War das europäische Mittelalter finster?

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Hemul
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#11 Re: War das europäische Mittelalter finster?

Beitrag von Hemul » So 5. Okt 2014, 22:58

Catholic hat geschrieben:Ich stelle das Thema hier rein,weil ich nicht weiss,wo es besser hinpassen könnte.
Meine Frage in die Runde:
War das europäische Mittelalter wirklich finster im Sinne von barbarisch,unkultiviert?
Ich beziehe mich hier auf die Epoche von ca.500 bis ca. 1500 n.Chr.!
Kommt ganz darauf an auf welcher Stufe der Gesellschaft man angesiedelt war. König u. Adel? :roll: Heißa-Juchhei.
Papst-Klerus? :roll: Ei-Dideldei. Handwerker-Bauer? :roll:
Der musste von früh bis spät schuften (starb oft schon mit 25) um die meist fettleibigen Herren am k....n zu halten. :thumbdown:
Zuletzt geändert von Hemul am So 5. Okt 2014, 23:05, insgesamt 1-mal geändert.
denn die Waffen, mit denen wir kämpfen, sind nicht fleischlicher Art, sondern starke Gotteswaffen zur Zerstörung von Bollwerken: wir zerstören mit ihnen klug ausgedachte Anschläge (2.Korinther 10:4)

2Lena
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#12 Re: War das europäische Mittelalter finster?

Beitrag von 2Lena » So 5. Okt 2014, 23:03

Closs, ein bisschen muss ich dich korrigieren, denn Deutschland war 500 Jahre lang, zusammen mit England und Frankreich "Rom". Das heißt, es gab die römische Verwaltung, die von den örtlichen Fürstentümmern übernommen wurde.

Closs: Am Anfang kein Staatswesen, dann den Aufbau eines Staates incl. Verwaltung und Schulwesen ab dem 8. Jh.

Durch die Zwangsumsiedelung der aufständischen Kelten und Germanen gab es kein Wissen mehr "von früher". Die Sprachen änderten sich. Die Völkerwanderung, Seuchen, Kriege vernichteten eine bestehende Welt. Eine verfinsterte Sonne (durch Katastrophen) brachte Hungersnöte und das "finstere" Mittelalter. Duster sah es nun auch mit den Sprachen aus. Latein verfiel zur toten Sprache. Griechisch wurde kaum gesprochen. Die Literatur verfiel. Hebräisch - vergiss es. Nur die wenigen Juden erhielten die alte Sprache als tote Schriftsprache.

Closs: Am Anfang gab es (nördlich der Alpen) kaum Städte (abgesehen von römischen Restbeständen in Frankreich und Süddeutschland), dann ein blühendes Städtewesen
Es stimmt, dass die Städtebezeichnungen auf erste römische Ansiedelungen zurückgehen. Andere machten sich nicht die Arbeit mit Archiven. Die Bevölkerung wuchs erst lange Zeit später an. Ich war schockiert in den Archiven vor zweihundert Jahren in manchen Jahren mehr Todesfälle als Geburten zu lesen. Kinder erreichten meist nicht mal das erste Lebensjahr. Oft wurden sie gar nicht registriert. Ob die Städte "blühten" oder ein Krebsgeschwür wurden, darüber lässt sich angesichts verfallender Industriekomplexe, maroder Abwasserkloaken und Luftverpestung durch Massenverkehr in heutiger Zeit wirklich streiten. Wer weiß, ob die Leute später das als "schrecklich rückständische Zeit" bezeichnen werden.

Closs: Am Anfang gab es so gut wie keine Naturwissenschaft - hier gab es insgesamt wenig Entwicklung.
Hier verschätzt du dich. Alle "Erfindungen" mit Mathematik, Astronomie, Metallurgie, Webkunst, Schiffsbau, Gesetzeswesen gab es bereits Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende vor Christus. Kalenderberechnungen, wie sie in Bauwerken in Ägypten zu sehen sind, zeigen solche Kenntnisse, wie auch Stonehenge und ebensolche Kalender in Rumänien. Nur, die waren lange nicht mehr erklärbar. Das machte das "finstere Mittelalter" aus. Dazu die Verfolgung der "Heiden" - durch den etwas schräg gewordenen Bibeleifer. Dadurch ist eine Menge an Heilkunst und Naturwissen verloren gegangen. Scheiterhaufen brannten.

Am Anfang gab es durchaus philosophische/theologische Großtaten (Boethius, Augustinus, etc. - VOR 500 n.Chr.) - dieses geistige Wirken versackte in den Völkerwanderjahren und in den Aufbaujahren - dann spätestens ab dem Hochmittelalter gab es Sternstunden der Geistes-Geschichte (man denke nur an die Deutsche Mystik).
Am Anfang - da stand das Wissen um Gott und ein volles Bewusstsein. Man kümmerte sich durch gewaltige Katastrophen, verheerende Fehler und unendliche Jahre kaum mehr um diese Überlieferung, erneuerte aber von Zeit zu Zeit die wenigen Kenntnisse. Zu Jesu Zeiten war so etwas geschehen. Dieser "Philosophiestoff" wurde vergessen und der Glauben rückte an die Stelle. Ich sage nicht, dass der Glauben verkehrt ist. Es ist halt ein Unterschied, ob einer glaubt, dass es eine Ausbildung gibt oder ob er sie tatsächlich und bewusst mitführt.

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#13 Re: War das europäische Mittelalter finster?

Beitrag von closs » So 5. Okt 2014, 23:04

Pluto hat geschrieben:Die Kirche hatte das Bildungsmonopol, und bestimmte somit de facto wer zur Intelligenz der damaligen Zeit gehören durfte.
Das ist etwas einseitig formuliert. - Es wäre vielleicht darauf hinzuweisen, dass man nur im Kloster überhaupt Wissen finden konnte - und dort waren halt nur Menschen, die dann auch Klostermitglieder waren.

Das änderte sich mit Karl dem Großen, der so etwas wie den Beginn eines"staatliches Schulwesen" geschaffen hat - aber das konnten auch nur Mönche umsetzen. - Denn die Ritter hatten anderes zu tun - und die Bauern auch - und die Händler auch - und sonst gab es kaum etwas. - Es gab übrigens auch sehr wenig Menschen - also wenig Möglichkeiten für jegliche Infrastruktur.

Universitäten gibt es erst seit dem 14.Jh. - es gab dann Städte, die die Infrastruktur dazu leisten konnten.

Pluto hat geschrieben:die Menschen in ein erdrückendes feudales System gezwängt
Das waren die Vorläufer dessen, was später Staats-Systeme waren - weder gut noch schlecht, sondern Mittel der Wahl in einem Land, das nicht aus einem durchgehenden Staatswesen bestand, sondern aus (fast-)souveränen großen und kleinen Herren - übrigens bis zu Napoleon. - Insofern hat dieses System die gesamte historische Aufklärung überlebt.

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#14 Re: War das europäische Mittelalter finster?

Beitrag von closs » So 5. Okt 2014, 23:21

2Lena hat geschrieben: Das heißt, es gab die römische Verwaltung, die von den örtlichen Fürstentümmern übernommen wurde.
In vorher römisch besetzten und infrastrukturell bearbeiteten Gegenden mag das gut sein - nur: "Deutschland" war das zum größten Teil nicht.

Im übrigen habe ich "Rom" genannt in Bezug auf die Kaiserkrönung Karls des Großen, der europaweit so machtvoll geworden war, dass er als Schutzherr Roms geeignet erschien. - Wenn ein "Deutscher" im frühen Mittelalter nach Rom kam, darf man sich das so vorstellen, wie wenn heute ein Jakute nach New York kommt.

Überhaupt gefällt mir der Vergleich "Jakutien" mit dem (transalpinen) europäischen Mittelalter sehr gut: Riesenland, total unterbevölkert - und jetzt macht da mal eine Zivilisation draus. - Und da war eben die triebfeder das Christentum - wäre das Land arabisch gewesen, wäre es das geworden, was man später "Islam" genannt hat.

2Lena hat geschrieben:Hier verschätzt du dich. Alle "Erfindungen" mit Mathematik, Astronomie, Metallurgie, Webkunst, Schiffsbau, Gesetzeswesen gab es bereits Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende vor Christus.
Ich sprach von Naturwissenschaft im (frühen) Mittelalter - das war (meine ich zumindest) wie in "Jakutien".

2Lena hat geschrieben:Es ist halt ein Unterschied, ob einer glaubt, dass es eine Ausbildung gibt oder ob er sie tatsächlich und bewusst mitführt.
Das ist generell ein Problem - deshalb stört es mich so, wenn Glaube als Entscheidungs-Größe dargestellt wird. - Denn das ist eigentlich schwach - richtig sollte sein: Erkenntnis-Größe.

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#15 Re: War das europäische Mittelalter finster?

Beitrag von Pluto » So 5. Okt 2014, 23:25

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Die Kirche hatte das Bildungsmonopol, und bestimmte somit de facto wer zur Intelligenz der damaligen Zeit gehören durfte.
Das ist etwas einseitig formuliert. - Es wäre vielleicht darauf hinzuweisen, dass man nur im Kloster überhaupt Wissen finden konnte - und dort waren halt nur Menschen, die dann auch Klostermitglieder waren.
Kommt doch letztlich auf dasselbe hinaus.

closs hat geschrieben:Das änderte sich mit Karl dem Großen, der so etwas wie den Beginn eines"staatliches Schulwesen" geschaffen hat - aber das konnten auch nur Mönche umsetzen.
Das war der "Schönheitsfehler" der karolingischen Bildungsrform. Das Wissen blieb hinter den Mauern der Klosterschulen.
Die damalige Bildungsreform kam bei den Bürgern NIE an.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#16 Re: War das europäische Mittelalter finster?

Beitrag von closs » So 5. Okt 2014, 23:29

2Lena hat geschrieben:Ich gehe noch weiter und behaupte,dass wir heute ohne die Kirche deutlich weniger wüssten.
NAtürlich wäre das so - wir wären um Jahrhunderte zurück - es sei denn, Europa wäre arabisch geworden. - Dann hätte der Fortschritt vergleichbar werden können (allerdings nicht vom Inhalt her).

Man sollte einiges sehr, sehr praktisch sehen: Es gab Rom als Zentrale - alle Klöster waren Rom unterstellt - man hatte also eine Infrastruktur, die zentral gelenkt war, was damalige Staaten eben gerade NICHT leisten konnten.

Außerdem stand hinter dem christlichen Rom natürlich auch Wissen des Römischen Reichs - wobei man das auch nicht überschätzen sollte - denn Rom war im frühen Mittelalter ziemlich runtergekommen. - Aber es war trotzdem etwas da - und wenn es nur in den Archiven war.

Im Grunde war das Christentum das bereits bestehende Gerüst, an dem sich die europäischen Staaten hochbauen konnten. - Als das Staatswesen dann stark genug war, gab es zunehmend Stress mit der Kirche - das ist normal.

Mit spezifischen Glaubensinhalten des Christentums hat das alles erst einmal wenig zu tun - hier geht es in erster Linie um europaweite Infrastruktur (auch sprachlich - von Riga bis Santiago de Compostella sprach man unter Gebildeten in Latein!!).

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#17 Re: War das europäische Mittelalter finster?

Beitrag von closs » So 5. Okt 2014, 23:34

Pluto hat geschrieben:Das war der "Schönheitsfehler" der karolingischen Bildungsrform. Das Wissen blieb hinter den Mauern der Klosterschulen. Die damalige Bildungsreform kam bei den Bürgern NIE an.
Auch Mönche waren "Bürger", also Reichs-Mitglieder. - So wie Professoren ebenfalls Bürger sind, obwohl sie nur hinter den Universitäts-Mauern lehren.

Unabhängig davon: Wie hätte es anders gehen sollen? - Man war doch froh, mit den Klöstern wenigstens einige Gebäude aus Stein zu haben. - Diese Gebäude gab es auch beim Kaiser - aber meist mit militärischer Funktion. - Karl der Große war rumedum zwei Drittel seiner Zeit unterwegs - mit Zwischenpausen in seinen "Chalets" namens "Pfalzen". - Und der Tross war mit ihm. - Wo sollten da noch ansässige Gebildete sein? - Im Kloster - richtig.

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#18 Re: War das europäische Mittelalter finster?

Beitrag von Pluto » Mo 6. Okt 2014, 00:03

closs hat geschrieben:Auch Mönche waren "Bürger", also Reichs-Mitglieder. - So wie Professoren ebenfalls Bürger sind, obwohl sie nur hinter den Universitäts-Mauern lehren.
Der Punkt ist, die karolingische Bildungsreform erreichte nur die geistliche Fraktion. Sie schaffte es nicht über die Klostermauern hinweg, beim Volk anzukommen.

closs hat geschrieben:Wo sollten da noch ansässige Gebildete sein? - Im Kloster - richtig.
Mein' ich doch! :)
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#19 Re: War das europäische Mittelalter finster?

Beitrag von closs » Mo 6. Okt 2014, 08:14

Pluto hat geschrieben:Der Punkt ist, die karolingische Bildungsreform erreichte nur die geistliche Fraktion. Sie schaffte es nicht über die Klostermauern hinweg, beim Volk anzukommen.
Das stimmt, klingt aber aus Deinem Mund so, als wäre es anders möglich gewesen, wenn man nur gewollt hätte. - Es wäre aber nicht möglich gewesen.

Denn Dein Satz mutet so an, als würde man sagen: Universitäre Bildung schaffte es nicht, über die Universität hinaus beim Volk anzukommen. - In anderen Worten: Eine "säkulare" Infrastruktur gab es nicht und konnte es nicht geben, bis im Hoch- und vor allem Spätmittelalter die Anzahl der Bevölkerung und deren allgemeiner (aus den Klöstern heraus ermöglichte) Bildungsstand groß genug waren - und das geschah ja dann auch.

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#20 Re: War das europäische Mittelalter finster?

Beitrag von Pluto » Mo 6. Okt 2014, 10:02

closs hat geschrieben:Denn Dein Satz mutet so an, als würde man sagen: Universitäre Bildung schaffte es nicht, über die Universität hinaus beim Volk anzukommen. - In anderen Worten: Eine "säkulare" Infrastruktur gab es nicht und konnte es nicht geben, bis im Hoch- und vor allem Spätmittelalter die Anzahl der Bevölkerung und deren allgemeiner (aus den Klöstern heraus ermöglichte) Bildungsstand groß genug waren - und das geschah ja dann auch.
Das ist gut formuliert! :thumbup:

Wenn man sieht, dass die erste Uni im 15. Jahrhundert (Bologna) gegründet wurde, diese aber immer noch unter der Aufsicht der Kirche stand, sollte klar sein, dass während der meisten Zeit des Mittelalters, "Bildung fürs Volk" keine Wirklichkeit war. Echte Bildung nahm erst im 17. Jahrhundert Fahrt auf, wurde aber immer wieder durch Kriege gestört.

War also das europäische Mittelalter "finster" in Bezug auf Bildung und Entwicklung?
Meine Antwort ist ein klares JA. Es war eine Zeit des Stillstands der Zivilisation.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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