Leben wir in einem postfaktischen Zeitalter?

Politik und Weltgeschehen
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ThomasM
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#1 Leben wir in einem postfaktischen Zeitalter?

Beitrag von ThomasM » Mo 21. Nov 2016, 13:56

Postfaktisches Zeitalter heißt:
Die Menschen sind fest von etwas überzeugt, obwohl die Fakten dagegen sprechen.
Fakten? Von denen muss sich heute niemand mehr seine Weltsicht ruinieren lassen.

Beispiele sind http://www.zeit.de/2016/46/wissenschaft ... -zeitalter

- Viele Menschen halten Altersarmut in Deutschland für ein riesiges Problem, obwohl das nicht stimmt
- Fundamentalistische Christen leugnen die Ergebnisse moderner Bibelforschung und der Wissenschaft (in den USA ist der Anteil über 50%)
- Bei Frauen gibt es angeblich eine Lohnlücke von 20 Prozent. Das stimmt aber nicht.
- Die Gleichberechtigung ist bereits umgesetzt, aber auch das ist nicht korrekt.
- Die Erderwärmung gibt es nicht, obwohl die Fakten dafür sprechen
- Der Missbrauch privater Daten wird geleugnet
- Es wird behauptet, die Forschung werde durch Militär und Konzerne gelenkt, obwohl das nicht stimmt.
- Es wird behauptet, dass Flüchtlinge stärker kriminell wären als Deutsche. Auch das stimmt nicht
- Die Presse wird nicht durch die Politik gelenkt, auch wenn das viele glauben.

Wenn Fakten nichts mehr zählen, wohin steuert dann unsere Gesellschaft?
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

closs
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#2 Re: Leben wir in einem postfaktischen Zeitalter?

Beitrag von closs » Mo 21. Nov 2016, 15:23

ThomasM hat geschrieben:Wenn Fakten nichts mehr zählen, wohin steuert dann unsere Gesellschaft?
Es gibt immer Aufs und Abs - es kann in eine irrationale Welt führen, aber auch mit der Zeit in eine Rückbesinnung auf Fakten. - Da ist alles drin.

Allerdings sollte man auch die Story kennen, die zu "Fakten-Verdrossenheit" geführt hat. In diesem Sinne gäbe es zu allen Deinen genannten Beispielen ein Story dahinter.

Unterm Strich und allgemein:
Wir haben heute eine kritisch-rational geprägte Social Correctness, deren Parameter zwar korrekt definiert sind, aber gleichzeitig grottenfalsch sein können. - Ich gebe Dir mal drei Beispiele zum Thema "Wissenschaft" und "Politik":

1.
"Es gibt nicht nur 3 (in Worten: drei) Geschlechter, sondern unendlich viele" - das war in etwa das Ergebnis einer wissenschaftlichen Habilitations-Arbeit, die vor einigen Jahren kräftig medial verbreitet wurde. - Entweder sind nun Menschen "modern" und "aufgeklärt" und sagen "Wenn die Wissenschaft das sagt, habe ich wieder was gelernt", oder die Menschen ticken anders und sagen "Ihr habt wohl einen Sprung in der Schüssel". Von diesen Menschen gibt es immer mehr - mit dem Ergebnis, dass wirklich seriöse Informationen ebenfalls nicht ernst genommen werden. - Oder:

2.
"Putins Griff nach dem Westen!" - das war eine Schlagzeile von ZDF oder ARD in den Abendnachrichten, als Putin die Krim besetzt hat. - Auch da sagen viele Menschen "Moment mal, die Nato hat sich nach 1990 um 500 km nach Osten bewegt und will jetzt noch die Ukraine langfristig miteinbeziehen - das sind 1000 km nach OSTEN, also ein Griff nach dem OSTEN. - Haben wir es bei uns mit System-Medien zu tun wie bei Putin auch?" - Oder:

3.
"Was müsste ein Päckchen Zigaretten kosten, um alle mit Niktoin-Abusus verbundenen Kosten abzudecken?". - Zwei wissenschaftliche Untersuchungen sagen dazu: a) 42,- Euro - b) 3,60 Euro. - Da sagen viele Menschen: "Moment mal - wenn das beides wissenschaftliche Untersuchungen sind: Wie kann die eine 42 Euro sagen und die andere 3,60 Euro? - Da stimmt doch was nicht!".

Und so kommt die von Dir thematisierte Fakten-Aversion nach und nach zustande - dass damit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, ist auch klar.

Hier vermischen sich aus meiner Sicht zwei völlig unterschiedliche Motive:
1) Fakten-Faulheit: Ich mache mir meine Welt lieber, wie sie mir gefällt (passt übrigens gut zu unserem unqualifizierten, aber unablässig gepredigten Meinungs-Individualismus).
2) Emanzipation: Ich erkenne, dass hier manipuliert wird - nicht mit mir.

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lovetrail
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#3 Re: Leben wir in einem postfaktischen Zeitalter?

Beitrag von lovetrail » Di 22. Nov 2016, 07:49

Ich würde sagen, es kommt zu immer mehr Verunsicherungen, weil Politik, Wirtschaft und auch die Wissenschaft (leider) sich Übertreibungen, Propaganda, strategischer Verzerrungen bedienen.

Man könnte auch sagen, wir leben in einem Zeitalter der Simulation. Wahr ist, was am stärksten zur "Erscheinung" gebracht wird, meist also als Medienphänomen. Und die Wissenschaft muss da auch schauen wo sie bleibt.
Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, so wird Christus dich erleuchten!

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#4 Re: Leben wir in einem postfaktischen Zeitalter?

Beitrag von Pluto » Di 22. Nov 2016, 10:15

lovetrail hat geschrieben:Man könnte auch sagen, wir leben in einem Zeitalter der Simulation. Wahr ist, was am stärksten zur "Erscheinung" gebracht wird, meist also als Medienphänomen. Und die Wissenschaft muss da auch schauen wo sie bleibt.
Ich würde sagen, wir leben leben in einer digitalen Welt, wo Manipulation der vermittelten Bilder an der Tagesordnung ist.
Es wird dadurch immer schwieriger, Wirklichkeit von Illusion zu unterscheiden.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

ThomasM
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#5 Re: Leben wir in einem postfaktischen Zeitalter?

Beitrag von ThomasM » Do 24. Nov 2016, 10:51

Eine ziemlich gute, weil meines Erachtens treffende, Analyse fand sich heute im Spiegel. Es geht um das Versagen der politischen Inszenierung von Demokratie im Zeitalter des Internet.

Heute ahne ich, dass es kaum anders geht, wenn man das tendenziell auf Konsens ausgerichtete System der bundesrepublikanischen Demokratie ernst nimmt: Demokratie bedeutet Verhandlung, Mäßigung und Kompromiss, also ungefähr das Gegenteil von Knall-Konfrontation. Und dafür braucht man eine Atmosphäre des kollegialen Respekts auch unter politischen Gegnern. Aber ebenso sind Streit und Diskussion essentiell für die Demokratie. Daraus ergibt sich die große Zwickmühle, ständig gleichzeitig Gegner sein zu müssen und Partner.

Die politische Inszenierung des Establishments hatte diese Zwickmühle temporär aufgelöst - außen Gegner, innen Partner. Aber: Internet. Wo auf die Diskussion kein Kompromiss folgen muss, wo der Streit ewig währen und immer polarisierender werden kann und dieser Umstand aufmerksamkeitsökonomisch belohnt wird.
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Rembremerding
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#6 Re: Leben wir in einem postfaktischen Zeitalter?

Beitrag von Rembremerding » Mi 30. Nov 2016, 07:05

Ein Artikel in der "Welt" von einem "Abgehängten", der sich nicht so fühlt, aber dorthin gedrängt ist, weil seine Meinung in der Öffentlichkeit nicht mehr vorkommen darf.
In ihm spricht wohl die schweigende Mehrheit gegen ein arrogantes städtisches linksliberales Bürgertum, das gerne Elite ist.


https://www.welt.de/debatte/kommentare/ ... ngten.html
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Janina
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#7 Re: Leben wir in einem postfaktischen Zeitalter?

Beitrag von Janina » Mi 30. Nov 2016, 09:19

ThomasM hat geschrieben:Postfaktisches Zeitalter heißt:
Die Menschen sind fest von etwas überzeugt, obwohl die Fakten dagegen sprechen.
Wenn Fakten nichts mehr zählen, wohin steuert dann unsere Gesellschaft?
Na das wäre doch mal ein Fall für unseren Spezialisten R.F... :lol:
Vielleicht hättest du auch noch Impfgegner aufzählen können...
Und AfD/Pegida: "Wahre Pressefreiheit gibt es nur in Russland!"

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