Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

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closs
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#51 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von closs » Sa 25. Apr 2015, 21:47

ThomasM hat geschrieben:Aber eine mehr objektive Möglichkeit - und sei es nur ein Ansatz für eine Methode - fände ich schon gut.
Gut - das wäre die Hermeneutik nach Friedrich Ast (kenne keine bessere danach) - ein aus meiner Sicht guter Ansatz aus wik:



„Wenn wir nun aber den Geist des gesamten Altertums nur durch seine Offenbarungen in den Werken der Schriftsteller erkennen können, diese aber selbst wieder die Erkenntnis des universellen Geistes voraussetzen, wie ist es möglich, da wir immer nur das eine nach dem anderen, nicht aber das Ganze zu gleicher Zeit auffassen können, das Einzelne zu erkennen, da dieses die Erkenntnis des Ganzen voraussetzt? Der Zirkel, dass ich a, b, c usw. nur durch A erkennen kann, aber dieses A selbst wieder nur durch a, b, c usf., ist unauflöslich, wenn beide A und a, b, c als Gegensätze gedacht werden, die sich wechselseitig bedingen und voraussetzen, nicht aber ihre Einheit anerkannt wird, so dass A nicht erst aus a, b, c usf. hervorgeht und durch sie gebildet wird, sondern ihnen selbst vorausgeht, sie alle auf gleiche Weise durchdringt, a, b, c also nichts anderes als individuelle Darstellungen des Einen A sind. In A liegen dann auf ursprüngliche Weise schon a, b, c; diese Glieder selbst sind die einzelnen Entfaltungen des Einen A, also liegt in jedem auf besondere Weise schon A, und ich brauche nicht erst die ganze unendliche Reihe der Einzelnheiten zu durchlaufen, um ihre Einheit zu finden.“

– Friedrich Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik


Heidegger sagt im Grunde etwas Ähnliches (aber halt auch kein modern Sprech):

„Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein.“

– Martin Heidegger

Aber ob solche Sachen Deinem Ruf nach "Objektivität" gerecht werden, steht auf einem anderen Blatt. - Und noch ein Problem: Hermeneutik (im obigen Sinne) ist eigentlich nur möglich, wenn man Platoniker oder "Realist" im Sinne des Universalienstreits ist. - Genau dies ist aber in unserer Zeit vollkommen out.

Ich weiss da auch keinen Ausweg. - Wahrscheinlich muss man auf die nächste aufstrebende Kultur warten, die sowas wieder versteht. - Im Westen wird es diesbezüglich wohl nichts Neues geben.

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Savonlinna
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#52 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Savonlinna » Sa 25. Apr 2015, 23:20

Pluto hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Man bricht ein Element aus dem großen Zusammenhang heraus (so drückt es Savonlinna treffend aus) und bearbeitet es methodisch wirklich so gut, dass auch ein naturwissenschaftlicher Methodiker zustimmend nicken könnte. - Das Problem ist ein anderes: Der Zusammenhang wird gar nicht mehr erkannt (zumindestens meistens) - man baut sich seine sauberen Plätzchen in der Peripherie, die Substanz bleibt unbesetzt.
Savonlinna sprach von "Netzen" die man auswirft. Das ist eine sehr gute Metapher für das naturwissenschaftliche Vorgehen.
Ich habe diese Metapher allerdings benutzt, um zu zeigen, dass man nur das fängt, für das man das Netz ausgerichtet hat.
"Netz" ist ein anderes Wort für "Modell", darin zumindest sind wir drei oder vier, die jetzt darüber diskutieren, offenbar einig.
Ich kann auch sagen: "Schablone".
Ich kann also nur das "fangen", für das ich meine Schablome, mein Modell, gebaut habe. Werfe ich diese Schablone in den Teich, werde ich eine Menge nicht fangen.
Werde also mit dieser Methode nie erfahren, welche anderen Tiere außerdem noch im Teich sind und in welchem Verhältnis sie zueinander und zu dem Rest der Welt stehen.

Wer das naturwissenschaftliche System verstanden hat, wird von der Naturwissenschaft nichts fordern, was nicht ihr Gebiet ist. Ihre Selbstbeschränkung ist der Grund für ihren Erfolg. Gräbt man ihr das Wasser ab mit "Verwässerung" - :D -, würde sie rasch unbedeutend werden. Ihre Stärke ist ihre strenge Methodik.

ThomasM hat geschrieben:Das angesprochene Problem ist, dass das Große und Ganze aus den Augen verloren geht.
Auf Dein längeres post werde ich ein andermal antworten, muss da noch drüber nachdenken.

Nur aber zu Deinem obigen Satz:
Ja, genau das war das von uns formulierte Problem.

ThomasM hat geschrieben:Ich weiß, dass das Große Ganze außerhalb der Möglichkeiten der Naturwissenschaft liegt.
HIer trabst bei mir irgendein Gedanke heran. Den kann ich noch nicht ausformulieren, aber vielleicht andeuten: Es ist nicht unbedingt die Quantität, die das Große Ganze ausmacht.
Ich weise nur mal auf die sog. Mandelbrot-Menge hin, mit der ich mich allerdings bisher äußerst unzulänglich beschäftigt habe.
Sie weist auf ganz andere Zusammenhänge hin als auf die Addition von Einzeluntersuchungen.

ThomasM hat geschrieben:Das, was mich bislang enttäuscht hat, sind die Methoden derjenigen, die behaupten, es in den Fokus zu nehmen, sei es das Über-Bewusstsein von Novalis, sei es der ewige Setzungs-Rückzug von closs. Ich habe einen subjektiven Weg gefunden, mit diesem Mangel umzugehen.
Aber eine mehr objektive Möglichkeit - und sei es nur ein Ansatz für eine Methode - fände ich schon gut.
Ich kann diese Enttäuschung gut nachvollziehen, finde es außerdem auch nicht aussichtslos, eine mehr "objektive" Möglichkeit zu finden für das Gesuchte, die den Weg der Wissenschaft nicht verlassen muss.

Bin der Meinung, dass es dafür auch schon so einige Ansätze gibt, die im Forum hier auch schon erwähnt wurden: Noam Chomsky's Ansatz zum Beispiel. Andere werde ich demnächst noch nennen bzw. etwas ausführen.

Darum gebe ich closs ->
closs hat geschrieben:Aus meiner Sicht besteht die Krise der Geisteswissenschaften in einer Verwissenschaftlichung, die nicht am Anfang stehen dürfte, sondern am Ende führen müsste. - Man lässt ganz einfach die Hauptsache aus und sagt dann: "Ich bin Akademiker". :devil:
da sowohl wahrscheinlich Recht als auch wahrscheinlich nicht. :)

Es gibt eine falsch verstandene Wissenschaft, keine Frage.
Darum sitzen wir ja hier und untersuchen, wie Wissenschaft sich selbst versteht und wann sie ihre Grundprinzipien aufgibt.
Meinem Verstehen nach aber lässt sich Wissenschaft nutzen, um genau dem näher zu kommen, was mit "das Große Ganze" nur sehr unzureichend beschrieben ist.

Es gibt zum Beispiel seit längerem die "Ökologie", die der rein naturwissenschaftlich orientierten Biologie etwas entgegenzusetzen. Man begann, organisch zu denken; also in Zusammenhängen. Das sind gute Anfänge.
Das rein analytische Denken - zerlegen, Einzelteile untersuchen, wieder zusammenbauen: das scheint mir seit längerem out. Ich werd versuchen, dafür ein andermal Beispiele zu finden.

Und nun noch ein "ad homines":
Ich finde es wunderbar, dass zumindest ein paar User hier im Forum sind, die "auf dem Weg sind" mit ihren Fragen und nicht schon fertig.

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#53 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Pluto » So 26. Apr 2015, 00:04

Savonlinna hat geschrieben:Ich habe diese Metapher allerdings benutzt, um zu zeigen, dass man nur das fängt, für das man das Netz ausgerichtet hat.
"Netz" ist ein anderes Wort für "Modell", darin zumindest sind wir drei oder vier, die jetzt darüber diskutieren, offenbar einig.
Ich kann auch sagen: "Schablone".
Ich kann also nur das "fangen", für das ich meine Schablome, mein Modell, gebaut habe. Werfe ich diese Schablone in den Teich, werde ich eine Menge nicht fangen.
Werde also mit dieser Methode nie erfahren, welche anderen Tiere außerdem noch im Teich sind und in welchem Verhältnis sie zueinander und zu dem Rest der Welt stehen.
Die Metapher des Netzes ist wirklich gut. :thumbup:
Am Anfang steht in der Naturwissenschaft meist ein recht grobes Modell. Wenn die Theorie nicht ganz mit den Beobachtungen übereinstimmt, muss man das Modell verfeinern.
Ein Beispiel aus der Physik gab ich dir bereits. Wenn du mehr Beispiele brauchst, sag Bescheid.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#54 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Savonlinna » So 26. Apr 2015, 14:03

Hallo,

ich mache jetzt mal da weiter, wo ich mit der Beantwortung des posts von Thomas vom Sa 25. Apr 2015, 17:30 aufgehört habe.
Und mir liegt ebenfalls daran, dass dieses so interessante Threadthema nicht unterlaufen wird mit Themen, die ohnehin in jedem Thread drankommen. Das Threadthema untersucht die Parallelen zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft. Und damit natürlich auch die Unterschiede, aber eben auch das Gemeinsame.

Teil 1

ThomasM hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Mein „Unbehagen“ oder „ungutes Gefühl“ jedenfalls betrifft das Herausbrechen bzw. Isolieren eines Elementes aus dem Zusammenhang, ohne dass dieser Zusammenhang mit in die Untersuchung eingeht.
Meine Frage:
Ist das nicht eine wesentliche Eigenschaft der Wissenschaft und tun das die Geisteswissenschaftler nicht auch ständig?
Ganz sicher bin ich nicht, wie Du Deine Frage gemeint hast. Fragst Du, ob es eine wesentliche Eigenschaft der Wissenschaft sei, den Zusammenhang nicht mit in die Untersuchung eingehen zu lassen, oder gerade, ihn mit eingehen zu lassen?

Wie auch immer: in der Literaturwissenschaft und in der Sprachwissenschaft ist der Zusammenhang existentiell. Er kann nicht ignoriert werden.
Ich führe mal als Beispiel die Sprachtheorie von Ferdinand de Saussure an, die dermaßen eingeschlagen hat, dass fast alle Geisteswissenschaften sich davon haben befruchten lassen, möglicherweise auch einige Naturwissenschaften, aber letzteres müsste ich erst recherchieren.

Kurz hinzufügen muss ich, dass de Saussure nur in Mitschriften seiner Studenten überliefert ist, wo sich später herausgestellt hat, dass nicht alles auf de Saussure selber zurückgeht. Darum bezeichne ich mit "de Saussure" jetzt bequemerweise das, was so stark gewirkt hat, auch wenn es irrtümlicherweise auf einen anderen Autor zurückzuführen wäre.

Ich nehme das Beispiel, das "de Saussure" als Beispiel für das "System Sprache" benutzt hat: das Schachspiel.
Das Schachspiel ist ein System, in dem die Einzelteile nicht durch die Materialität definiert sind, sondern durch ihre Funktionen.
Dem Läufer wurden bestimmte Funktionen zugewiesen, aber ich kann die sinnlich erfahrbare Figur des Läufers auch durch ein Stück Holz mit einer bestimmten Farbe ersetzen, und das Spiel funktioniert trotzdem.

Damit wurde die bisherige Sprachwissenschaft, die rein diachronisch betrieben wurde - wie hat sich etwas im Laufe der Zeit verändert -, durch eine synchrone Betrachtungsweise ergänzt - wie funktioniert ein Einzelaspekt funktional innerhalb des Sprachsystems.

Dadurch kommt in den Blick, was bisher außen vor gelassen wurde: wie funktioniert Sprache.
Zum Beispiel funktioniere sie so, dass sie binär arbeite:
schwarz/weiß, gut/böse, müde/nicht müde, tot/nicht-tot etc.
Dies wurde von einigen darauf aufbauenden Sprach- und Kulturwissenschaftlern als Teil unserer Geistesstruktur angenommen: unser Geist könne nicht anders, als in Gegensatzpaaren zu denken; dies liege nicht in den Dingen, sondern in unserer mentalen Wahrnehmung und Klassifizierung.

Verändere ich also mein Verstehen von "böse", verändere ich automatisch mein Verstehen von "gut".
Letztlich kann ich innerhalb eines - meist unbewusst benutzten - synchronen Sprachsystems keinen Einzelbegriff ändern, ohne dass das Auswirkung auf andere Bedeutungsträger, also Begriffe, hat.

Die synchrone Sprachanalyse hat eine Art Baumstruktur entwickelt, in der diese "Tiefenstruktur" der Sprache - die Beziehung der Einzelteile zueinander innerhalb eines Systems - beschrieben wird.

Kulturwissenschaftler fassten "Sprache" etwas allgemeiner und zeigten auf, dass auch eine Kultur eine "Tiefenstruktur" hat.

Diese Grundideen hatten mehr oder weniger Einfluss auf sämtliche Kulturwissenschaften, wurden weiterentwickelt etc.
Damit kann ich aber natürlich nicht widerlegen, dass es einzelne Geisteswissenschaftler gibt, die so tun, als würden Einzelteile unabhängig vom Ganzen existieren und wären als solche verstehbar.

ThomasM hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Was ich an dieser „Methode“ ablehne, ist: dass man ein Netz über ein Werk wirft und das einfängt, was dem entworfenen Modell entspricht. Alles andere geht durch das Netz durch, wird automatisch aussortiert. Was also theoretisch gegen die Bejahung der gestellten Frage spräche, kommt gar nicht in den Blick.

Und da vor allem das nicht, was auch ein Wesen von dichterischen Werken ist: dass sie sich durch innere Zusammenhänge auszeichnen. Kein Element des Werkes ist als isoliertes Element beschreibbar, es ist immer Teil eines Gefüges.
Kannst du deinen letzten Satz begründen oder gar beweisen?
Abgesehen von oberen Ausführungen meinerseits:

Nehme ich mal den Krimi. Der hat ja schon von Haus aus eine gewisse Struktur: ein Mörder muss her, ein Ermordeter, ein Aufklärer des Mordes.
Die drei bedingen einander, der eine macht ohne den anderen keinen Sinn.
Auch die Charakterisierungen der drei bedingen einander: ist der Aufklärer - sagen wir mal, Sherlock Holmes - besonders klever, macht es mehr Lesespaß, wenn auch der Mörder besonders klever ist.
Das Krimigenre - das System - bedingt also die Auswahl der Charaktere.
Und umgekehrt: analysiert man die Beziehungen der Figuren untereinander, kann man erschließen, welche Art des Krimigenres hier vorliegt.

Zweites Beispiel: Goethes "Faust".

Die beiden Hauptfiguren Faust und Mephisto sind unabhängig voneinander gar nicht zu verstehen. Nur beide zusammen machen das aus, was das Werk transportiert: dass Faust auch eine mephistophelische Seite hat, gegen die er ankämpft.

Dann kommt Gretchen ins Spiel: von Mephisto instrumentalisiert, um in Faust sinnliches Begehren zu wecken und ihn von seinem Erkenntnistrieb "zu befreien". Das gelingt teilweise, aber Mephisto hat nicht damit gerechnet, dass Liebe zwischen den beiden entsteht.
Die Gretchen-Figur also ist innerhalb des literarischen Konzeptes diejenige Figur, die wie ein Katalysator die inneren Konflikte Fausts sowohl zuschärft als auch klärt.

Im Übrigen ist das Einbeziehen des Zusammenhanges auch in den Gesellschaftswissenschaften so, und vielleicht sollte man auch die in die Diskussion einbeziehen, weil sie den Naturwissenschaften in dem Punkt ähnlicher sind, wenn sie etwas untersuchen, das nicht "fiktiv" ist.

Nehmen wir einen "Schwerverbrecher", der im Gefängnis einsitzt und akzeptiert hat, dass er an Gruppentherapie teilnimmt. Das heißt, er möchte weg von seinen zwanghaften Aggressionen, die immer wieder zu Schwerstverletzungen anderer geführt haben.
Solche Therapien beziehen den Gesamtzusammenhang dieser Einzelperson zu Systemen wie "Familie", "Gesellschaft", "Kultur" ein.
Aber auch hier werden selbstverständlich - wie Du, Thomas, es in den Naturwissenschaften beschreibst - "Modelle" von Familie, Gesellschaft, Kultur benutzt. Anders geht es auch gar nicht. Man kann alle drei nicht objektiv erfassen, sondern immer nur in Abbildung unter bestimmter Perspektiven.

Und die Modelle erweisen sich dann als "tauglich", wenn der Verbrecher sich von seinen Zwängen lösen kann.
Allerdings werden diese Modelle nie einfach nur "definiert", sondern sie entstehen bereits durch Erfahrung.
Man kann beobachten, nur als Beispiel, dass viele Verbrecher sich an gewissen gesellschaftlichen Zwängen reiben, zum Beispiel an hierarchischen Strukturen der Berufswelt. Da besteht also schon mal eine Beziehung, die in das "Modell Gesellschaft" eingehen wird.

Allerdings ist das innere Gefüge eines Schwerverbrechers dermaßen komplex, dass ein einziges Modell nicht ausreicht. Ein Familienmodell muss hinzutreten, aber auch ein innerpsychisches. Denn nicht jeder schlägt ja Leute zum Krüppel, wenn er in der Familie Hass entwickelt hat.

Die Modelle entstehen also aus dem ständigen Wechsel von "die Tiefenstruktur einer Gesellschaft herausfinden" und der Korrektur dieser Tiefenstruktur durch Erfahrung, Empirie.

- Teil 2 folgt
Zuletzt geändert von Savonlinna am So 26. Apr 2015, 14:59, insgesamt 4-mal geändert.

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#55 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Savonlinna » So 26. Apr 2015, 14:04

Teil 2

ThomasM hat geschrieben:Dass man etwas auslässt, wenn man nur einen Aspekt in das Blickfeld nimmt, sollte jedem ernsthaften Forscher klar sein. In der Naturwissenschaft spielt hier der Begriff der "Näherung" die entscheidende Rolle. Dort hat man den Vorteil, dass man über ein Experiment herausfinden kann, ob eine Näherung gut ist.
In obigem Beispiel ist es die Einsicht und die Veränderung des Verbrechers, die zeigen können, ob die gewählten Modelle gut waren, also sich der Realität des Verbrechers angenähert haben.

Es gibt aber auch Beispiele, wo ein Modell ebenfalls funktioniert, dennoch verwerflich ist. Das liegt dann daran, dass man nur ein einziges Modell genommen und den Gesamtzusammenhang ignoriert hat. ->

Mein Beispiel stammt aus dem Behaviorismus, in dem Fall der behavioristischen Psychologie und Pädagogik.
Der Behaviorismus war mal eine Weile en vogue, man hat damals auch die Referendare für Gymnasien in diesem Sinne ausbilden wollen.

Der Behaviorismus - ich hab damals ein Buch darüber gelesen - fragt sich zum Beispiel:
"Wie kann ich einen Säugling davon abbringen, am Daumen zu lutschen?"
Antwort durch den Behaviorismus:
"Wenn man dem Säugling jedesmal, wenn er den Daumen zum Lutschen Richtung Mund schiebt, auf diesen Daumen schlägt, wird er aufhören, am Daumen zu lutschen."
Das Experiment bewies also, dass man auf diese Weise das Daumenlutschen abgewöhnen kann.

Das ist ein grauenvolles Beispiel dafür, wie man Einzelphänomene aus dem Zusammenhang - des Menschen, der da am Daumen lutscht - reißt und Lösungen sucht, um dieses Einzelphönomen abzuschaffen, aber nicht berücksichtigt, dass das Schlagen von Säuglingen seelisch verletzt.

ThomasM hat geschrieben:aber um mal bei deinem Beispiel von Tolkien zu bleiben: Wenn man wüsste, dass Tolkien sehr katholisch gelebt hat und der Katholizismus eine wichtige Rolle bei ihm gespielt hat, dann ist es naheliegend, dass er diesen Aspekt seines Lebens in seinem Werk verschlüsselt hat und man damit womöglich auch eine Handhabe zum Verständnis des Werkes besitzt.
Wäre das so fernliegend?
Ja, es ist fernliegend.
Der schöpferische Prozess des Schreibens legt oft Dinge frei, die tief im Unterbewussten vorhanden sind.
Die Entscheidung im realen Leben, einer bestimmten Religion anzugehören, ist aber eine bewusste.
Es wurde öfter festgestellt, dass bewusste Weltbilder in den Werken unterlaufen wurden. So bei Bertold Brecht zum Beispiel, der ja in Westdeutschland wegen seiner kommunistischen Haltung eine Weile verboten war, bis man erfasste, dass seine Werke allgemeinmenschlicher Natur waren und keine Propaganda.

Propagandawerke gelten auch nicht als qualitative Dichtung.
Und - und das ist eine meiner Grunderkentnisse - keiner weiß, wie, in welcher Form ein Individuum "katholisch" ist, selbst wenn er regelmäßig in die Frühmesse geht. Niemand hat Einblick in die Psyche eines Menschen, und schon gar nicht, wenn er lange tot ist und man nur Texte zum Lesen hat.

Im Übrigen sind inzwischen weitere - nicht für die Öffentlichkeit bestimmte - Texte Tolkiens veröffentlicht worden, die starke Kritik an der Kirche formulieren.
Auch obengenannter Student denkt heute längst anders. Er hat begriffen, dass ein fanatischer Katholik etwas Katholisches rauslesen kann, was aber ohne diese Brille überhaupt nicht mehr katholisch aussieht.
Er ist ein Beispiel dafür, dass man die eigene (katholische) Brille ablegen kann - und weiterhin katholischen Glaubens bleiben kann.


ThomasM hat geschrieben:
ThomasM hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Wie ich sehe, müsste eigentlich auch die Naturwissenschaft zwischen "Methode" und "Deutung" unterscheiden.
Nicht also nur kommt das Persönliche in der Wahl des Forschungsthemas hinein - wo es ja auch hineinkommen darf -, sondern auch in der Reduzierung einer größeren Fragestellung auf eine andere, quantifizierbare und erforschbare.
In der Physik wird das inzwischen auch gemacht, auch wenn das noch lange nicht zu allen Menschen oder gar in andere Naturwissenschaften vorgedrungen ist.
Ausschlaggebend war hier die Quantenmechanik. Noch Einstein war ganz in der alten Denkweise verhaftet, in der die Methodik und die Deutung direkt koinzidiert haben. Die Objekte, die man physikalisch beschrieb, das waren auch die Objekte der Realität.
Die Quantenmechanik hat das zerstört. Bohr, Heisenberg und Weizäcker haben das erkannt. Sie haben die Methode (die Mathematik der Wellenfunktionen) und die Deutung (was esistiert in Realität) getrennt. Heutzutage hat man sogar teilweise den Anspruch aufgegeben, "die Realität" zu beschreiben.
Deswegen ist die Betonung des Wortes "Modell" so wichtig geworden, denn das beschreibt viel besser, was man macht, als das Wort "Theorie".
Das ist sowohl interessant als auch wichtig.
Ich weiß das mit der Quantenmechanik so in etwa: dass die Eigenschaften von Welle und von Teilchen je nach Perspektive zugeschrieben werden müssen.

Der "Realitäts"begriff ist, denke ich, in allen Wissenschaften schon längst in einem gewissen Sinne - im absoluten Sinne - aufgelöst. Es gibt aber unter Naturwissenschaftsfans eine Renaissance längst nicht mehr aktueller Ansichten, die ich auch in literarischen Foren beobachte, wo man literarische Methoden wieder aus dem Grab holt, die teilweise hundert Jahre alt sind und nach dem Zweiten Weltkrieg beerdigt worden waren.

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#56 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Pluto » So 26. Apr 2015, 15:33

Savonlinna hat geschrieben:Damit wurde die bisherige Sprachwissenschaft, die rein diachronisch betrieben wurde - wie hat sich etwas im Laufe der Zeit verändert -, durch eine synchrone Betrachtungsweise ergänzt - wie funktioniert ein Einzelaspekt funktional innerhalb des Sprachsystems.

Dadurch kommt in den Blick, was bisher außen vor gelassen wurde: wie funktioniert Sprache.
Zum Beispiel funktioniere sie so, dass sie binär arbeite:
schwarz/weiß, gut/böse, müde/nicht müde, tot/nicht-tot etc.
Dies wurde von einigen darauf aufbauenden Sprach- und Kulturwissenschaftlern als Teil unserer Geistesstruktur angenommen: unser Geist könne nicht anders, als in Gegensatzpaaren zu denken; dies liege nicht in den Dingen, sondern in unserer mentalen Wahrnehmung und Klassifizierung.
Mag sein, dass dies auf ausgesuchte Begriffe zutrifft, z. Bsp. tot u. lebendig oder schwanger u. nicht-schwanger, etc.
Aber schon bei den Farben bricht dieses Modell in sich zusammen: Es gibt duzende von unterscheidbaren Grautönen, und vermutlich hunderte von unterschiedlichen Farben.

Savonlinna hat geschrieben:Damit kann ich aber natürlich nicht widerlegen, dass es einzelne Geisteswissenschaftler gibt, die so tun, als würden Einzelteile unabhängig vom Ganzen existieren und wären als solche verstehbar.
Wie stellt man so was fest?
Tun diese Wissenschaftler nur so, oder können sie ihren Widerspruch untermauern?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#57 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Savonlinna » So 26. Apr 2015, 15:53

Pluto hat geschrieben: Aber schon bei den Farben bricht dieses Modell in sich zusammen: Es gibt duzende von unterscheidbaren Grautönen, und vermutlich hunderte von unterschiedlichen Farben.
Es bricht nicht in sich zusammen. Angenommen, ich nummeriere alle Grautöne - "Grau1", "Grau2" etc., dann gälte:
Entweder etwas ist "Grau1" oder "Nicht-Grau1".

Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Damit kann ich aber natürlich nicht widerlegen, dass es einzelne Geisteswissenschaftler gibt, die so tun, als würden Einzelteile unabhängig vom Ganzen existieren und wären als solche verstehbar.
Wie stellt man so was fest?
Tun diese Wissenschaftler nur so, oder können sie ihren Widerspruch untermauern?
Man stellt das an ihren Aufsätzen oder Büchern fest.
Was sie denken und meinen und können, ist nicht Untersuchungsfeld von Geisteswissenschaftlern.
Wir heben nicht ihre Schädeldecke und lugen hinein. ;)

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#58 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Pluto » So 26. Apr 2015, 18:52

Savonlinna hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben: Aber schon bei den Farben bricht dieses Modell in sich zusammen: Es gibt duzende von unterscheidbaren Grautönen, und vermutlich hunderte von unterschiedlichen Farben.
Es bricht nicht in sich zusammen. Angenommen, ich nummeriere alle Grautöne - "Grau1", "Grau2" etc., dann gälte:
Entweder etwas ist "Grau1" oder "Nicht-Grau1".
Ich glaube, hier liegt der Denkfehler.
Etwas dunkleres Grau kann man von hellerem unterscheiden. Darum geht es doch, und die vielen Farben werden wohl ganz ausgeblendet? Ich denke die Hypothese dass der Mensch nur binär denkt, ist damit falsifiziert.

Savonlinna hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Damit kann ich aber natürlich nicht widerlegen, dass es einzelne Geisteswissenschaftler gibt, die so tun, als würden Einzelteile unabhängig vom Ganzen existieren und wären als solche verstehbar.
Wie stellt man so was fest?
Tun diese Wissenschaftler nur so, oder können sie ihren Widerspruch untermauern?
Man stellt das an ihren Aufsätzen oder Büchern fest.
Was sie denken und meinen und können, ist nicht Untersuchungsfeld von Geisteswissenschaftlern.
Wir heben nicht ihre Schädeldecke und lugen hinein. ;)
Wer bestimmt eigentlich an Hand der Aufsätzen was Untersuchungsfeld der Geisteswissenschaften ist?
Handelt es sich nicht einfach um eine andere, ebenfalls wissenschaftlich untermauerte Meinung, die vielleicht manchen Sprachwissenschaftlern nicht in den Kram passt?

Irgendwie erinnert mich dieser Diskurs an die Debatte zwischen Lakoff und Chomsky um Generative Semantik oder Grammatik.
Letzten Endes hatten Beide Recht.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#59 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Savonlinna » So 26. Apr 2015, 20:37

Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben: Aber schon bei den Farben bricht dieses Modell in sich zusammen: Es gibt duzende von unterscheidbaren Grautönen, und vermutlich hunderte von unterschiedlichen Farben.
Es bricht nicht in sich zusammen. Angenommen, ich nummeriere alle Grautöne - "Grau1", "Grau2" etc., dann gälte:
Entweder etwas ist "Grau1" oder "Nicht-Grau1".
Ich glaube, hier liegt der Denkfehler.
Etwas dunkleres Grau kann man von hellerem unterscheiden. Darum geht es doch, und die vielen Farben werden wohl ganz ausgeblendet? Ich denke die Hypothese dass der Mensch nur binär denkt, ist damit falsifiziert.
Na ja - wie soll ich Dir auf die Schnelle die strukturale Sprachwissenschaft erklären?
Ich verstehe im Moment überhaupt Dein Problem nicht. Natürlich kann man ein dunkleres Grau von hellerem unterscheiden. Wer will das denn anzweifeln? Und es gibt Milliarden verschiedene Farbtöne.
Wo siehst Du denn da einen "Denkfehler"? Und wieso wird da was ausgeblendet?


Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben: Wie stellt man so was fest?
Tun diese Wissenschaftler nur so, oder können sie ihren Widerspruch untermauern?
Man stellt das an ihren Aufsätzen oder Büchern fest.
Was sie denken und meinen und können, ist nicht Untersuchungsfeld von Geisteswissenschaftlern.
Wir heben nicht ihre Schädeldecke und lugen hinein. ;)
Wer bestimmt eigentlich an Hand der Aufsätzen was Untersuchungsfeld der Geisteswissenschaften ist?
Verstehe auch hier kein Wort von dem, was Du fragst.
Fragen müssen Sinn machen.

Pluto hat geschrieben:Handelt es sich nicht einfach um eine andere, ebenfalls wissenschaftlich untermauerte Meinung, die vielleicht manchen Sprachwissenschaftlern nicht in den Kram passt?
Genau. Wir sind alle abidapak.
Oder anders ausgedrückt: Dada lebt!

ThomasM
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#60 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von ThomasM » So 26. Apr 2015, 21:03

Hallo Savonlinna

Es wird langsam ein wenig unübersichtlich. Ich habe auch nicht alle Punkte von dir verstanden. Ich gehe mal auf einen Punkt ein, der mir ins Auge gesprungen sind.
Savonlinna hat geschrieben:
ThomasM hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Mein „Unbehagen“ oder „ungutes Gefühl“ jedenfalls betrifft das Herausbrechen bzw. Isolieren eines Elementes aus dem Zusammenhang, ohne dass dieser Zusammenhang mit in die Untersuchung eingeht.
Meine Frage:
Ist das nicht eine wesentliche Eigenschaft der Wissenschaft und tun das die Geisteswissenschaftler nicht auch ständig?
Ganz sicher bin ich nicht, wie Du Deine Frage gemeint hast. Fragst Du, ob es eine wesentliche Eigenschaft der Wissenschaft sei, den Zusammenhang nicht mit in die Untersuchung eingehen zu lassen, oder gerade, ihn mit eingehen zu lassen?
In meinem obigen Post bezog ich mich darauf, sich auf ein isoliertes Element zu konzentrieren, also eben nicht gleich die Frage nach der Gesamtheit und dem Zusammenhang zu stellen.
Sondern eben isoliert und vereinzelt einen Aspekt herauszugreifen und zu untersuchen.

Das sehe ich als Teil der wissenschaftlichen Methode, weil es nur dann möglich ist, mit beschränkten Mitteln in beschränkter Zeit auch tatsächlich ein Ergebnis zu erzielen. Ich abstrahiere von bestimmten Merkmalen, ich berücksichtige bestimmte Eigenschaften nicht. Entweder bewusst, weil ich sie für nicht wichtig halte (oder postuliere) oder weil ich sie vielleicht auch gar nicht kenne.

Tatsächlich bestätigst du meine Ansicht mit deinem Beispiel:
Savonlinna hat geschrieben: Nehme ich mal den Krimi. Der hat ja schon von Haus aus eine gewisse Struktur: ein Mörder muss her, ein Ermordeter, ein Aufklärer des Mordes.
Die drei bedingen einander, der eine macht ohne den anderen keinen Sinn.
Auch die Charakterisierungen der drei bedingen einander: ist der Aufklärer - sagen wir mal, Sherlock Holmes - besonders klever, macht es mehr Lesespaß, wenn auch der Mörder besonders klever ist.
Das Krimigenre - das System - bedingt also die Auswahl der Charaktere.
Und umgekehrt: analysiert man die Beziehungen der Figuren untereinander, kann man erschließen, welche Art des Krimigenres hier vorliegt.
In wenigen Sätzen charakterisierst du hier den Typus des Krimis. Du zeichnest eine gewisse Struktur auf, wesentliche Eigenschaften, die einen Krimi auszeichnen.
In dieser Charakterisierung vernachlässigst du alle Details, wie die Figuren geschildert sind, welche Fehler der Mörder macht, inwieweit der Aufklärer schlauer ist als der Täter, das Motiv, den Tathergang, die psychologischen oder Milieuströmungen usw. usw.
Dein Thema ist die Struktur eines Krimis und du hast wichtige Eigenschaften herausgearbeitet und dabei hunderte von Details vernachlässigt

Du kannst auch umgekehrt vorgehen. Du willst z.B. herausarbeiten, wie eine Figur z.B. von seinen Dämonen der Vergangenheit gequält wird (eine alte Schuld oder so), wie er durch die Geschehnisse der Geschichte unter Stress gesetzt wird und zu versagen droht, wie er sich überwindet und am Ende doch siegt. All das kann in einem Krimi Kontext geschildert werden oder als Fantasy oder als Parabel oder als Pseudo-Zeitungsbericht usw. usw. Der Kontext kann fast beliebig sein, dieser Aspekt wird immer ein wichtiger, vielleicht der entscheidende des Werkes sein.

Es stimmt schon, dass der Kontext entscheidend sein kann, aber ich sehe nicht, dass er immer entscheidend sein muss.

Im Nachdenken über dieses Beispiel ist mir eine weitere Parallele zu den Naturwissenschaften aufgefallen.
Der Kontext, den du hier im Beispiel Krimigenre geschildert hat, ist in der Physik das physikalische Gebiet. Hier wären so grob die Gebiete klassische Mechanik, klassische Elektrodynamik, Thermodynamik, Festkörperphysik, Atomphysik, Kernphysik, Elementarteilchenphysik und klassische Gravitation zu nennen. Jedes Gebiet zeichnet sich durch bestimmte Variablen und Eigenschaften aus, die es charakterisieren. Jedes Gebiet hat auch bestimmte Grundgleichungen, die zu verwenden die schnellsten und besten Ergebnisse verspricht.
Tatsächlich führt die Aussage, dass es eine Grundgleichungen gibt, dass man das Gefühl hat, dieses Gebiet fundamental "verstanden" zu haben. So gibt es in dem Gebiet der Quantengravitation keine solche Grundgleichung.

Will man daher ein Phänomen beschreiben, dann startet man damit, dass man diesen Kontext feststellt, auf die entsprechende Grundgleichung zurückgreift und damit die Details des Phänomens entwickelt.

Wäre das nicht analog zu der Analyse von Werken? Man kennt die verschiedenen Genre und ihre Eigenschaften. Und indem man sagt "dieses ist ein Krimi", hat man bereits ein weites Feld des Kontextes festgestellt.

So weit zum Thema Spezialisierung und Einbeziehung des Kontextes.

Gruß
Thomas

P.S.
Die Sache mit der Sprachtheorie von Ferdinand de Saussure habe ich nicht verstanden. Ich kann die Relevanz dessen, was du geschildert hast, für das Verständnis eines Werkes oder zum grundsätzlichen Vorgehen eines Geisteswissenschaftlers nicht erkennen.
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

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