#1 Gisi
Verfasst: Mi 9. Okt 2019, 11:08
Ein Lied (geschrieben in Schweizer Mundart am 9.9.1993 ist es eines meiner allerersten Lieder) und eine lange Erläuterung (in Schriftdeutsch, für diejenigen unter uns, die sich für ein echtes Verstehen gerne Zeit nehmen...) zum Thema Freundschaft:
Gisi, wir haben so viel zusammen gemacht und so viel zusammen gelacht. Heute habe ich nicht einmal mehr eine Adresse von dir: Du wolltest mich vergessen.
Warum denn, mein Freund, was hab’ ich dir getan? Ich werde dich nie vergessen. Das kann und will ich nicht, dafür war mir unsere gemeinsame Zeit viel zu intensiv.
Gisi, wir haben zusammen die Lehre gemacht, weisst du noch, damals bei den Schweizerischen Bundesbahnen? Ich war in Tägertschi und du warst in Worb, und jetzt sehe ich dich nirgends mehr. Gisi, wir haben uns das erste Mal verloren damals, als ich die Lehre aufgegeben habe. Mit den Rumpelstilz in den Ohren, das ist jetzt schon sehr lange her.
Das Konzert von den Rumpelstilz an einem Samstag Abend des Jahres 1976 in der Turnhalle Münsingen war mein allererstes Rockkonzert, das ich besuchte, und es wurde direkt an diesem Abend zum Auslöser für meinen Lehrabbruch. Zu Gisi, der mit mir zusammen dort war, sagte ich, dass ich am Montag nicht mehr auf der Station erscheinen würde, ich hätte es satt. Und so war es dann auch.
Im Jahr 2009 machte ich zusammen mit Lucienne Musik am Geburttagsfest meiner Schwägerin in Oberhofen. Ganz unerwartet ist da Polo Hofer erschienen (der Sänger der früheren Rumpelstilz) und ich habe spontan das Lied „Gisi“ gespielt und ihm die Sache mit meinem ersten Rockkonzert und dem Lehrabbruch erzählt. Das war lustig. Er hat mich dann aufgefordert, das Lied „Alperose“ zu spielen, er hätte mitgesungen. Das wäre natürlich toll gewesen, nur leider war es so (und ist noch heute so), dass ich fast ausschliesslich meine eigenen Songs spielen kann. So musste ich damals leider passen und es ist deshalb nicht zu dem historischen Duett Polo/Uodal gekommen.
Es schmerzt mich noch heute, wenn ich daran denke, ich habe noch immer ein Herz an dich zu verschenken.
Der Weise hat wohl recht, wenn er sagt: „Dem, der sich zugesellt, Anhänglichkeit erwächst ihm. Anhänglichkeit hat im Gefolg dies Leiden.“
Gisi, wir sind uns dann wieder begegnet, in Genf in der Rekrutenschule, es hat geregnet. Ich habe dann in Bern in einer Wohngemeinschaft gelebt, und schon bald bist du oft dort mit mir abgehangen.
Das war an der Wasserwerkgasse, unten in der Matte, an der Aare. Uodals wilde Zeit.
Gisi, wir haben damals begonnen Haschisch zu rauchen, dafür haben wir aufgehört zu arbeiten. Nächtelang sind wir auf Trip rumgerannt und haben uns jeweils am Morgen früh auf der Münsterplattform wieder gefunden.
Im Folgenden schildere ich ausführlich das Erlebnis, das mich meines Erachtens zutiefst mit Gisi (Hanspeter) verbunden hat (zitiert aus meiner spirituellen Autobiografie „Die Schwelle“):
Am frühen Nachmittag verlasse ich die Mansarde, wo ich bei meiner Freundin, der Mutter meines ersten Kindes (das zu diesem Zeitpunkt in ihrem Bauch heranwächst), übernachtet hatte und begebe mich zur Münsterplattform. Dort begegne ich meinem Freund Hanspeter, der in einer Wohngemeinschaft in der Kramgasse lebt.
Wir hatten nicht lange vorher das Gerücht vernommen, wonach die Einnahme einer bestimmten Sorte von Asthmazigaretten („Louis Legras“, die zu der Zeit in Apotheken frei erhältlich waren) einen ganz besonderen Trip auszulösen vermöchten. Es ist ein schöner, sonniger Tag und nach der Inhalation eines ergiebigen Joints beschliessen wir, eine Packung dieser Asthmazigaretten zu kaufen.
Kurz darauf köcheln wir bei Hanspeter in der Küche je vier der Zigaretten in Wasser auf und trinken ohne zu zögern diesen Absud (zwei der Ingredienzien unter anderen: Tollkirsche und Stechapfel). Schliesslich finden wir, nur den Tee zu trinken, das könne es sicher nicht bringen, und so verzehren wir auch noch das ganze Kraut und begeben uns dann zur Münsterplattform.
Auf der Münsterplattform beginnt das Zeug so langsam zu wirken, anfänglich etwa wie ein guter Joint. Da kommt Jörg auf uns zu und wir erzählen ihm, was wir eingeworfen haben. Er ist Feuer und Flamme und will da nicht zurückstehen, also begibt er sich ebenfalls in die Wohnung, wo auch er sich seinen Tee kredenzt.
Er erscheint dann allerdings nicht mehr auf der Plattform und geht seinen eigenen Weg, der, wie er und die Kollegen mit denen er dann den Nachmittag verbracht hat später erzählen, so ausgesehen hat, dass sie im Kino den Film „Hair“ anschauen gegangen sind. Mitten im Film, in der Szene wo der eine der Hippies mit zerschlissenen Jeans auf dem Tisch tanzt, steht Jörg auf und geht nach vorne zur Leinwand, wo er dem Typen auf der Leinwand laut anerbietet, er dürfe dann schon zu ihm nach Hause kommen, wenn er nicht wisse wo er übernachten könne. Seine Kollegen holen ihn zurück und setzen ihn wieder ins Kinogestühl.
Währenddessen hat sich auch unser Trip kontinuierlich weiter entwickelt. Das Erleben läuft nun schon auf der Ebene eines „normalen“ LSD-Flashs, nimmt aber an Intensität immer noch zu. Mir wird es langsam zu viel und ich sage Hanspeter, dass ich mich in seine Wohnung zurückziehen möchte, worauf auch er mitkommt. Wir begeben uns dann in Hanspeters Zimmer, wo er sich auf sein Bett legt und ich mich im Schneidersitz ihm gegenüber auf den Boden setze.
Irgendwann muss ich aufs WC und dort erlebe ich die erste „Halluzination“ (ich benütze dieses Wort nicht gerne, da ich bis heute nicht sagen kann, ob diese Erscheinungen – im übrigen häufige Begleiter meiner damaligen LSD-Trips – tatsächlich bloss vom eigenen Geist produzierte Wahrnehmungen sind oder ob sie auch einer äusseren Wirklichkeit entsprechen, die bloss im normalen Bewusstseinszustand nicht gesehen wird).
Ich sitze also auf dem WC, in einem kleinen engen Raum, da steht urplötzlich eine Art Zwerg vor mir. Obschon sein Gesicht gesichtslos ist (ich sehe weder Augen, noch Nase oder Mund, es gleicht eher einem Gesicht, über das ein Nylonstrumpf gezogen ist), fühle ich ganz deutlich, dass dieses Wesen mich anschaut, mich sieht und wahrnimmt. Langsam steigt Angst in mir hoch und es ist mir unmöglich, unter den gesichtslosen Augen dieses Beobachters mein Geschäft zu erledigen. Ich ziehe die Hosen wieder hoch und gehe zurück zu Hanspeter, der immer noch auf dem Bett liegt. Nun empfinde ich bereits eine anschwellende Panik, die mich erfasst und ich sage Hanspeter, ich müsse hier raus, müsse irgendwo in die Natur, an die Aare gehen. Er antwortet, er komme auch mit. Da ich die Räume jetzt zwingend fluchtartig verlassen muss, sage ich ihm, ich werde draussen vor der Haustüre auf ihn warten.
Also stehe ich dort unten, während die Panik in mir immer grösser wird. Ich komme zur Überzeugung, dass ich mich mit einer gehörigen Ladung Valium unbedingt von diesem Trip runterholen muss. Gleich nebenan befindet sich eine Apotheke, die ich jetzt aufsuchen will, aber Pech gehabt: Sie hat nicht geöffnet. In diesem Moment kommt Hanspeter daher, ich fasse ihn resolut am Kragen und schreie ihn an, ich müsse unbedingt Valium haben, ich würde das nicht mehr aushalten. Da verwandelt sich das Äussere des vermeintlichen Freundes in das Äussere eines Passanten, der mich erschrocken und entschieden von sich losreisst und wegstösst.
Meinen gegenwärtigen Zustand empfinde ich als kaum mehr auszuhalten, da kommt Hanspeter ein zweites Mal daher und nun gehen wir zusammen an die Aare, wo ich von der Panik wieder runterkomme und wo wir uns wahrscheinlich zwei bis drei Stunden aufhalten (es wird langsam dunkel).
Weitere schräge Wahrnehmungen geschehen, wie zum Beispiel diese, dass ich in einer Wiese meine Freundin im Gras liegend mit einem andern Mann rummachen sehe. Laut zetternd gehe ich auf die beiden zu, die erschrocken aufspringen und keine Ahnung haben, was dieser wildgewordene Freak von ihnen will (natürlich handelt es sich bei der Frau nicht um meine Freundin).
Wir gehen da so der Aare entlang, ich bin andauernd am Reden, Hanspeter jedoch ist still und sagt die ganze Zeit kein einziges Wort. Das erscheint mir zwar etwas sonderbar, aber ich lasse ihn. Wir gelangen dann zu einem Zaun, den wir übersteigen wollen. Ich klettere rüber, während Hanspeter stumm vor dem Zaun stehen bleibt. Was hat er denn? Ich biete ihm an, ihm rüberzuhelfen, er solle mir seine Hand reichen. Er streckt seinen Arm aus, aber als ich ihn am Arm fassen will, geht meine Hand durch seinen Arm hindurch wie durch Luft. Ich versuche es mehrmals, nichts zu machen. Also erkläre ich ihm, ich könne ihm nicht helfen, da meine Hand durch ihn hindurch gehe, er müsse selber rüberklettern, was er dann auch tut, das heisst, plötzlich steht er diesseits des Zauns neben mir und wir gehen weiter. Irgendwann, es ist inzwischen Nacht geworden, stehen wir auf dem Kornhausplatz und verabschieden uns voneinander um ein jeder zu sich nach Hause zu gehen.
Ich begebe mich auf die Kornhausbrücke, da höre ich zuerst leise, dann immer deutlicher meinen Namen rufen. Der Ruf kommt von jenseits der Brückenmauer. Ich lehne mich über die Mauer und sehe tief unter mir die Aare fliessen. Von dort unten ruft „es“ mich. „Ja, ich komme“, und schon befindet sich mein rechtes Bein auf der Mauer, ich bin im Begriff rüberzusteigen.
Da erwache ich irgendwie aus einer Art Automatismus, nehme die Situation vollkommen klar wahr – ich bin im Begriff, mich von der Brücke zu stürzen! – und renne ohne anzuhalten über die Brücke und zur Mansarde meiner Freundin. Sie ist zu Hause und erschrickt massiv, als sie mich erblickt: Mit Schaum vor dem Mund und mit Pupillen wie Untertassen in einem Zustand voller Angst und Panik. Zusammen fahren wir mit dem Bus zum Inselspital in die Notfallaufnahme (die weiteren Flashs auf dieser Fahrt und auch noch im Spital erspare ich uns hier), wo eine Atropinvergiftung diagnostiziert wird und ich nun doch noch mit Valium stillgelegt werde.
Ein paar Tage später sehe ich Hanspeter wieder und erzähle ihm meine Geschichte. Er hört mir fassungslos staunend zu und erzählt dann seine Version. Er sei niemals aus dem Zimmer gegangen, sondern habe – und zwar mit mir zusammen – die ganze Zeit in seinem Zimmer verbracht. Er sei auf dem Bett gelegen, ich vor ihm im Schneidersitz auf dem Boden gesessen und wir hätten uns die ganzen Stunden intensiv unterhalten, worüber, das könne er allerdings nicht mehr sagen. Das sei solange gegangen, bis eine WG-Mitbewohnerin nach Hause gekommen sei. In dem Augenblick, als sie an seine Zimmertüre geklopft habe, hätte ich mich in die Luft erhoben und sei durch die Wand verschwunden. Als sie eintrat, sei er alleine gewesen.
Den Begriff und das Erleben des „Doppelgängers“ habe ich später bei der Lektüre von Carlos Castaneda wiedergefunden. Was es genau war, weiss ich bis heute nicht, aber es hat Hanspeter und mich verbunden und erscheint mir rückblickend als eine tiefe Erfahrung von Freundschaft, in dem in einer schwierigen und herausfordernden Situation keiner den andern alleine gelassen hat, obwohl ein jeder gleichzeitig an seinem eigenen Ort, in seinem eigenen Erleben gewesen ist.
Es schmerzt mich noch heute, wenn ich daran denke, ich habe noch immer ein Herz an dich zu verschenken.
Ja, ich fände es schön, wenn wir uns in diesem Leben irgendwann und irgendwo noch einmal sehen und uns miteinander austauschen könnten, bevor wir, wie der Volksmund so schön sagt, „das Zeitliche segnen“.
Gisi, sieh wie lange das schon her ist, vierzig Jahre sind seither vergangen. Sag, nimmst du das Leben immer noch so schwer? Sieh doch, die Vergangenheit ist längst vergangen.
Ja, die Vergangenheit ist vergangen, aber das Gefühl der Freundschaft, des Wohlwollens dir gegenüber, das ist nicht Vergangenheit, das ist eine Empfindung hier und jetzt.
Gisi, ich möchte dich wieder einmal sehen, vielleicht diesen Winter, im Emmental, im Schnee. Wir könnten sehen, wie es uns geht und wie es um unsere beiden Leben steht.
Das wäre ein schönes Erleben, Gisi, uns noch einmal die Hände zu reichen und uns in die Augen zu schauen.
Mir tut das jetzt schon wohl, wenn ich daran denke, ich habe noch immer ein Herz an dich zu verschenken. Mir tut das jetzt schon wohl, wenn ich daran denke, ich habe noch immer ein Herz an Gisi zu verschenken.
Ja, ich weiss: Erinnerungen... nichts weiter als melancholische Erinnerungen eines alternden Mannes...
Möge wahre Freundschaft nie vergehen!
erbreich
Gisi, wir haben so viel zusammen gemacht und so viel zusammen gelacht. Heute habe ich nicht einmal mehr eine Adresse von dir: Du wolltest mich vergessen.
Warum denn, mein Freund, was hab’ ich dir getan? Ich werde dich nie vergessen. Das kann und will ich nicht, dafür war mir unsere gemeinsame Zeit viel zu intensiv.
Gisi, wir haben zusammen die Lehre gemacht, weisst du noch, damals bei den Schweizerischen Bundesbahnen? Ich war in Tägertschi und du warst in Worb, und jetzt sehe ich dich nirgends mehr. Gisi, wir haben uns das erste Mal verloren damals, als ich die Lehre aufgegeben habe. Mit den Rumpelstilz in den Ohren, das ist jetzt schon sehr lange her.
Das Konzert von den Rumpelstilz an einem Samstag Abend des Jahres 1976 in der Turnhalle Münsingen war mein allererstes Rockkonzert, das ich besuchte, und es wurde direkt an diesem Abend zum Auslöser für meinen Lehrabbruch. Zu Gisi, der mit mir zusammen dort war, sagte ich, dass ich am Montag nicht mehr auf der Station erscheinen würde, ich hätte es satt. Und so war es dann auch.
Im Jahr 2009 machte ich zusammen mit Lucienne Musik am Geburttagsfest meiner Schwägerin in Oberhofen. Ganz unerwartet ist da Polo Hofer erschienen (der Sänger der früheren Rumpelstilz) und ich habe spontan das Lied „Gisi“ gespielt und ihm die Sache mit meinem ersten Rockkonzert und dem Lehrabbruch erzählt. Das war lustig. Er hat mich dann aufgefordert, das Lied „Alperose“ zu spielen, er hätte mitgesungen. Das wäre natürlich toll gewesen, nur leider war es so (und ist noch heute so), dass ich fast ausschliesslich meine eigenen Songs spielen kann. So musste ich damals leider passen und es ist deshalb nicht zu dem historischen Duett Polo/Uodal gekommen.
Es schmerzt mich noch heute, wenn ich daran denke, ich habe noch immer ein Herz an dich zu verschenken.
Der Weise hat wohl recht, wenn er sagt: „Dem, der sich zugesellt, Anhänglichkeit erwächst ihm. Anhänglichkeit hat im Gefolg dies Leiden.“
Gisi, wir sind uns dann wieder begegnet, in Genf in der Rekrutenschule, es hat geregnet. Ich habe dann in Bern in einer Wohngemeinschaft gelebt, und schon bald bist du oft dort mit mir abgehangen.
Das war an der Wasserwerkgasse, unten in der Matte, an der Aare. Uodals wilde Zeit.
Gisi, wir haben damals begonnen Haschisch zu rauchen, dafür haben wir aufgehört zu arbeiten. Nächtelang sind wir auf Trip rumgerannt und haben uns jeweils am Morgen früh auf der Münsterplattform wieder gefunden.
Im Folgenden schildere ich ausführlich das Erlebnis, das mich meines Erachtens zutiefst mit Gisi (Hanspeter) verbunden hat (zitiert aus meiner spirituellen Autobiografie „Die Schwelle“):
Am frühen Nachmittag verlasse ich die Mansarde, wo ich bei meiner Freundin, der Mutter meines ersten Kindes (das zu diesem Zeitpunkt in ihrem Bauch heranwächst), übernachtet hatte und begebe mich zur Münsterplattform. Dort begegne ich meinem Freund Hanspeter, der in einer Wohngemeinschaft in der Kramgasse lebt.
Wir hatten nicht lange vorher das Gerücht vernommen, wonach die Einnahme einer bestimmten Sorte von Asthmazigaretten („Louis Legras“, die zu der Zeit in Apotheken frei erhältlich waren) einen ganz besonderen Trip auszulösen vermöchten. Es ist ein schöner, sonniger Tag und nach der Inhalation eines ergiebigen Joints beschliessen wir, eine Packung dieser Asthmazigaretten zu kaufen.
Kurz darauf köcheln wir bei Hanspeter in der Küche je vier der Zigaretten in Wasser auf und trinken ohne zu zögern diesen Absud (zwei der Ingredienzien unter anderen: Tollkirsche und Stechapfel). Schliesslich finden wir, nur den Tee zu trinken, das könne es sicher nicht bringen, und so verzehren wir auch noch das ganze Kraut und begeben uns dann zur Münsterplattform.
Auf der Münsterplattform beginnt das Zeug so langsam zu wirken, anfänglich etwa wie ein guter Joint. Da kommt Jörg auf uns zu und wir erzählen ihm, was wir eingeworfen haben. Er ist Feuer und Flamme und will da nicht zurückstehen, also begibt er sich ebenfalls in die Wohnung, wo auch er sich seinen Tee kredenzt.
Er erscheint dann allerdings nicht mehr auf der Plattform und geht seinen eigenen Weg, der, wie er und die Kollegen mit denen er dann den Nachmittag verbracht hat später erzählen, so ausgesehen hat, dass sie im Kino den Film „Hair“ anschauen gegangen sind. Mitten im Film, in der Szene wo der eine der Hippies mit zerschlissenen Jeans auf dem Tisch tanzt, steht Jörg auf und geht nach vorne zur Leinwand, wo er dem Typen auf der Leinwand laut anerbietet, er dürfe dann schon zu ihm nach Hause kommen, wenn er nicht wisse wo er übernachten könne. Seine Kollegen holen ihn zurück und setzen ihn wieder ins Kinogestühl.
Währenddessen hat sich auch unser Trip kontinuierlich weiter entwickelt. Das Erleben läuft nun schon auf der Ebene eines „normalen“ LSD-Flashs, nimmt aber an Intensität immer noch zu. Mir wird es langsam zu viel und ich sage Hanspeter, dass ich mich in seine Wohnung zurückziehen möchte, worauf auch er mitkommt. Wir begeben uns dann in Hanspeters Zimmer, wo er sich auf sein Bett legt und ich mich im Schneidersitz ihm gegenüber auf den Boden setze.
Irgendwann muss ich aufs WC und dort erlebe ich die erste „Halluzination“ (ich benütze dieses Wort nicht gerne, da ich bis heute nicht sagen kann, ob diese Erscheinungen – im übrigen häufige Begleiter meiner damaligen LSD-Trips – tatsächlich bloss vom eigenen Geist produzierte Wahrnehmungen sind oder ob sie auch einer äusseren Wirklichkeit entsprechen, die bloss im normalen Bewusstseinszustand nicht gesehen wird).
Ich sitze also auf dem WC, in einem kleinen engen Raum, da steht urplötzlich eine Art Zwerg vor mir. Obschon sein Gesicht gesichtslos ist (ich sehe weder Augen, noch Nase oder Mund, es gleicht eher einem Gesicht, über das ein Nylonstrumpf gezogen ist), fühle ich ganz deutlich, dass dieses Wesen mich anschaut, mich sieht und wahrnimmt. Langsam steigt Angst in mir hoch und es ist mir unmöglich, unter den gesichtslosen Augen dieses Beobachters mein Geschäft zu erledigen. Ich ziehe die Hosen wieder hoch und gehe zurück zu Hanspeter, der immer noch auf dem Bett liegt. Nun empfinde ich bereits eine anschwellende Panik, die mich erfasst und ich sage Hanspeter, ich müsse hier raus, müsse irgendwo in die Natur, an die Aare gehen. Er antwortet, er komme auch mit. Da ich die Räume jetzt zwingend fluchtartig verlassen muss, sage ich ihm, ich werde draussen vor der Haustüre auf ihn warten.
Also stehe ich dort unten, während die Panik in mir immer grösser wird. Ich komme zur Überzeugung, dass ich mich mit einer gehörigen Ladung Valium unbedingt von diesem Trip runterholen muss. Gleich nebenan befindet sich eine Apotheke, die ich jetzt aufsuchen will, aber Pech gehabt: Sie hat nicht geöffnet. In diesem Moment kommt Hanspeter daher, ich fasse ihn resolut am Kragen und schreie ihn an, ich müsse unbedingt Valium haben, ich würde das nicht mehr aushalten. Da verwandelt sich das Äussere des vermeintlichen Freundes in das Äussere eines Passanten, der mich erschrocken und entschieden von sich losreisst und wegstösst.
Meinen gegenwärtigen Zustand empfinde ich als kaum mehr auszuhalten, da kommt Hanspeter ein zweites Mal daher und nun gehen wir zusammen an die Aare, wo ich von der Panik wieder runterkomme und wo wir uns wahrscheinlich zwei bis drei Stunden aufhalten (es wird langsam dunkel).
Weitere schräge Wahrnehmungen geschehen, wie zum Beispiel diese, dass ich in einer Wiese meine Freundin im Gras liegend mit einem andern Mann rummachen sehe. Laut zetternd gehe ich auf die beiden zu, die erschrocken aufspringen und keine Ahnung haben, was dieser wildgewordene Freak von ihnen will (natürlich handelt es sich bei der Frau nicht um meine Freundin).
Wir gehen da so der Aare entlang, ich bin andauernd am Reden, Hanspeter jedoch ist still und sagt die ganze Zeit kein einziges Wort. Das erscheint mir zwar etwas sonderbar, aber ich lasse ihn. Wir gelangen dann zu einem Zaun, den wir übersteigen wollen. Ich klettere rüber, während Hanspeter stumm vor dem Zaun stehen bleibt. Was hat er denn? Ich biete ihm an, ihm rüberzuhelfen, er solle mir seine Hand reichen. Er streckt seinen Arm aus, aber als ich ihn am Arm fassen will, geht meine Hand durch seinen Arm hindurch wie durch Luft. Ich versuche es mehrmals, nichts zu machen. Also erkläre ich ihm, ich könne ihm nicht helfen, da meine Hand durch ihn hindurch gehe, er müsse selber rüberklettern, was er dann auch tut, das heisst, plötzlich steht er diesseits des Zauns neben mir und wir gehen weiter. Irgendwann, es ist inzwischen Nacht geworden, stehen wir auf dem Kornhausplatz und verabschieden uns voneinander um ein jeder zu sich nach Hause zu gehen.
Ich begebe mich auf die Kornhausbrücke, da höre ich zuerst leise, dann immer deutlicher meinen Namen rufen. Der Ruf kommt von jenseits der Brückenmauer. Ich lehne mich über die Mauer und sehe tief unter mir die Aare fliessen. Von dort unten ruft „es“ mich. „Ja, ich komme“, und schon befindet sich mein rechtes Bein auf der Mauer, ich bin im Begriff rüberzusteigen.
Da erwache ich irgendwie aus einer Art Automatismus, nehme die Situation vollkommen klar wahr – ich bin im Begriff, mich von der Brücke zu stürzen! – und renne ohne anzuhalten über die Brücke und zur Mansarde meiner Freundin. Sie ist zu Hause und erschrickt massiv, als sie mich erblickt: Mit Schaum vor dem Mund und mit Pupillen wie Untertassen in einem Zustand voller Angst und Panik. Zusammen fahren wir mit dem Bus zum Inselspital in die Notfallaufnahme (die weiteren Flashs auf dieser Fahrt und auch noch im Spital erspare ich uns hier), wo eine Atropinvergiftung diagnostiziert wird und ich nun doch noch mit Valium stillgelegt werde.
Ein paar Tage später sehe ich Hanspeter wieder und erzähle ihm meine Geschichte. Er hört mir fassungslos staunend zu und erzählt dann seine Version. Er sei niemals aus dem Zimmer gegangen, sondern habe – und zwar mit mir zusammen – die ganze Zeit in seinem Zimmer verbracht. Er sei auf dem Bett gelegen, ich vor ihm im Schneidersitz auf dem Boden gesessen und wir hätten uns die ganzen Stunden intensiv unterhalten, worüber, das könne er allerdings nicht mehr sagen. Das sei solange gegangen, bis eine WG-Mitbewohnerin nach Hause gekommen sei. In dem Augenblick, als sie an seine Zimmertüre geklopft habe, hätte ich mich in die Luft erhoben und sei durch die Wand verschwunden. Als sie eintrat, sei er alleine gewesen.
Den Begriff und das Erleben des „Doppelgängers“ habe ich später bei der Lektüre von Carlos Castaneda wiedergefunden. Was es genau war, weiss ich bis heute nicht, aber es hat Hanspeter und mich verbunden und erscheint mir rückblickend als eine tiefe Erfahrung von Freundschaft, in dem in einer schwierigen und herausfordernden Situation keiner den andern alleine gelassen hat, obwohl ein jeder gleichzeitig an seinem eigenen Ort, in seinem eigenen Erleben gewesen ist.
Es schmerzt mich noch heute, wenn ich daran denke, ich habe noch immer ein Herz an dich zu verschenken.
Ja, ich fände es schön, wenn wir uns in diesem Leben irgendwann und irgendwo noch einmal sehen und uns miteinander austauschen könnten, bevor wir, wie der Volksmund so schön sagt, „das Zeitliche segnen“.
Gisi, sieh wie lange das schon her ist, vierzig Jahre sind seither vergangen. Sag, nimmst du das Leben immer noch so schwer? Sieh doch, die Vergangenheit ist längst vergangen.
Ja, die Vergangenheit ist vergangen, aber das Gefühl der Freundschaft, des Wohlwollens dir gegenüber, das ist nicht Vergangenheit, das ist eine Empfindung hier und jetzt.
Gisi, ich möchte dich wieder einmal sehen, vielleicht diesen Winter, im Emmental, im Schnee. Wir könnten sehen, wie es uns geht und wie es um unsere beiden Leben steht.
Das wäre ein schönes Erleben, Gisi, uns noch einmal die Hände zu reichen und uns in die Augen zu schauen.
Mir tut das jetzt schon wohl, wenn ich daran denke, ich habe noch immer ein Herz an dich zu verschenken. Mir tut das jetzt schon wohl, wenn ich daran denke, ich habe noch immer ein Herz an Gisi zu verschenken.
Ja, ich weiss: Erinnerungen... nichts weiter als melancholische Erinnerungen eines alternden Mannes...
Möge wahre Freundschaft nie vergehen!
erbreich