Merkel oder Merkel?

Politik und Weltgeschehen
Rembremerding
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#61 Re: Merkel oder Merkel?

Beitrag von Rembremerding » Mo 4. Sep 2017, 06:35

Wie unfähig man ist, heutzutage eine adäquate Diskussionskultur aufzubauen zeigt z.B., dass zwar bei Jim Knopf die Worte: "Er ist ein Neger" nicht mehr vorkommen dürfen (hier ist die Freiheit der Kunst eingeschränkt), aber der politische Gegner durchaus als Idiot betitelt und diffamiert werden darf, indem man dies mit offensichtlichen Lügen untermauert. Um die Empörung auf seine Seite zu ziehen, ist jedes Mittel recht.
Zu beklagen ist ebenso eine "Begriffsinflation". Wer eine Meinung gegen Mainstream oder Kapitalismus vorbringt, mag früher ein politischer Gegner gewesen sein, heute ist man schnell ein "Terrorist". Als Beispiel sind die Klagen amerikanischer Ölkonzerne gegen Greenpeace zu nennen, deren Widerstand beim Pipelinebau in Alaska als "Terrorismus" angeklagt wird oder Erdogan, der jegliche Gegnerschaft sowie unbequeme Meinungen in den Terrorismus verbannt. Macht und Kapital will so Opposition mundtot und gesellschaftsunfähig machen.

Aber solch vorauseilende Empörung und als Reaktion vorauseilende Zensur zeigt bereits Wirkung:
das Establishment hat bereits Angst vor dem Establishment.

Und so geschehen dann diese politischen Blümchenwiesendebatten im Wahlkampf, wie bei Schulz und Merkel: Zukunft ist zu vermeiden, weil unberechenbar, Gegenwart ist zum wohlfühlen, um nicht angreifbar zu werden, und lediglich Vergangenheit ist zu beschönigen oder verurteilen, weil nicht mehr veränderbar.


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R.F.
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#62 Re: Merkel oder Merkel?

Beitrag von R.F. » Mo 4. Sep 2017, 09:11

Rembremerding hat geschrieben: - - -
Aber solch vorauseilende Empörung und als Reaktion vorauseilende Zensur zeigt bereits Wirkung:
das Establishment hat bereits Angst vor dem Establishment.

Und so geschehen dann diese politischen Blümchenwiesendebatten im Wahlkampf, wie bei Schulz und Merkel: Zukunft ist zu vermeiden, weil unberechenbar, Gegenwart ist zum wohlfühlen, um nicht angreifbar zu werden, und lediglich Vergangenheit ist zu beschönigen oder verurteilen, weil nicht mehr veränderbar.
- - -
Hervorragend analysiert und formuliert! :thumbup:

piscator
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#63 Re: Merkel oder Merkel?

Beitrag von piscator » Mo 4. Sep 2017, 10:19

R.F. hat geschrieben:
piscator hat geschrieben: - - -
Wer von diesen geplünderten Betragen letztendlich profitiert, brauch ich wohl nicht zu beantworten. :shock:
Die Antwort wissen ja auch nur wenige. Und wer Näheres weiß, hält mit Auskünften zurück. Dass Schulz nicht um die Zusammenhänge weiß, kann man nicht im Ernst annehmen...
Das ist falsch. Jeder, der sich mit dem Thema Lohn+Gehalt und den daraus folgenden Sozial- und Steuerabgaben beschäftigt, weiß, worum es geht. Das ist kein Geheimnis.

Das weiß auch Martin Schulz. Allerdings hat er das Problem, dass seine Partei immer noch die alte klassenkämpferische Arbeiterpartei pflegt, obwohl sich die Arbeitswelt und mit ihr die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt hat. Und so nimmt man in Kauf, das man gerade diejenigen schröpft, deren Wohl man sich doch eigentlich auf die Fahnen geschrieben hat.

Die SPD stand mal für die moderne, für den Fortschritt. Das ist leider vorbei. Den anderen Parteien geht es nicht anders, allerdings sind diese nicht in einer falsch verstanden Tradition gefangen.
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#64 Re: Merkel oder Merkel?

Beitrag von ThomasM » Mo 4. Sep 2017, 12:39

Novalis hat geschrieben:
ThomasM hat geschrieben:Dass die Linke Bürgerrechte verteidigen ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?
:) ich zitiere:

Die Bürgerrechte als Freiheits- und Abwehrrechte sind notwendiges Misstrauen in den Staat ...
Quelle: linksfraktion.de
Und warum zitierst du nicht aus anderen Thesenpapieren der Linken?
Ich gebe gerne zu, dass ich beim Thema Überwachung mit den Linken übereinstimme, weil ich der Meinung bin, dass Freiheit seinen Preis hat.

Aber es gibt unzählige andere Themen, wo die Linken die Bürgerrechte zerstören, von Besteuerung über Rentensystem über Militär und Geheimdienst usw. usw.

Bei der Wahl kann ich mir leider nicht aussuchen, welche These der Partei umgesetzt wird.
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#65 Re: Merkel oder Merkel?

Beitrag von Novas » Mo 4. Sep 2017, 12:43

piscator hat geschrieben:Die alte klassenkämpferische Arbeiterpartei

Vielleicht braucht es die? ;) schließlich gibt es auch einen Klassenkampf von oben. Um Didier Eribon zu zitieren:

Wenn man Klassen und Klassenverhältnisse einfach aus den Kategorien des Denkens und Begreifens entfernt, verhindert man aber noch lange nicht, dass sich alle kollektiv im Stich gelassen fühlen, die mit den Verhältnisen hinter diesen Wörtern objektiv zu tun haben.

In Frankreich wählen solche unzufriedenen Menschen die rechtsextreme Front National, deren Wählerschicht aus der bürgerlichen Mittelschicht kommt, die von Abstiegsängsten geplagt werden und andererseits einer prekarisierten Unterschicht, die sich im Stich gelassen und entwürdigt fühlt.

piscator
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#66 Re: Merkel oder Merkel?

Beitrag von piscator » Mo 4. Sep 2017, 13:03

Novalis hat geschrieben:
piscator hat geschrieben:Die alte klassenkämpferische Arbeiterpartei
Vielleicht braucht es die? ;) schließlich gibt es auch einen Klassenkampf von oben.

Die SPD hatte es schon immer mit der Symbolik. Bei offiziellen Auftritten der SPD-Spitze erweckten die bei mir immer den Eindruck,
als wären sie gerade nach einer Doppelschicht aus der Zeche hochgefahren, hätten kurz geduscht, sich in den Anzug gezwängt und
dann schnell vors Mikrofon getreten. Da spürt man förmlich den Stallgeruch des hart arbeitenden Malochers in der Fabrik oder in der Grube.

Da ich selbst aus einer Arbeiterfamilie stamme, bin ich gegen diese Art der Propaganda weitgehend immun. Aber da wir nicht mehr in den Fünfzigern nach dem Krieg leben, die Gewerkschaften sich weiter entwickelt haben und durch ihre Arbeit zum Wohlstand *) auch der arbeitenden Bevölkerung mit verantwortlich zeichnen, frage ich mich, wem diese Symbolik eigentlich dienen soll.

*)Natürlich heißt das nicht, dass alles Bestens ist, es gibt genügend Baustellen, um die sich die Parteien und die Gewerkschaften samt AG-Verbänden kümmern sollten.
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#67 Re: Merkel oder Merkel?

Beitrag von Novas » Mo 4. Sep 2017, 13:20

Wie erklärst Du dir, dass die rechtsradikale Front National seit Jahren eine stetig wachsende Wählerschaft gewinnt? Le Pen hat sehr gute Chancen französische Präsidentin zu werden. Eribon sagt, dass es die Linken selbst gewesen sind, die sich ihrer Wählerschaft beraubt haben.

Die Schröders und Blairs, die mit ihrer Verbeugung vor dem Neoliberalismus die Grundsätze von Sozialismus und Sozialdemokratie verraten hätten. Die damit das Band zwischen der Arbeiterklasse und den linken Parteien zerschnitten hätten und den Raum frei machten, der dann von den Rechtsradikalen besetzt werden konnte.

Eribon sieht Le Pen nicht siegen

Eribon berichtet vom Phänomen der Deindustrialisierung, das ganzen Arbeiterregionen wie Nord-Pas-de-Calais das Gefühl des Abgehängtseins überstülpte. Kollektive Strukturen seien damit in sich zusammengefallen; Gewerkschaften als sozialer Rahmen ihres Sinnes beraubt worden. Eribon schreibt in seinem Buch, dass so viele Arbeiter vom linken Lager in das extrem rechte gewechselt seien, sei "politische Notwehr der unteren Schichten" gewesen

[...]

Eribon bezeichnet beide, Macron und Le Pen, als Paar. Und schiebt schnell hinterher: "Natürlich nicht als echtes." Doch beide würden sich gegenseitig bedingen. An entgegengesetzten Polen würden sowohl der "En Marche!"-Begründer als auch die Rechtsradikale ein und dasselbe System abbilden. Eben das System, in dem die Arbeiter ihre Interessen nicht mehr wiederfänden (Macron) und sich als Reaktion darauf, fremdenfeindlichen und nationalistischen Erklärungsmustern zuwendeten (Le Pen)..
Didier Eribon: "Wer Macron wählt, wählt Le Pen"

Bei uns scheint der selbe Prozess im Gange zu sein. Wen kann man da noch wählen? Die einzige ernstzunehmende Opposition ist die Linke, die im Gegensatz zur SPD ein klares Profil besitzt. Ich persönlich hätte auch nichts gegen eine sozialliberal eingestellte Partei, wie die Neuen Liberalen. Meine Hoffnung war ursprünglich, dass die Piraten diesen Platz einnehmen könnten.

https://www.neueliberale.org/grundsatzprogramm/

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#68 Re: Merkel oder Merkel?

Beitrag von ThomasM » Mo 4. Sep 2017, 13:43

Novalis hat geschrieben:Wie erklärst Du dir, dass die rechtsradikale Front National seit Jahren eine stetig wachsende Wählerschaft gewinnt? Le Pen hat sehr gute Chancen französische Präsidentin zu werden. Eribon sagt, dass es die Linken selbst gewesen sind, die sich ihrer Wählerschaft beraubt haben.
...
Bei uns scheint der selbe Prozess im Gange zu sein. Wen kann man da noch wählen? Die einzige ernstzunehmende Opposition ist die Linke, die im Gegensatz zur SPD ein klares Profil besitzt.
Ich habe eine Analyse gelesen, die dir nicht gefallen wird.
Die einzige ernstzunehmende Opposition sind die Linken und die AFD.
Weil diese als einzige Parteien so radikale Positionen vertreten, dass sie auch von außen von dem mittigen Einerlei unterscheidbar sind.

Aber es ist nun mal so, dass Extremisten immer nur einer Minderheit angehören. Wieso sollte man Extremisten wählen, nur um den einheitlichen Schmu der Parteien aufzubrechen. Geht es nicht auch anders?

Aber mir ist Schmu lieber, als mein Land von linken oder rechten Dogmatikern zerstören zu lassen.
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

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#69 Re: Merkel oder Merkel?

Beitrag von Novas » Mo 4. Sep 2017, 14:18

Die Linke als extrem zu bezeichnen ist ein sehr gutes Beispiel für Begriffsinflation :P

Rembremerding hat geschrieben:Zu beklagen ist ebenso eine "Begriffsinflation". Wer eine Meinung gegen Mainstream oder Kapitalismus vorbringt, mag früher ein politischer Gegner gewesen sein, heute ist man schnell ein "Terrorist". Als Beispiel sind die Klagen amerikanischer Ölkonzerne gegen Greenpeace zu nennen, deren Widerstand beim Pipelinebau in Alaska als "Terrorismus" angeklagt wird oder Erdogan, der jegliche Gegnerschaft sowie unbequeme Meinungen in den Terrorismus verbannt

Radikal ist die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), während die Linke einfach nur ein sozialdemokratisches Programm vertritt.

Aber mir ist Schmu lieber, als mein Land von linken oder rechten Dogmatikern zerstören zu lassen

Eine linke Opposition ist eher ein Zeichen für eine funktionierende Demokratie. Sorgen müssen wir uns, wenn es diese nicht mehr gibt.
Zuletzt geändert von Novas am Mo 4. Sep 2017, 14:23, insgesamt 1-mal geändert.

ThomasM
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#70 Re: Merkel oder Merkel?

Beitrag von ThomasM » Mo 4. Sep 2017, 14:21

Novalis hat geschrieben: Radikal ist die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), während die Linke einfach nur ein sozialdemokratisches Programm vertritt.
Dann ist die AFD auch nicht radikal, sondern wert-konservativ
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

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