Reichen Mutation und Selektion aus?

Evolution vs. Schöpfung Debatte, Alter der Erde
Geologie, Plattentektonik, Archäologie, Anthropologie
ThomasM
Beiträge: 5866
Registriert: Mo 20. Mai 2013, 19:43

#1 Reichen Mutation und Selektion aus?

Beitrag von ThomasM » Mi 8. Jan 2014, 22:44

Ich würde gerne mal ein Thema innerhalb der Evolutionstheorie diskutieren. (Allerdings gerne ernsthaft. Leute, die Evolution eh für Schwachfug halten, dürfen sich raushalten)

Darwin begründete die Evolutionstheorie auf den Prinzipien Mutation (als Treiber für Änderungen in den Genen) und Selektion (als Motor der Auswahl besser passender Genkonfigurationen). Diese beiden Begriffe haben die Evolutionstheorie und auch die später gemachten Erweiterungen dominiert und noch so jemand wie Dawkings argumentierte vor etwa 20 Jahren mittels Statistik für die starke Gültigkeit dieser Prinzipien.

Doch nach dem, was ich über neuere Konzepte des Evolutionsgeschehens gelesen und gelernt habe, frage ich mich, inwiefern diese beiden Begriffe noch ausreichen. Die folgenden Faktoren zeigen, dass das eventuell nicht mehr der Fall ist.

1.) Als Hauptmotor für genetische Änderungen gelten heutzutage nicht mehr Mutationen, sondern Genduplikate oder Genaustausch. Das Gen ist nach wie vor funktionstüchtig, aber im eigentlich überflüssigen Duplikat (oder im eingefangenen Gen) sammeln sich Änderungen an, die für den Organismus neutral sind. Dadurch entsteht ein Pool von potenziellen Anpassungen, die sozusagen "auf Halde" liegen und dann recht einfach und zeitlich schnell aktiviert werden können . In diesem Sinn wirken die Mutationen eigentlich nicht mehr als Treiber für Änderungen, sondern nur noch wie eine Art statistisches Hintergrundrauschen.

2.) Neuere Forschungen zeigen die Bedeutung der Epigenetik. Epigenetik ist die Art und Weise wie Gene an- oder abgeschaltet werden (ohne sich zu verändern, also ohne Mutationen). Dabei kann ein Organismus durch Änderung des epigentischen Programms (meist getriggert durch Umwelteinflüsse) höchst unterschiedliche Formen annehmen. Die Epigenetik führt also zu einer höheren Variabilität des Organismus, auch über Generationen hinweg.

3.) Normalerweise heisst es, dass die Umwelt die Randbedingungen liefert, die zu einem Selektionsdruck führt, der den Mechanismus der Selektion darstellt. Aber ein Organismus hat auch die Möglichkeit, dem Selektionsdruck auszuweichen, indem er sich selbst seine Umwelt formt. Der Mensch ist hier wohl das Extrembeispiel. Statt also zu sagen "Umwelt erzeugt Selektion", muss man eigentlich sagen "Umwelt (Selektion) hat nur so weit Einfluss, wie der Organismus sich seine Umwelt nicht selbst schaffen kann".

Meines Erachtens machen diese Punkte die Begriffe Mutation und Selektion nicht ungültig, aber ergänzungsbedürftig. Und damit vermutlich komplizierter als für Normalsterbliche verstehbar.
Was meint ihr?

Gruß
Thomas
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

closs
Beiträge: 39690
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 20:39

#2 Re: Reichen Mutation und Selektion aus?

Beitrag von closs » Mi 8. Jan 2014, 23:28

Dazu erstmal eine reine Verständnisfrage zur Evolution - Anspruch auf professionelle Formulierung wird nicht erhoben:

Bedeutet "Evolution"
a) dass sich im Überlebenskampf irgendeine bestehende genetische Variante durchsetzt und sich an die nächste Generation vererbt
ODER
b) dass sich die Genetik eines Fortpflanzungs-Fähigen aus einem bestimmten Grund für die nächste Generation verändert
ODER
c) beides.

Beispiele:
I. Das Insekt x, das es in den Gelbtönen a, b und c gibt, überlebt nur im Gelbton c, weil die Gelbtöne a und b Feinde anlocken und c nicht - das wäre Variante a) und klingt extrem naheliegend.
II. Das Insekt y, das in der Nähe von Fukushima lebt, erfährt eine Änderung in seiner Genetik, so dass die nächste Generation an die Folgen der Reaktor-Katastrophe angepasst ist - das wäre Variante b) und klingt ebenfalls naheligend und zudem epigenetisch interessant.

Gibt es zu diesen Fragen einvernehmliche Routine-Antworten von Fachleuten?

Anton B.
Beiträge: 2792
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 16:20

#3 Re: Reichen Mutation und Selektion aus?

Beitrag von Anton B. » Mi 8. Jan 2014, 23:46

ThomasM hat geschrieben:I1.) Als Hauptmotor für genetische Änderungen gelten heutzutage nicht mehr Mutationen, sondern Genduplikate oder Genaustausch. Das Gen ist nach wie vor funktionstüchtig, aber im eigentlich überflüssigen Duplikat (oder im eingefangenen Gen) sammeln sich Änderungen an, die für den Organismus neutral sind. Dadurch entsteht ein Pool von potenziellen Anpassungen, die sozusagen "auf Halde" liegen und dann recht einfach und zeitlich schnell aktiviert werden können . In diesem Sinn wirken die Mutationen eigentlich nicht mehr als Treiber für Änderungen, sondern nur noch wie eine Art statistisches Hintergrundrauschen.
Die von Dir genannten Mechanismen, "... Genduplikate oder Genaustausch ..." fallen alle unter den Terminus "Mutationen",

ThomasM hat geschrieben:2.) Neuere Forschungen zeigen die Bedeutung der Epigenetik. Epigenetik ist die Art und Weise wie Gene an- oder abgeschaltet werden (ohne sich zu verändern, also ohne Mutationen). Dabei kann ein Organismus durch Änderung des epigentischen Programms (meist getriggert durch Umwelteinflüsse) höchst unterschiedliche Formen annehmen. Die Epigenetik führt also zu einer höheren Variabilität des Organismus, auch über Generationen hinweg.

3.) Normalerweise heisst es, dass die Umwelt die Randbedingungen liefert, die zu einem Selektionsdruck führt, der den Mechanismus der Selektion darstellt. Aber ein Organismus hat auch die Möglichkeit, dem Selektionsdruck auszuweichen, indem er sich selbst seine Umwelt formt. Der Mensch ist hier wohl das Extrembeispiel. Statt also zu sagen "Umwelt erzeugt Selektion", muss man eigentlich sagen "Umwelt (Selektion) hat nur so weit Einfluss, wie der Organismus sich seine Umwelt nicht selbst schaffen kann".
Schaue Dir dazu bitte zur Einführung http://de.wikipedia.org/wiki/Evolution% ... gsbiologie an.

ThomasM hat geschrieben:Meines Erachtens machen diese Punkte die Begriffe Mutation und Selektion nicht ungültig, aber ergänzungsbedürftig. Und damit vermutlich komplizierter als für Normalsterbliche verstehbar.
Was meint ihr?
Ja, ist so. Dürfte in Deiner "Physik" auch nicht anders sein. Nicht umsonst hat der Futuyma (Evolution. Second Edition) das Kapitel "Evolution and Develepment" (vergleiche mit Deinen Fragen 2-3) aufgenommen.
Zuletzt geändert von Anton B. am Mi 8. Jan 2014, 23:54, insgesamt 2-mal geändert.
Die Eiche "ist" - sie steht da - mit oder ohne Wildschweine.

Anton B.
Beiträge: 2792
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 16:20

#4 Re: Reichen Mutation und Selektion aus?

Beitrag von Anton B. » Mi 8. Jan 2014, 23:53

closs hat geschrieben:Dazu erstmal eine reine Verständnisfrage zur Evolution - Anspruch auf professionelle Formulierung wird nicht erhoben:

Bedeutet "Evolution"
a) dass sich im Überlebenskampf irgendeine bestehende genetische Variante durchsetzt und sich an die nächste Generation vererbt
ODER
b) dass sich die Genetik eines Fortpflanzungs-Fähigen aus einem bestimmten Grund für die nächste Generation verändert
ODER
c) beides.

Beispiele:
I. Das Insekt x, das es in den Gelbtönen a, b und c gibt, überlebt nur im Gelbton c, weil die Gelbtöne a und b Feinde anlocken und c nicht - das wäre Variante a) und klingt extrem naheliegend.
II. Das Insekt y, das in der Nähe von Fukushima lebt, erfährt eine Änderung in seiner Genetik, so dass die nächste Generation an die Folgen der Reaktor-Katastrophe angepasst ist - das wäre Variante b) und klingt ebenfalls naheligend und zudem epigenetisch interessant.

Gibt es zu diesen Fragen einvernehmliche Routine-Antworten von Fachleuten?

So, wie Du es vermutlich meinst, ist nur a richtig.
Die Eiche "ist" - sie steht da - mit oder ohne Wildschweine.

closs
Beiträge: 39690
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 20:39

#5 Re: Reichen Mutation und Selektion aus?

Beitrag von closs » Do 9. Jan 2014, 00:51

Anton B. hat geschrieben:So, wie Du es vermutlich meinst, ist nur a richtig.
Hmm - wie wäre dann folgender Satz von Thomas zu interpretieren?
ThomasM hat geschrieben: Neuere Forschungen zeigen die Bedeutung der Epigenetik. Epigenetik ist die Art und Weise wie Gene an- oder abgeschaltet werden (ohne sich zu verändern, also ohne Mutationen).
Kann das nicht spontan aufgrund äußerer (auch innerer) Einflüsse passieren? - Beispiel:

Mensch x wird geboren - geht in der Krieg - überlebt - zeugt danach Kinder. - Kann es sein, dass durch heftige Erlebnisse im Krieg etwas "an- oder abgeschaltet" wird, "ohne sich zu verändern"? - Also per Zeugung etwas weiter gegeben wird, was ohne Krieg nicht gewesen wäre?

@Thomas: Wenn Du etwas ganz anderes gemeint hast, lasse es wissen. - Ich will keine neuen Themen aufwerfen, sondern versuche Deine Anmerkung zur Epigenetik in Praxis umzusetzen.

Anton B.
Beiträge: 2792
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 16:20

#6 Re: Reichen Mutation und Selektion aus?

Beitrag von Anton B. » Do 9. Jan 2014, 10:28

closs hat geschrieben:Mensch x wird geboren - geht in der Krieg - überlebt - zeugt danach Kinder. - Kann es sein, dass durch heftige Erlebnisse im Krieg etwas "an- oder abgeschaltet" wird, "ohne sich zu verändern"? - Also per Zeugung etwas weiter gegeben wird, was ohne Krieg nicht gewesen wäre?

@Thomas: Wenn Du etwas ganz anderes gemeint hast, lasse es wissen. - Ich will keine neuen Themen aufwerfen, sondern versuche Deine Anmerkung zur Epigenetik in Praxis umzusetzen.
Wiederum empfehle ich:
Anton B. hat geschrieben:Schaue Dir dazu bitte zur Einführung http://de.wikipedia.org/wiki/Evolution% ... gsbiologie an.
Die Eiche "ist" - sie steht da - mit oder ohne Wildschweine.

Pluto
Administrator
Beiträge: 43975
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:56
Wohnort: Deutschland

#7 Re: Reichen Mutation und Selektion aus?

Beitrag von Pluto » Do 9. Jan 2014, 10:42

Anton B. hat geschrieben:Die von Dir genannten Mechanismen, "... Genduplikate oder Genaustausch ..." fallen alle unter den Terminus "Mutationen",
Exakt so isses.

ThomasM hat geschrieben:2.) Die Epigenetik führt also zu einer höheren Variabilität des Organismus, auch über Generationen hinweg.
JEIN.
Die allermeisten Zellen im Körper sind diploid, d.h. die Chromosomen sind paarweise im Zellkern vorhanden, und geben bei der Zellteilung ihre Merkmale an Tochter/Schwester-Zellen weiter. Epigenetik kann so zur Anpassung des Organismus an die Umwelt führen.
Bei sich geschlechtlich fortpflanzenden Organismen (die meisten Tiere u. Pflanzen) werden die Merkmale über haploide Zellen (Samen- und Eizellen) weitergegeben, so dass nur die Eigenschaften dieser Gene an die Nachfolger weitergegeben werden. Haploide Zellen werden durch eine spezielle Form der Zellteilung in den entsprechenden Organen der Elternteile erzeugt.
Folgt man der Logik der sexuellen Fortpflanzung ist eine Weitergabe von Veränderungen in den sehr viel zahlreicheren "normalen" diploiden Körperzellen a priori nicht möglich...
Drei Faktoren können aber dazu führen, dass gewisse Umwelteinflüsse das heranwaschsende Embryo beeinflussen.
1.) Die Plazenta ist teilweise durchlässig, so dass gewisse Merkmale der Mutter die Entwicklung des Fötus beeinflussen können (Rauchen, Drogen, Alkohol... in der Schwangerschaft).
2.) Umwelteinflüsse können auch Gene in haploiden Zellen ein- bzw. ausschalten, und so zu einer Prägung des heranwachsenden Fötus beitragen.
3.) Extreme Umweltbedingungen (z. Bsp. Hungersnot) kann zu einer Dezimierung der schwächeren Mitglieder einer Population führen. Dadurch verschieben sich die Eigenschaften der Population, so dass die am besten angepassten Individuen sich erfolgreicher fortpflanzen.

Durch epigenetische Einflüsse verursachte Veränderungen sind schwach und meist nicht bleibend. Die Merkmale verschwinden meist innerhalb einiger Generationen wieder. Mutationen in den haploiden Zellen sind hingegen nicht rückgängig zu machen.
ThomasM hat geschrieben:Meines Erachtens machen diese Punkte die Begriffe Mutation und Selektion nicht ungültig, aber ergänzungsbedürftig.
Ja, natürlich.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

Pluto
Administrator
Beiträge: 43975
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:56
Wohnort: Deutschland

#8 Re: Reichen Mutation und Selektion aus?

Beitrag von Pluto » Do 9. Jan 2014, 10:43

closs hat geschrieben:Mensch x wird geboren - geht in der Krieg - überlebt - zeugt danach Kinder. - Kann es sein, dass durch heftige Erlebnisse im Krieg etwas "an- oder abgeschaltet" wird, "ohne sich zu verändern"? - Also per Zeugung etwas weiter gegeben wird, was ohne Krieg nicht gewesen wäre?
Nein. (s.o.)
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

Benutzeravatar
Janina
Beiträge: 7431
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:12

#9 Re: Reichen Mutation und Selektion aus?

Beitrag von Janina » Do 9. Jan 2014, 10:56

ThomasM hat geschrieben:1.) Als Hauptmotor für genetische Änderungen gelten heutzutage nicht mehr Mutationen, sondern Genduplikate oder Genaustausch...
2.) Neuere Forschungen zeigen die Bedeutung der Epigenetik...
Ich denke nicht, dass hierbei der Begriff "Mutation" auf die Wechselwirkung von DNA mit Rötgenstrahlung eingeschränkt werden darf. Er bezeichnet allgemein JEDE wie auch immer geartete stochastische Veränderung der Basenfolge. So gehört letztlich auch Gentausch und Epigenetik dazu. Alles was die Variabilität erhöht, steigert sowohl die evolutionäre Optimierungsgeschwindigkeit, als auch den Ausschuss.

ThomasM hat geschrieben:3.) Normalerweise heisst es, dass die Umwelt die Randbedingungen liefert, die zu einem Selektionsdruck führt, der den Mechanismus der Selektion darstellt. Aber ein Organismus hat auch die Möglichkeit, dem Selektionsdruck auszuweichen, indem er sich selbst seine Umwelt formt.
Dualist! Der Organismus ist immer Teil der Umwelt. Das ist kein Ausweichen vor dem Selektionsdruck, das ist Teil davon.

ThomasM hat geschrieben:Und damit vermutlich komplizierter als für Normalsterbliche verstehbar.
Das auf alle Fälle. Ist aber normal bei selbstorganisierenden Strukturen. Einfache Bildungsgesetze, unüberschaubare Ergebnisse.
Einfachstes Beispiel. Nimm ein Bildungsgesetz, z.B.:
Bild
Einfach, oder?
Und dann kommt SOWAS dabei raus!
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/c ... ot_set.jpg
"Intelligentester" Kommentar: Boah, SO kompliziert? Nää, dat kann isch mir nit vorstellen, aus SO einer simplen Gleichung? Nä, da muss ein unendlich intelligenter Kopf dazwischengefunkt haben... :roll:

closs hat geschrieben:Bedeutet "Evolution"
a) dass sich im Überlebenskampf irgendeine bestehende genetische Variante durchsetzt und sich an die nächste Generation vererbt
ODER
b) dass sich die Genetik eines Fortpflanzungs-Fähigen aus einem bestimmten Grund für die nächste Generation verändert
ODER
c) beides.
d)
- Es gibt variierende Kopien (Mutation)
- Die Variationen haben Auswirkungen auf die Häufigkeit, mit der sie weiter kopiert werden (Selektion)
- Dadurch entwickelt sich Vielfalt in den Erscheinungsformen

closs
Beiträge: 39690
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 20:39

#10 Re: Reichen Mutation und Selektion aus?

Beitrag von closs » Do 9. Jan 2014, 13:21

Janina hat geschrieben:d) Es gibt variierende Kopien (Mutation)
Gibt es Erkenntnisse, wann und warum sich etwas variiert? - Wie schnell kann eine solche Variation stattfinden - auch plötzlich?

Antworten