closs hat geschrieben:Agent Scullie hat geschrieben:Die Annahme, dass das, was wir beobachten können, tatsächlich existiert (und nicht etwa eine Einbildung ist), ist eine naheliegende Annahme.
Naheliegend, aber nicht falsifizierbar.
Das stört nicht.
closs hat geschrieben:Agent Scullie hat geschrieben:Naturalisten/Materialisten und Christen sind sich also einig, dass das, was wir beobachten, tatsächlich existiert.
Aber aus unterschiedlichen Gründen: Die einen sagen "Glaubensentscheid", die anderen sagen: "Warum? Das ist doch so".
Das bezweifle ich. Die Existenz der Materie für wahr zu halten, betrachten die Christen nicht als Glaubensentscheid, ebensowenig wie die Materialisten. Als Glaubensentscheid betrachten sie, an Gott zu glauben. Nachdem dieser Glaubensentscheid getroffen wurde, glaubt ein Christ zwar, dass die materielle Welt von Gott geschaffen wurde, aber der Glaube an Gott ist für den Christen nicht Voraussetzung dafür, die materielle Welt als existent anzusehen. Unterhaltungen zwischen Christen und materialistisch denkenden Atheisten sehen häufig so aus, dass der Christ dem Atheisten vorwirft, in dessen Weltbild gäbe es zwar die Materie, aber nichts was dem Leben von materiellen Lebewesen Sinn geben würde. Es kommt dagegen äußerst selten vor, dass der Christ dem Atheisten vorwirft, dass es in dessen Weltbild gar keine Materie geben würde, weil der Glaube an Gott Voraussetzung dafür sei, Materie für real halten zu können.
closs hat geschrieben:Agent Scullie hat geschrieben:. Das Christentum besagt nun aber, dass es neben dem, was wir bebachten können, also der materiellen Welt, noch etwas anderes gibt, nämlich eine übernatürliche, göttliche Welt.
Streng genommen umgekehrt: Wir glauben an die geistige Welt, und dass aus ihr materiell "echt" und nicht nur unsere Vorstellung ist.
Der Christ glaubt, dass ein Element der geistigen Welt, nämlich Gott, die materielle Welt erschaffen hat. Das ändert aber gar nichts daran, dass der Christ die materiellen Welt für ebenso real hält wie der Materialist. Ganz anders als ein Verfechter des Idealismus, auf den wir gleich zu sprechen kommen: für den ist die materiellen Welt nur Einbildung des (menschlichen) Geistes, sie existiert nicht real.
closs hat geschrieben:Agent Scullie hat geschrieben: Die Existenz so einer Welt anzunehmen, ist jedoch weitaus weniger naheliegend als die Annahme der Existenz der beobachtbaren, materiellen Welt.
Das ist eine Glaubensaussage - andere sehen es als weit naheliegender an, dass die geistige Welt zuerst ist.
Offensichtlich redest du jetzt von den Anhängern des Idealismus. Die geistige Welt, von der der Idealismus spricht, ist aber etwas völlig anderes als das, was man im Christentum mit der geistigen Welt meint. Die geistige Welt des Idealismus ist die Welt des menschlichen Geistes (oder des Geistes von intelligenten Aliens), keine geistige Welt, in der ein Gott vorkommt. Der Idealist ist der Ansicht, dass nur sein Denken und das Denken anderer Menschen (oder allgemeiner: intelligenter Lebewesen) real ist, und die materielle Welt nur in seinem Denken existiert, nicht jedoch "da draußen" vorhanden ist.
Beide, Christen und Idealisten, mögen zwar der Formulierung zustimmen, die materielle Welt würde aus dem Geist heraus existieren, jedoch meinen sie damit zwei völlig verschiedene Ansichten. Für den Christen existiert die materielle real, also auch außerhalb seines Denkens, sie wurde jedoch von einem Gott, der vom Christen einer geistigen Welt zugeordnet wird, erschaffen. Die Idealist dagegen negiert die Realität der materiellen Welt, er sagt, dass es "da draußen", d.h. außerhalb des menschlichen Denkens, nichts gibt, also keine Materie und auch keinen Gott. Im Grunde ist im Weltbild des Idealismus noch viel weniger Platz für Gott als im Weltbild des Materialismus: während der Materialismus anerkennt, dass es etwas "da draußen" gibt, nämlich eine materielle Welt, die theoretisch von einem ebenfalls "da draußen" existenten Schöpfer erschaffen worden sein könnte, gibt es dem Idealismus zufolge kein "da draußen" - Gott könnte also allenfalls im menschlichen Denken existieren, also gedacht sein, und so ein nur gedacht existierender Gott wäre kein Gott.
Der Idealismus ist also im Hinblick darauf, was er als existierend betrachtet, noch viel einschränkender als der Materialismus. Während der Materialismus die Existenz der materiellen bejaht, aber die Existenz einer ontologisch transzendenten Welt, in der ein Gott vorkommt, negiert, geht der Idealismus so weit, sogar die Existenz einer ontologisch immanenten materiellen Welt zu streichen. Er hält nur das menschliche Denken für real. Dabei bedient er sich zwar der Terminologie der "geistigen Welt", die auch im Christentum Verwendung findet, meint damit aber eben etwas völlig anderes. In diesem Sinne ist der Idealismus sogar noch viel anthropozentrischer als der Materialismus: während der Materialismus (wie du es ausdrückst) die menschliche Beobachtungsfähigkeit zum Maß dafür, was als existent betrachtet werden kann und was nicht, erhebt, geht der Idealismus gleich so weit, alles außer dem menschlichen Denken für inexistent zu erklären.
Es kommt nicht von ungefähr, dass die christliche Lösung für das Leib-Seele-Problem eine ganz andere ist als die des Idealismus: der Idealismus vertritt einen Monismus, er erkennt nur der Seele (dem Geist) Realität zu, dem Körper jedoch nicht, der Körper wird als lediglich von der Seele gedacht betrachtet, das Christentum dagegen vertritt einen Dualismus, es werden beide, Körper und Seele, als real existent angesehen, und zwar als unabhängig voneinander, so dass die Seele weiterbestehen kann, wenn der Körper gestorben ist. Theoretisch würde die christliche Sichtweise sogar zulassen, dass ein Körper ohne Seele existieren könnte.
Wie der Materialismus hält die christliche Lehre also den materiellen Körper für real existent, anders als der Idealismus. Die christliche Lehre betont lediglich, dass der Körper der Erschaffung durch Gott bedurfte, was der Materialismus negiert.
Kommen wir nun darauf zurück, welche Ansicht die naheliegendste ist. Man kann beide, Materialismus und Idealismus, als naheliegend ansehen. Man kann das sowohl so sehen, dass die materiellen Welt offensichtlich existiert, als auch so, dass nur der menschliche Geist offensichtlich existiert. Im einen wir im anderen Fall aber ist die Existenz Gottes weit weniger naheliegend. Wenn man sich für den idealistischen Standpunkt entscheidet, ist die Existenz Gottes sogar noch weniger naheliegend als im materialistischen Fall. "Geistige Welt" ist eben nicht gleich "Geistige Welt".
closs hat geschrieben:Agent Scullie hat geschrieben:Deswegen ist das Maß an Notwendigkeit, die Existenz der materiellen Welt erst einmal setzen zu müssen, sehr viel geringer als das Maß an Notwendigkeit, die Existenz einer göttlichen, übernatürlichen Welt erst einmal als Prämisse setzen zu müssen.
Aber nur auf Basis Deiner vorher getätigten Glaubens-Aussage, dass die materielle Welt der Ursprung ist
Nein, denn die materialistische Lösung des Leib-Seele-Problems, dass nur der Körper existiert und der Seele keine eigenständige Existenz zukommt (genau anders herum als im Idealismus), der Körper bzw. das Gehirn also der Ursprung des menschlichen Geistes ist, ist nicht Teil der Prämisse, sondern Schlussfolgerung aus dieser. Die Argumentation geht so:
Offensichtlich existiert die materielle Welt (das ist die Prämisse). Weiterhin können wir feststellen, dass wir selbst einen Geist besitzen, und dass es Lebewesen gibt, die ebenfalls einen Geist zu besitzen scheinen, der aber weniger weit entwickelt ist als unserer (die Tiere). Und wir können feststellen, dass es materielle Objekte gibt, die gar keinen Geist zu besitzen scheinen. Wir könnten jetzt annehmen, dass darüberhinaus noch irgendeine übernatürliche Welt und einen Gott gibt, jedoch spricht keine unserer Beobachtungen für die Richtigkeit so einer Annahme. Also ist es naheliegend, dass es nur die materielle Welt gibt. Somit ist es naheliegend, dass unser Geist ein Produkt der Materie, z.B. unserer Gehirne ist.
Die Schlussfolgerung, dass es nicht naheliegend ist, die Existenz eines Gott anzunehmen, kommt also vor der Schlussfolgerung, dass das Leib-Seele-Problem am naheliegendsten dadurch zu lösen, dass nur dem Körper eigenständige Existenz zuzuschreiben, nicht danach.
Folgt man alternativ der Denkweise des Idealismus, ist es, wie wir gesehen haben, noch weniger naheliegend, die Existenz eines Gott anzunehmen. So oder so ist es also nicht besonders naheliegend, die Existenz Gottes anzunehmen.
closs hat geschrieben:Agent Scullie hat geschrieben:jedoch ist die Existenz der Materie sehr viel gesicherter als die Existenz Gottes, schließlich können wir die Materie tagtäglich sehen, Gott dagegen nicht.
Nee - das trägt nicht. - Descartes würde - wieder sinngemäß - dazu sagen: "Ich würde doch gar nicht merken, wenn meine tagtägliche Erfahrung ausschließlich Vorstellung wäre.
Jetzt redest du wieder vom Idealismus. Der führt aber, wie wir gerade gesehen haben, noch viel weniger zur Existenz Gottes als der Materialismus. Der "Geist" des Idealismus ist eben etwas ganz anderes als der "Geist" des Christentums.
closs hat geschrieben:- Egal - da ich eh GLAUBE, dass Materie 'echt' ist, spielt das praktisch keine Rolle - aber WISSEN tue ich es nicht. - Ich GLAUBE es, weil mir nichts anderes übrgi bleibt".
Es bleibt etwas anderes übrig, nämlich der Standpunkt des Idealismus. Wie wir gesehen haben, kann man diesen als ebenso naheliegend betrachten wie den des Materialismus. Aber beide Standpunkte führen nicht dazu, dass es naheliegend wäre, die Existenz Gottes anzunehmen.