Anton B. hat geschrieben:Wenn Paläontologen das Modell einer Evolutionsreihe a -> b -> c mit Angaben zum Auftreten in der "Gesteinssäule" bzw. einer zeitlichen Skala machen und b tritt nicht nur vor a sondern auch in der Gesteinssäule wesentlich tiefer und zeitlich wesentlich eher auf (Beobachtungen!), als das Modell für b und a vorhersagt, so stimmen die Beobachtungsvorhersagen des Modells nicht mit den gemachten Beobachtungen überein. Das alles ist schon mehrfach passiert, die betreffenden Modelle waren damit falsifiziert und wurden entsorgt.
Danke für die Erkärung, Anton.
Und wie funktioniert dies bei Historie? Nimm als Beispiel Alexander den Großen. Wie soll bei dieser historischen Rekonstruktion Falsifikation funktionieren?
Anton B. hat geschrieben:Ja, doch! Du sollst den jetzigen Stand der Wissenschaftstheorie in den wesentlichen und akademisch "allgemein" vertretenen Aspekten ausloten. Du setzt "punktuell" in der Auswertung einer Vorlesung an, deren Zielsetzung noch gar nicht mal geklärt ist. Dann konzentrierst Du Dich auf einzelne Aspekte und versuchst, die Relevanz außerhalb der Vorlesung fest zu stellen. Mein Vorschlag war und ist, es mit akademischen Lehrbüchern zu versuchen, deren Zweck es genau ist, " ... den jetzigen Stand der Wissenschaftstheorie in den wesentlichen und akademisch "allgemein" vertretenen Aspekten ..." auszuloten. Und wenn die sich als Begleitmaterial an Lehrende wenden, werden diese Lehrwerke ganz eingehend und systematisch durch die Gilde der Lehrenden und Forschenden unter die Lupe genommen.
Zu Beginn des ersten Teils der zweiten Doppelstunde stellt der Professor fest (2013 ):
Zitat von Paul Hoyningen-Huene:
Es hat in den letzten zwanzig Jahren eigentlich kein Buch mehr gegeben, was sich wirklich nur dieser Frage, "was ist Wissenschaft?", gewitmet hat und das finde ich doch relativ schlecht, weil die Wissenschaftsphilosphie das beantworten sollte.
Lass mich doch erst einmal die Vorlesung studieren.
Außerdem habe ich zurzeit das Gefühl, dass bei mir zu jedem Buch, dass ich gelesen habe, zwei neue Bücher hinzukommen. Ganz nebenbei investiere ich auch hier viel Zeit, als Moderator vermehrt.
Kürzlich habe ich ein Buch von Einstein gelesen; auf dem Programm steht noch ein "hammerschwerer Schinken" über die
Logik der Philsophie, ferner noch mindestens ein Buch über Hirnforschung - ich bin mehr als ausgelastet.
Anton B. hat geschrieben:Halman hat geschrieben:Es scheint also eine kritische und fruchtbare Diskussion durch Hoyningen-Huene angstoßen worden zu sein. Könnte man ihn als "Pionier" der Wissenschaftstheorie bezeichnen?
Sollen wir nicht einfach die Zeit darüber entscheiden lassen? Wenn er mal "Pionier der Wissenschaftstheorie" ist, wird man ihn sicherlich auch so nennen. Aber übrigens, was ist mit den tausend anderen Wissenschaftstheoretikern, die alle mit neuen, nie dagewesenen Erklärungen in den Startlöchern sitzen. Warum Hoyningen-Huene? Kannst Du seine Position von denen der tausend anderen abgrenzen und die Überlegenheit Hoyningen-Huene'scher Denkarbeit darlegen?
Kennst Du tausend Wissenschaftstheoretiker? Dir ist schon klar, dass dies ein beliebtes Totschlagargument ist?
Die hier verlinkte Vorlesung kenne ich nur, weil sie im Internet veröffentlich wurde, sonst würde ich davon gar nicht wissen. Popper, Kuhn und Feyerabend sagten mir im Groben schon was, bevor ich die Vorlesung kannte. Damit "kenne" ich mit Hoyningen-Huene schon mal vier von "weiter Ferne", auch wenn Kuhn vielleicht mehr Wissenschaftshistoriker war.
Anton B. hat geschrieben:Halman hat geschrieben:Anton B. hat geschrieben:Und? Kannst Du so ein Beispiel bringen?
Die Vorlesung erstreckt sich über viele Teile (Doppelstunden), da habe ich noch sehr viel vor mir.
Wir wollten es ja auch in Ruhe angehen. Zeit ist da.
Danke.
Anton B. hat geschrieben:Halman hat geschrieben:Anton B. hat geschrieben:Das ist auch richtig. Aber da, wo es geht, werden höhere Anforderungen erhoben.
Das ist ja auch nur vernünftig. Dies bedeutet aber doch, dass es auch Fälle gibt, in denen es nicht geht.
Zum Beispiel die Literaturwissenschaften beziehen sich auf Wissenschaft als besonders ausgeprägtes systematisches Vorgehen. Die Historiker im "klassischen Sinne" übrigens auch.
Okay.
Darf ich fragen, wie es sich in Deiner wissenschaftlichen Praxis verhält?
Anton B. hat geschrieben:Aber unser/mein Ausgangspunkt war Dein
Post, in dem Du für Modelle der "historischen" Naturwissenschaften die Notwendigkeit der prinzipiellen Falsifizierbarkeit bestritten hast. Und wenig später hattest Du die Paläontologie als Beispiel genannt.
Weil ich dieses Beispiel von Hoyningen-Huene aufgegriffen hatte.
Schauen wir uns den 1. Teil der zweiten Doppelstunde an, angefangen mit der ersten
Folie:
Hier vertretende These:
Wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich von anderen Wissensarten, insbesondere dem Alltagswissen, primär durch seinen höheren Grad an Systematizität.
Als erstes historisches Beispiel eines Philosophen, der etwas Ähnliches formuliert hatte, führt er
John Dewey (1903) an.
Als zweites Beispiel verweist er auf
Charles Morris (1960), einem Vertreter des "Wiener Kreises" (logischer Empirismus/Neopositivismus).
Das dritte Beispiel liefert
Carl Gustav Hempel, der folgenden Gedankengang vermittelte:
Alle wissenschaftlichen Erklärungen, die versuchen systematisches Verständnis der empirischen Phänomene zu erzeugen, indem sie zeigen, dass diese Phänomene ... in einem naturgesetzlichen Zusammenhang gestellt werden.
Dazu passt meiner Meinung nach die einstein'sche Überzeugung, die in folgenden Worten zum Ausdruck kommt:
Zitat aus "Die Evolution der Physik" (Einstein, Infeld), Seite 318-319 (Schlussgedanken):
... Ohne den Glauben daran, daß es grundsätzlich möglich ist, die Wirklichkeit durch unsere theoretischen Konstruktionen begreiflich zu machen, ohne den Glauben an die innere Harmonie unserer Welt könnte es keine Naturwissenschaft geben. Dieser Glaube ist und bleibt das Grundmotiv jedes schöpferischen Gedankens in der Naturwissenschaft. Alle unsere Bemühungen, alle dramtischen Auseinandersetzungen zwischen alten und neue Auffassungen werden getragen von dem ewigen Drang nach Erkenntnis, dem unerschütterlichen Glauben an die Harmonie des Alls, der immer stärker wird, je mehr Hindernisse sich uns entgegenstürmen.
Dann führt Hoyningen-Huene
Ernest Nagel (1961) an:
Wissenschaft wird erzeugt durch das Bedürfnis nach Erklärungen, die gleichzeitig systematisch und kontrollierbar sind.
Zu Deinen Appell, der sinngemäß darauf hinauslief, dass ich mich doch mit den anderen vielen neuzeitlichen wissenschaftsphilosophischen Aussagen zum Thema auseinandersetzen sollte, verweise ich auf
Zeitindex 14:42.
In den letzten Hundert Jahren ist Nicholas Rescher eigentlich der einzige Philosoph, der sich wirklich ausführlich mit Systematizität und auch eventuell mit Beziehungen auf die Wissenschaften beschäftigt hat. Das hat Rescher, der sehr viel Literatur kennt, sieht das auch so. Also das war in den letzten Hundert Jahren gab es keine nennenswerte Diskussion, außer diese paar Splitter und die sind nicht entwickelt worden.
Im Jahre 1979 veröffentlichte Rescher ein Buch, dass nahe an der hier diskutierten Vorlesung ist.
Im Weiteren führt Hoyningen-Huene weitere historische Beispiele aus der Physik und Biochemie, der Mathematik, kognitiven Enticklungspsychologie, Geschichtswissenschaft, Bildsemiotik und die
Theologie an (insgesamt 11 Beispiele).
Ab Zeitindex 34:35 beginnt er mit
fünf Erläuterungen zu seiner
These:
1. Teminologisch: Wissen nicht im philosphischen Sinn von
"begründeter wahrer Überzeugung" (plantonisch), sondern im Sinne von "scientific belief", d.h. Wissen nicht mit absoluten Wahrheitsanspruch.
"Höherer Grad an Systematizität": nicht quantitativ gemeint
Als Beispiel führt er die Komplexizität an, die analog zur Systematizität nicht quantizierbar ist, obgleich es verschiedene Grade an Komplexizität und Systematizität gibt.
2. Erläuterung:
These ist deskriptiv, nicht normantiv.
3. Komparativ: Andere Wissensarten müssen nicht unsystematisch sein.
Zitat von Hoyningen-Huene:
Andere Wissensarten müssen eben deswegen nicht unsystematisch sein, weil meine Behauptung lediglich ist, dass das wissenschaftliche Wissen eine höhreren Grad an Systematizität hat, als das nichtwissenschaftliche Wissen; damit nicht ausgeschlossen ist, dass das nichtwissenschaftliche Wissen selber auch systematisch ist.
Daraus folgt die
Möglichkeit eines gleitenden Überganges von Nichtwissenschaft zu Wissenschaft.
Der 2. Teil der Doppelstunde mit der 4. - u. 5. Erläuterung folgt vorausichtlich kommende Woche.