„vor den Frauen aller Welt erwählt“ (Koran, III, 42) „
Von Herz zu Herz“ springt die Flamme der göttlichen Liebe und Wahrheit und Maria kann uns allen ein großes Vorbild sein. Sie ist das vollkommene Gefäß, das Urbild einer gottergebenen (muslimischen) Frau, welche mit dem Leben Gottes erfüllt wurde, sodass durch sie Jesus in die Welt kam, wodurch nichts geringeres, als eine spirituelle Revolution in Gang gesetzt wurde.
