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von Tyrion » Mo 2. Jan 2017, 15:54
Artbildung ist in der Tat eine Grauzone. Das Grundproblem ist allerdings, dass der Begriff "Art" nicht sauber definierbar ist. Daher kann man auch nicht exakt entscheiden, ab wann zwei Populationen noch der gleichen Art angehören und ab wann es zwei getrennte Arten sind.
Beispiel Tiere:
"biologisches" Artkonzept: was sich schart und paart, gehört zur selben Art. Also: Erzeugen von Nachkommen unter natürlichen Umständen - dann eine Art. Ist das nicht möglich, dann sind es zwei Arten.
Problem: Was ist, wenn Paarung und Fortpflanzung möglich sind, aber die beiden Populationen rein mechanisch-räumlich getrennt sind? Auf natürlichem Wege ist eine Paarung nicht mehr möglich. Die beiden Populationen werden sich aufgrund anderer Selektionsfaktoren in ihren Arealen auseinander entwickeln. Ist aber schon am Anfang - nur wegen der räumlichen Separation - die neue Art entstanden? Da würde niemand ja sagen. Das heißt, da Erzeugen von Nachkommen unter natürlichen Umständen ist das größte Problem dieser Artdefinition.
Und wenn die Populationen sympatrisch (um gleichen Gebiet) vorkommen, aber aus anderen Gründen sich nicht vermischen? Beispiel Eisbär und Braunbär (Grizzly)? Der Braunbär ist dem Eisbären gegenüber paraphyletisch (das heißt, er ist aus einer Braunbärenpopulation entstanden, ist also mit manchen Braunbären näher verwandt als manche Braunbären untereinander). Beide könnten sich kreuzen, aber Eisbär frisst Braunbär!
Bei Hund und Wolf ist es entsprechend. Kreuzung ist möglich, aber Wolf frisst Hund.
Beispiel Pflanzen:
Nehmen wir Orchis mascula (Stattliches Knabenkraut) und Orchis signifera. Beide "Arten" bilden eigenständige Populationen aus und lassen sich gut unterscheiden. Orchis mascula wächst im Tiefland, Orchis signifera im Gebirge. Im bergangsgebiet, beispielsweise im Alpenvorland, treten beide auf und zudem viele Übergangsformen. Also gibt es hier Kreuzungen, aber eben nur in einem recht kleinen Areal. Kreuzbarkeit ist vorhanden. Also doch nur eine Art? Botaniker sind sich uneins, ob es sich bei Orchis signifera doch nur um eine Unterart oder Varietät von Orchis mascula handelt.
Ähnliches gilt für Dactylorrhiza maculata vs. Dactylorrhiza fuchsii.
Oder die Birken - es lassen sich alle Birken"arten" kreuzen. Also Hängebirke, Moorbirke, Zwergbirke usw. - es gibt sogar Hybridpopulationen, beispielsweise Betula pendula x pubescens. Soll man jetzt die ganze Gattung Betula weltweit zu einer Art zusammenschmeißen? Dann ist die Zwerbirke Betula nana (bei uns ein Eiszeitrelikt, fast ausgestorben, in der Arktis häufig, nur ein Zwergstrauch - in Sibirien zu Betula rotundifolia übergehend) und unsere groß werdende Hängebirke die gleiche Art, obwohl sie sowohl ökologisch, geographisch als auch morphologisch deutlich unterschieden sind?
Und was ist mit Apomikten wie beispielsweise den Brombeeren. Die "Arten", die sich nur vegetativ vermehren, können sich per se nicht kreuzen. Das heißt, jede durch reine Mutation entstehende Variante ist schon eine eigene Art, da sie ja auch direkt eine eigene population bildet? Hier muss man sagen: ja, so ist es. Bei Brombeeren kann man bei der Artentstehung zusehen.
Letztes Beispiel: Polyploidisierung (bei Tieren meist tödlich, bei Pflanzen möglich - also durch Meiosefehler eine Verdopplung des Chromosomensatzes). Die Folge: keine Kreuzbarkeit mehr (2n + n = 3n - lässt sich nicht halbieren, daher keine Meisoe mehr möglich). So wurden unsere Getreidearten aus Wildgräsern "gezüchtet". Es gibt nur einen einseitigen Gentransfer, denn aus der Ausgangspopulation können später wieder durch Polyploidisierung Kreuzungen möglich werden. Nur zurück geht es nicht. Ist das dann eine halbe Art?
Man hat sich daher insgesamt für ein plausibles, aber nicht sauber definierbares Artkonzept geeinigt.
Man hat zwei Arten vor sich, wenn die Kreuzungsfähigkeit eingeschränkt ist oder nicht vorhandne ist, wenn es keine langfristig stabilen Hybridpopulationen in der Natur gibt. Falls Kreuzungsfähigkeit vorhanden ist oder nur wenig eingeschränkt ist, dann spricht man trotz Hybridpopulationen dennoch von zwei Arten, wenn sie sich ökologisch unterschiedliche eingenischt haben, sich zudem morphologisch oder physiologisch unterscheiden können und die Populationen in der Natur gegenüber den Hybriden dominieren.
Das habe ich selbst zusammengefasst - daher ist das jetzt kein Zitat und meine Interpretation. Es gibt ganze Bücher über das Problem des Artkonzepts, es gubt Symposien, die sich nur darum kümmern.
Zur Kreuzungseinschränkung: es gibt beispielsweise Arten, die kreuzbar sind, aber nur im Prozentbereich Nachkommen daraus entstehen, die selbst wieder sich vermehren können. Bei Pfeder und Esel wären es eine vollkommene Barriere, da alle Maulesel und auch alle Mulis steril sind. Wäre aber ab und ein ein Muli oder ein Maultier fertil, wären Pferd und Esel kreuzbar (im Sinne des Artbegriffs), aber diese wäre dann extrem eingeschränkt.
Und deshalb hat man ja gehofft, ein genetisches Artkonzept festzurren zu können (z. B. ab 2% Abweichung im kodierenden Genom). Solche Grenzen sind aber rein artifiziell und haben mit der Art an sich nichts zu tun.
Das spannende an der Artbildung ist:
Man kann dabei zusehen. Es kann sehr schnell gehen - bei anderen hingegen dauert es Tausende Jahre. Daher kann man auch alle Zwischenschritte sehen (unechte Zeitreihe). Man muss nur hinsehen wollen. Wer das prinzipiell ablehnt, weil ein altes Buch (scheinbar) etwas anders behauptet, und allein deshalb nicht einmal sehen möchte, was die Natur macht, der tut mir leid.
Übrigens: Die Entwicklung von zu hoher Komplexität führt immer zum Aussterben. Man ist dann als Art zu spezialisiert und kann drastischen Umweltänderungen nicht mehr flexibel folgen. Die wahren Sieger der Evolution sind die Bakterien, nicht die Menschen oder die Orcas.