piscator hat geschrieben:Wer glaubt, dass man Transferleistungsempfängern einfach nur Geld in die Hand geben muss, damit diese anfangen, ihr Leben in
den Griff zu bekommen, der ist naiv.
Das glaube ich auch schon. - Hypothetische Frage: Wie hätte sich ein heutiger Transferleistungsempfänger in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts verhalten?
Die Antwort kennen wir natürlich nicht. - Aber die Frage weist auf die Rolle einer allgemeinen Stimmung in der Gesellschaft hin, die Einfluss hat auf das Befinden des Einzelnen. - Ein Versuch:
In den 50ger Jahren waren die Erwachsenen froh, überlebt zu haben (ü-b-e-r-l-e-b-t-!!!). - Es war kein Krieg mehr, es ging aufwärts, man konnte sich satt essen (Wohlstandsbauch), man war froh, eine Wohnung zu haben, es warm zu haben, satt werden zu dürfen. - Jeder hatte Motivation zu arbeiten: Es geht aufwärts. - Es gab für die Masse so gut wie KEINEN Urlaub, es gab so gut wie KEIN TV, so gut wie KEIN Auto in der Familie, ein Telefonhäuschen gab es in jedem Ort (großer Fortschritt). - Gearbeitet hat man 2000 statt 1400 h pro Jahr. - Die REALE Kaufkraft war NIEDRIGER als bei einem heutigen Transferleistungsempfänger. - Großer Vorteil: Es ging kaum einem besser als dem anderen - man war nicht sozial ausgegrenzt, wenn man wenig hatte.
Diesem gesellschaftlichen Zusammenhalt und der zufriedenen Bedürfnis-Konzentration auf Fundamentales stehen heute in zweiter (!) Generation selbstverständliche Ansprüche nach Urlaub, TV, Auto, Handy und PC gegenüber - von modischen Anforderungen von Kind an (!) - gab es damals auch nicht - ganz abgesehen.
Das heißt unterm Strich: Damals konnte man sein Selbstwertgefühl mit weit weniger befriedigen als heute - oder knapp gesagt: Damals war man "Winner", heute ist man "Loser". - Und das macht es so schwierig. - Übergeordnet nennt man das "Dekadenz".
Neulich kam mal ein Film über den Flughafen FRA, in dem die dortigen "Heinzelmännchen" portraitiert wurden (Toiletten-Säuberer, Boden-Wischer, Brief-Dienst - also all die Jobs, die auf "unqualifizierter Ebene" im Hintergrund gemacht werden mussten). - Fast alle waren Ausländer, die ein freundliches Gesicht gehabt habe. ("Ja - bin froh für Job - wichtig, dass keine Bakterie in Klo - Familie freut sich für Geld - bin glücklich"). Sobald ein deutscher Name eingeblendet war, konnte man fast sicher sein, dass es sich um einen Übergewichtigen mit Loser-Gesichtsausdruck gehandelt hat. Die Alkoholiker hat man wahrscheinlich erst gar nicht gesehen.
Was kann der Übergewichtige mit Loser-Gesichtsausdruck dazu? - Wahrscheinlich sehr wenig. - Die Krankheit der Dekadenz hat eben auch die unteren gesellschaftlichen Ebenen erreicht. - Und da wirkt sie mehr als "oben", denn: Ein gerissener, intelligenter Mensch kann Dekadenz für sich nutzen - und damit oben bleiben.