Savonlinna hat geschrieben:[...]
ThomasM hat geschrieben:Hat denn die "Aufklärung" deiner Meinung nach etwas gebracht, ich meine die erste im 16ten Jahrhundert?
Die Aufklärung hat viele Bereiche, die in unterschiedlichen Jahrhunderten begonnen haben, und sie haben fast alle tiefe historische Wurzeln.
Ihr Gemeinsames ist wohl die Emanzipation der eigenen Vernunft und der eigenen Persönlichkeit von jeglicher Form des Beherrschtwerdens und des Manipuliertwerdens.
In der deutschen Literaturgeschichte kann man sehr schön sehen, dass die Epoche der Aufklärung - wo Humanität, Säkularisierung, Vernunftreligion die Ziele waren - sehr bald als einseitig aufgefasst wurde und sofort eine Gegenbewegung weckte: Sturm und Drang und später die Epoche der Romantik. Dort wurde formuliert, dass die Vernunft nur ein Teil des Menschen sei, und dass die irrationalen Kräfte des Menschen - in positiver wie in negativer Form - ebenso literarisch ihren Platz haben mussten, und auch bekamen. Deren Unterdrückung sah man als gefährlich an, darum wurden sie salonfähig.
Aber auch die Romantik weckte wieder Gegenbewegungen, sodass sich diese beiden Pole Rationalismus/Irrationalismus andauernd abwechselten, aber immer die vorigen Epochen in ihrem Gedankengut mit einbezogen - sodass sich das doch hochschraubte und nicht einfach nur wiederholte.
Auch die Romantik kann man darum mit einem gewissen Recht als Teil des aufklärerischen Impulses ansehen: es wurde die Akzeptanz des seelischen - oder tiefenpsychologischen - Bereiches verlangt.
Bis heute sehen wir diese beiden Strömungen - Rationalismus und Irrationalismus - parallel nebeneinander, einander bekämpfend. Und witzigerweise wird die eine umso heftiger, je heftiger die andere wird.
Das als Vorbemerkung, um Deine oben zitierte Frage zu beantworten, Thomas:
Ja; in meinen Augen hat die Aufklärung - in allen ihren Facetten und Bereichen - Entscheidendes gebracht. Es ist nicht mehr rückgängig zu machen, dass Menschen sich befreien wollen, wenn ein Druck zu groß wird. Und weil inzwischen die Weltgemeinschaft das alles mit verfolgt, wird jeder Emanzipationsversuch geistig mitgetragen.
Aber, und jetzt kommt das große ABER.
Die Aufklärung, insofern sie die Vernunft als das Entscheidende ansah, ist in ihr Gegenteil umgeschlagen: sie hat selber mittels der Vernunft die Herrschaft übernommen und nicht nur die Natur, sondern auch den Menschen zerstört. Ihm sozusagen die Balance geraubt.
Weiter sind ihre irrationalen Gegenbewegungen teilweise über die Ufer getreten, haben völlig die Vernunft überschwemmt und das Irrationale sozusagen siegen lassen, siehe Nationalsozialismus.
Darum muss auch die Aufklärung sich in ihrem Vernunft- und Faktenwahn korrigieren lassen, denn sonst blubbert als Gegenbewegung ein neuer Faschismus hoch. Die Balance muss austaxiert werden, und jegliche Einseitigkeit kann ins Kippen führen.
Die Aufklärung mag mit der Befreiung der Vernunft begonnen haben - aber ihr wirklicher Auftrag scheint mir die Emanzipation des gesamten Menschen zu sein. Und die halte ich nicht für aufhaltbar.
Damit bin ich bei den Überlegungen, die Du am Ende Deines Beitrages geäußert hast.
Den Materialismus halte ich für marginal. Dass es außer Materie nichts gibt, wird wohl von den wenigsten geteilt.
Für gefährlicher halte ich die Wissenschaftsgläubigkeit, die deutlich anti-aufklärerisch ist. Denn rational kann man ihr kaum noch beikommen. Sie hat sich der Kritik - wesentliches Merkmal der Aufklärung - entzogen; will selber kritisieren, sich selber aber als immun gegen jegliche Kritik darstellen.
ThomasM hat geschrieben:Will man gegen dieses Denken "aufklären", würde eine objektive und faktische Gegenargumentation aus Richtung der Geisteswissenschaft benötigt.
Die gibt es nur leider nicht.
Vielleicht gibt es sie ja doch. Eine Weile wurden einige Neurologen von dem Taumel erfasst, dass der Mensch bald gänzlich über das Gehirn steuerbar sei - juchhu, juchhu - und schrieben begeisterte Bücher darüber.
Ehrlich, in der Zeit war ich auch vom Glauben abgefallen. Hab gedacht, eine neue Finsternis bricht an.
Aber dann schrieben die anderen Neurologen ihre Aufsätze. Und zeigten auf, dass die Jubeler ihre Grenzen überschritten hatten und statt Ideologie zu betreiben, bei ihren Schusterleisten bleiben sollten: forschen und sammeln, aber nicht dilettantisch philosophieren über das, was der Mensch ist.