Jetzt oder nie?

Politik und Weltgeschehen
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sven23
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#1 Jetzt oder nie?

Beitrag von sven23 » Sa 26. Okt 2013, 09:17

Alle warten gespannt auf den groß angekündigten Bericht zum Mißbrauchsskandal der katholischen Kirche. Es erinnert ein bißchen an die Naherwartung: sie wurde angekündigt, aber sie kommt nicht.
Ob man seitens der Kirche auf Zeit spielt und mit der Vergesslichkeit der Öffentlichkeit kalkuliert?

Eine bedrückende Dokumentation über Mißbrauch in katholischen Kirche lief am Dienstag auf arte.





Für diejenigen, denen der Beitrag zu lang ist, eine kurze schriftliche Zusammenfassung der "Süddeutschen"

http://www.sueddeutsche.de/medien/arte- ... -1.1800113


Hat man überhaupt seitens der Kirche noch ein Interesse an Aufklärung?
Das fragt auch das Magazin "Kontraste" der ARD

http://www.rbb-online.de/kontraste/arch ... ereit.html
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closs
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#2 Re: Jetzt oder nie?

Beitrag von closs » Sa 26. Okt 2013, 10:27

sven23 hat geschrieben:Ob man seitens der Kirche auf Zeit spielt und mit der Vergesslichkeit der Öffentlichkeit kalkuliert?
Kann sein - man liefert sich ungern einer Medien-Gesellschaft aus, der der Kick mehr wert ist als die Wahrheit.

Ungeachtet dessen ist wirklich viel passiert (ich hatte da in den letzten Jahren etwas Einblick in ein Bistum) - folgendes hat sich abgezeichnet:

* Es gab selbstverständlich Missbrauchsfälle bei der Geistlichkeit, wenn auch nicht über dem Gesamtdurchschnitt aller Bevölkerungsgruppen. Besonders schwerwiegend dabei ist, dass ein Geistlicher (im Gegensatz zum "Onkel" oder dem heranwachsenden Nachbars-Jungen) immer Leitbild-Funktion hat.

* Es gab auch Trittbrettfahrer. - Mir ist bekannt, dass die Diözese auch Entschädigungen an Menschen gezahlt hat, die NICHT Opfer waren. Trotzdem tauchen diese in Statistiken auf.

* Innerhalb der Diözese wurden in den letzten Jahren Weisungen an die Geistlichen herausgegeben, die ihnen zum Beispiel verbieten, auch in seelsorgerischen Dingen ein weibliches Gegenüber zu umarmen. Darüber habe ich mal mit befreundeten katholischen Theologinnen und meiner Frau gesprochen, die übereinstimmend meinten, dass es schon Fälle gibt, in denen eine Frau in innerer Not umarmt sein will UND dass man sehr wohl als Frau unterscheiden könne, ob eine Umarmung begehrlich oder väterlich sei. Insofern wurde diese Verschärfung als Einschränkung seelsorgerischer Möglichkeiten empfunden. - Trotzdem geht die RKK offensichtlich keine Risiken ein und besteht auf diese Verschärfungen.

Und leider auch hier meinerseits Medien-Bashing: Wenn die SZ das Beispiel "Stumme Schreie" nicht als Einzelfall eines Verbrechers, sondern als strukturelles Problem der RKK darstellt, ist das (wie inzwischen die Regel) ein Verstoß gegen den verfassungsmäßigen Bildungsauftrag des Journalismus. - Die Gesellschaft und somit die Medien haben (u.a.) den Auftrag, Straftaten im Sinne des Gesetzes aufzudecken - insofern ist es richtig, dass sie dabei auch unter Talare gucken. - Aber was NICHT geht, ist folgendes:

"In Hamburg wurde der 48jährige Sven S. wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs verurteilt. - Sache mal, Sven, gehörst Du etwa auch zu dieser Sorte?". - Und genau das ist in der Missbrauchs-Diskussion mit der RKK passiert - ohne dass Medien dies verhindert hätten (was sie aufgrund ihres verfassungsmäßigen Auftrags hätten tun müssen) - im Gegenteil: Die Medien haben wie so oft einen vorliegenden Kondensationskern (also eine Steilvorlage aufgrund tatsächlich bestehender Fälle) zu einer Nebelwand aufgebaut. - Man hat sich daran gewöhnt (siehe Wulff, etc.) - trotzdem sollte man immer wieder mal ansprechen, dass das nicht so gemeint sein dürfte.

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sven23
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#3 Re: Jetzt oder nie?

Beitrag von sven23 » Sa 26. Okt 2013, 10:41

closs hat geschrieben: "In Hamburg wurde der 48jährige Sven S. wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs verurteilt. - Sache mal, Sven, gehörst Du etwa auch zu dieser Sorte?". -

Das ist natürlich Bildzeitungs-Niveau. Aber es geht nicht nur um die Fälle an sich, die es sicher in allen gesellschaftlichen Schichten gibt, sondern um den Umgang damit. Wie hat sich die Obrigkeit dazu verhalten, soweit sie nicht selbst betroffen war. Gab es eine Kultur des Vertuschens und Verschweigens und war das kein Einzelfall, sondern systemimmanent? Das sind die Fragen, denen sich die Kirche endlich stellen muß.
Beim Kriminologen Pfeiffer hatte man offensichtlich Angst, daß er zuviel an die Öffentlichkeit trägt.
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closs
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#4 Re: Jetzt oder nie?

Beitrag von closs » Sa 26. Okt 2013, 11:26

sven23 hat geschrieben:Beim Kriminologen Pfeiffer hatte man offensichtlich Angst, daß er zuviel an die Öffentlichkeit trägt.
Da ging es eher um unterschiedliches Rechtsverständnis - denn folgendes objektives Problem gab es bis vor wenigen Jahren:

Es gibt Strafrecht und Kirchenrecht. Bis vor kurzem war es üblich, dass Straftaten innerhalb der Kirche mit Duldung der säkularen Gerichtsbarkeit per Kirchenrecht geahndet werden konnten - das wurde durch Leutheusser-SChnarrenberger im Rahmen der Missbrauchs-Affäre geklärt zugunsten einer Meldepflicht gegenüber der Staatsanwaltschaft. - Früher lief es in etwa so (habe mich da vor einigen Jahren über meine katholischen Kontakte schlau gemacht):

Bischof Sven nimmt sich den Pfarrer Closs vor, dem Missbrauch mit Jugendlichen vorgeworfen wird (wollen wir hier annehmen, dass es berechtigte Vorwürfe sind). Es gibt ein Gespräch, nach dem Bischof Sven entscheidet, was er jetzt mit Pfarrer Closs macht. Gleichzeitig wird ein hoher Geistlicher zur Familie des Opfers geschickt, um mit ihr das Geschehen und die Folgen daraus zu besprechen. - Insofern also gab es schon früher Schuldeingeständnisse seitens der Kirche für ihre Geistlichen.

Pfarrer Closs weiß, dass er schwer gesündigt hat - und er weiß, dass es im engeren Zirkel bekannt ist. - Er wird deshalb NICHT geschnitten (weil man so nicht mit Sündern umgeht), aber er wird versetzt in einen Bereich, in dem er keinen Zugang zu Jugendlichen hat (wenn nicht, ist das ein Versagen des Bischofs). - Soweit die Familie des Opfers oder das Opfer selbst keine Anzeige bei einem weltlichen Gericht erstatten, passiert weltlich nichts, weil es der Bischof NICHT tut. Er hat es ja kirchenrechtlich geklärt. Außerdem gibt es innerhalb des Christentums eine andere Logik in Bezug auf Ahndung: Der formalen Strafe der weltlichen Gerichtsbarkeit (Geldstrafe, Gefängnis) stehen im Kirchenrecht Reue und Buße im Vordergrund - und zwar OHNE Verjährung (in manchen Fällen ist das Kirchenrecht somit sogar strenger als das Staatsrecht).

Und jetzt zurück zu Pfeiffer: Wenn Pfeiffer als Vertreter der weltlichen Gerichtsbarkeit vergangene Fälle untersucht, die noch unter kirchenrechtlichen Gesichtspunkten abgehandelt wurden, muss es zu Konfrontation kommen. Denn dann wird Pfeiffer die vergangenen Fälle so ansehen, wie man sie unter strafrechtlichen Gesichtspunkten sehen müsste - also so, als wären sie kirchenrechtlich nicht abgehandelt worden. - Und dann liegt der Vorwurf der Vertuschung nahe - weil es ja DANN nicht abgehandelte Fälle sind.

Die Kirche sagt dann zu Pfeiffer: "Moment - Dich gehen nur die Fälle etwas an, die wir NICHT abgehandelt haben. Wenn Du also einen Fall findest, den wir damals kirchenrechtlich hätten abhandeln müssen, trifft uns zu Recht Dein Vorwurf. Aber lass die Finger von abgehandelten Fällen - die gehen Dich nach damaligem Rechts-Usus (der den staatlichen Behörden bekannt war) nichts an.

Folge wird dann sein (und so war es ja dann auch), dass Pfeiffer unter SEINER Prämisse sagt: "Mir werden Einblicke nicht gewährt". - Die Kirche hält dagegen: "Pfeiffer hatte Einblick in alle nicht-behandelten Fälle - ihm wurden also Einblicke gewährt". - Das Medien-Publikum gibt natürlich Pfeiffer recht - ohne zu wissen, um was es eigentlich geht. Die Medien selbst tun nichts, um fair zu informieren - weil das ja kontra-produktiv im Sinne des Hypes ist.

Die Missbrauchs-Diskussion ist wirklich wichtig - aber die Medien verfügen über ein derartig monströses Irrleitungs-Potential, das sie auch nutzen, so dass sie Täter am Ende zu Opfern machen (ganz gegen ihre Absicht).

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sven23
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#5 Re: Jetzt oder nie?

Beitrag von sven23 » Sa 26. Okt 2013, 11:48

closs hat geschrieben: Bischof Sven nimmt sich den Pfarrer Closs vor, dem Missbrauch mit Jugendlichen vorgeworfen wird (wollen wir hier annehmen, dass es berechtigte Vorwürfe sind). Es gibt ein Gespräch, nach dem Bischof Sven entscheidet, was er jetzt mit Pfarrer Closs macht. Gleichzeitig wird ein hoher Geistlicher zur Familie des Opfers geschickt, um mit ihr das Geschehen und die Folgen daraus zu besprechen. - Insofern also gab es schon früher Schuldeingeständnisse seitens der Kirche für ihre Geistlichen.


Die Frage ist doch-und das sollte ja auch Gegenstand der Untersuchung sein- ob alle Fälle auch kirchenrechtlich korrekt behandelt wurden. Und da liegt der Verdacht nahe, daß dem nicht so ist.
Das sind die eigentlichen Tretminen, die da noch im Verborgenen schlummern und nach Ansicht der Kirche sollten sie auch möglichst da bleiben.
Zu einer ehrlichen Aufarbeitung gehören selbstverständlich auch die unter Kirchenrecht abgehandelten Fälle (wenn sie denn abgehandelt wurden).
Daran kann es nicht den geringsten Zweifel geben. Nur das wäre historisch-wissenschaftlich korrekt.
Alles andere hat wieder den Geruch von Vertuschung.
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#6 Re: Jetzt oder nie?

Beitrag von closs » Sa 26. Okt 2013, 14:42

sven23 hat geschrieben:Die Frage ist doch-und das sollte ja auch Gegenstand der Untersuchung sein- ob alle Fälle auch kirchenrechtlich korrekt behandelt wurden.
Ist es das? - Ich hatte eher den Eindruck, dass kirchenrechtliche Altfälle mit dem Maß des Strafrechts rückwirkend gemessen werden sollen. - Und eines kommt noch dazu: Zu Kirchenrecht gehört auch Verschwiegenheit, während Strafrecht öffentlich ist. Pfeiffer hätte als NICHT veröffentlichen dürfen: "Pfarrer Closs hat mal im Jahr 1984 folgendes gemacht und so wurde es geahndet".

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#7 Re: Jetzt oder nie?

Beitrag von sven23 » Sa 26. Okt 2013, 16:11

closs hat geschrieben: Ist es das? - Ich hatte eher den Eindruck, dass kirchenrechtliche Altfälle mit dem Maß des Strafrechts rückwirkend gemessen werden sollen. - Und eines kommt noch dazu: Zu Kirchenrecht gehört auch Verschwiegenheit, während Strafrecht öffentlich ist. Pfeiffer hätte als NICHT veröffentlichen dürfen: "Pfarrer Closs hat mal im Jahr 1984 folgendes gemacht und so wurde es geahndet".

Ja, so ist es leider. Das Beichtgeheimnis hat für manches Verbrechen als Deckmäntelchen gedient.
So viel ich weiß, wollte Pfeiffer das Beichtgeheimnis dadurch wahren, daß keine Klarnamen veröffentlicht würden, also lediglich die Fälle als solche und wie sie abgehandelt wurden. Das wäre doch auch für die Kirche akzeptabel. Aber ich denke, hier geht aus auch um Verfehlungen von Vorgesetzten bis hinauf in Bischofs- und Kardinalsränge, letztlich auch Ratzinger selbst. Das macht es so problematisch. Wenn man das ganze auf Pfarrersrebene abhandeln könnte, wäre es schon längst erledigt.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
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#8 Re: Jetzt oder nie?

Beitrag von closs » Sa 26. Okt 2013, 16:47

sven23 hat geschrieben:So viel ich weiß, wollte Pfeiffer das Beichtgeheimnis dadurch wahren, daß keine Klarnamen veröffentlicht würden
Das wäre akzeptabel - allerdings müssten es dann auch Fälle sein, bei denen sicher ist, dass sie stattgefunden haben.

sven23 hat geschrieben: Aber ich denke, hier geht aus auch um Verfehlungen von Vorgesetzten bis hinauf in Bischofs- und Kardinalsränge, letztlich auch Ratzinger selbst.
:lol: Logisch - in dem Moment, in dem keine Transparenz da ist, springt die Phantasie dafür ein. :lol:

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#9 Re: Jetzt oder nie?

Beitrag von sven23 » Sa 26. Okt 2013, 16:59

closs hat geschrieben: :lol: Logisch - in dem Moment, in dem keine Transparenz da ist, springt die Phantasie dafür ein. :lol:

Ich meine nicht als Täter, sondern als Vertuscher. Und da die Vertuscher von damals mittlerweile hohe Posten bekleiden ist die Sache so brisant.
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