JackSparrow hat geschrieben: ↑So 23. Feb 2020, 14:02
Claymore hat geschrieben: ↑So 23. Feb 2020, 13:39
Und das kann durchaus vorkommen, wenn man “Anpassung” (Fitness) anders definiert als durch Reproduktion. Z. B. in der Fähigkeit Energie zu gewinnen (Photosynthese / Aufnahme von Nahrung / ...) und schädlichen Einwirkungen zu widerstehen oder zu entgehen.
Fitness bedeutet reproduktive Fitness, da die Fähigkeit Energie zu gewinnen ohne die Fähigkeit sich zu reproduzieren zum Verschwinden der Spezies führt und nicht zur Evolution der Spezies.
Man muss ja nicht gleich in Reproduktion ja / nein denken, es reichen auch Abstufungen. Wenn eine Art von Baum in die Höhe wächst um besser an das Licht zu kommen beißt sich das evtl. mit der Bestäubung durch Insekten.
Reproduktive Fitness führt uns jedenfalls ins tautologische (es macht die Theorie, streng genommen, unfalsifizierbar): Wer am besten angepasst ist, reproduziert sich meisten und seine Anlagen verbreiten sich. Wer ist am besten angepasst? Der, der sich am meisten reproduziert.
Es ist ähnlich folgender Problematik: Wer von zwei Läufern gewinnt den 100 m Lauf? Der, der der
schneller ist. Ist Christian Coleman, Weltmeister im 100 m Lauf 2019,
schneller als Reiner Calmund (163 kg Körpergewicht)? Ja. Nun könnte es aber durchaus vorkommen, dass bei einem 100 m Lauf Christian Coleman ausrutscht, sich den Knöchel übel verrenkt und außer Gefecht gesetzt ist. Reiner Calmund watschelt dagegen ins Ziel und gewinnt. Aber dann mit "wer im 100 m Lauf gewinnt ist
definitionsgemäß schneller" zu kommen, macht die ursprüngliche Aussage sinnfrei. Man wollte damit doch mehr sagen als nur die Tautologie "es gewinnt, wer gewinnt", nicht?
“Die vererbbaren Eigenschaften, die die Reproduktion begünstigen, werden sich auf lange Sicht verbreiten” ist sicherlich (grob) korrekt, kann jedoch die Anpassung an die Umwelt im eigentlichen Sinne nicht erklären.
Eine "Anpassung an die Umwelt" existiert nicht. Wenn alle Spezies verschwinden, deren Fitness nicht ausreicht, dann können nur die Spezies mit ausreichender Fitness übrig bleiben.
Dass die Spezies an ihre Umwelt anpasst sind, ist aber die vor-theoretische Beobachtung, die es zu erklären gilt: Fledermäuse können sich in Höhlen mit ihrem Radar zurechtfinden; durch kreuzen der Flugrichtung und Flug gegen den Wind kann der Albatros über dem Meer stundenlang mit geringstem Energieeinsatz fliegen; die Krüppelkiefer ist extrem winterhart und windfest; usw. Warum?
Wenn die Theorie nach Darwin das nicht erklären kann, hat sie ihr wesentliches Ziel verfehlt.
Nun hat sich Nietzsche zu Darwin folgendermaßen geäußert:
Anti-Darwin. – Was den berühmten »Kampf ums Leben« betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesamt-Aspekt des Lebens ist nicht die Notlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht... Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln. – Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf – und in der Tat, er kommt vor –, so läuft er leider umgekehrt aus, als die Schule Darwins wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte: nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr – das macht, sie sind die große Zahl, sie sind auch klüger... Darwin hat den Geist vergessen (– das ist englisch!), die Schwachen haben mehr Geist... Man muß Geist nötig haben, um Geist zu bekommen – man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nötig hat. Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes (– »laß fahren dahin!« denkt man heute in Deutschland »– das Reich muß uns doch bleiben«...). Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die große Selbstbeherrschung und alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein großer Teil der sogenannten Tugend).
Der Fehler, auf den ihn jeder in diesem verwirrten Text hinweisen würde, ist, dass es nie um
Stärke, sondern um Fitness (der
Angepasstheit - an die Umwelt) ging -- wozu z. B. auch Verstellung gehört. Aber diese Belehrung hilft nur, wenn man die Darwin'sche Theorie sauber aufstellen kann, d. h. ohne Fitness mit reproduktiver Fitness gleichzusetzen. Tut man letzteres aber, dann hat Nietzsche im wesentlichen Recht: die "fitten" sind "die große Zahl" -- definitionsgemäß.
Wie kann man also die Theorie von Darwin falsifizieren? Eine beliebte Antwort ist ernsthaft "der Fund von Hasen-Fossilien in präkambrischen Schichten". Das verfehlt allerdings den wesentlichen Punkt. Denn natürlich ist die Behauptung, dass es keine Hasen im Kambrium und davor gab, absolut untautologisch und völlig ohne Probleme empirisch falsifizierbar. Das hat rein gar nichts mit einer Theorie zu tun, die die Mechanismen hinter der Entwicklung des Lebens erklären will.
Die tautologische Definition von "Anpassung" als "reproduktive Fitness" ist im übrigen nicht das einzige Problem - nur das offensichtlichste. Eine andere Baustelle wäre die
Einheit der Selektion. Bei staatenbildenden Insekten wie Honigbienen "unterdrückt" (anthropomorph gesprochen) die Königin die Arbeiterinnen (sie hat allein das "Privileg" sich "richtig" -- diploid -- fortzupflanzen; nur ein winziger Bruchteil der Arbeiterinnen kommt unter speziellen Umständen dazu sich haploid fortzufplanzen):
sie macht die Arbeiterinnen steril. Aber auch umgekehrt fackeln die Arbeiterinnen oft nicht lange
eine "schlechte" Königin auszutauschen (u. a. sie zu töten).
Es ergibt nicht viel Sinn hier das einzelne Tier als Selektionseinheit zu sehen... eher die Kolonie als ganzes. Allerdings müssen Bienen, Ameisen usw. ursprünglich aus "normal" sich paarweise untereinander fortpflanzenden Insekten entstanden sein; solche wo man durchaus das einzelne Tier als die Einheit der Selektion betrachtet.
Wenn der Shift von Einheit A der Selektion zu einer anderen Einheit B ein Prozess ist, der der natürlichen Selektion bzgl. Einheit A zuwiderläuft -- wie ist er dann zustande gekommen? Das hat wohl Dawkins dazu gebracht, die traditionellen Ansätze komplett über Bord zu werfen und stattdessen
die Gene als Einheit der Selektion anzusehen. Worum es anfangs nie ging. Und was auch Darwin nicht im Sinn hatte. Denn wie passt das noch mit der Variation (Mutation) zusammen?
Wir hatten festgestellt, daß einige Leute die Art als die Einheit der natürlichen Selektion betrachten, andere die Population oder Gruppe innerhalb der Art und wieder andere das Individuum. Ich hatte gesagt, ich zöge es vor, das Gen als die grundlegende Einheit des Eigennutzes anzusehen. Nunmehr habe ich das Gen so definiert,
daß ich geradezu recht behalten muß!
(Richard Dawkins: Das egoistische Gen)
Ah, ok... nennt man das nicht auch ... empirisch unfalsifizierbar?
PS: das Dawkins-Zitat weist auch wieder auf die Schulenbildung in der Evolutionsbiologie hin. Und sowas ist immer ein Zeichen dafür, dass subjektives und nicht-wissenschaftliches Denken stark präsent ist. Schulenbildung findet man (und das meine ich nicht abwertend) in der Philosophie, Religion, Kunst, Handwerk... Immer dort wo wir nur ahnen oder fühlen aber nichts finden, was Konsens wirklich erzwingen kann.