Anton B. hat geschrieben:Wir können gerne -- sofern Interesse vorhanden -- darüber diskutieren, ob Wissenschaft nicht auch als eine beständige Abfolge von Widerlegungen interpretiert werden kann.Kingdom hat geschrieben:Ob die Wissenschaft aber echt ein Interesse daran hätte sich selber zu widerlegen, das glaube ich weniger.
So ist es bisher immer gewesen, das ist die große Stärke der Wissenschaft. Ich glaube auch, dass die Religion nur eine Zukunft hat, wenn sie ähnlich entwicklungsoffen, lernfähig und kreativ verstanden wird, wie es bei der Wissenschaft der Fall ist. Denn wir leben im Zeitalter der Wissenschaft und Religion kann nur noch mithalten, wenn sie ein sinnvoller Gesprächspartner ist, anstatt nur „dagegen“ zu sein, wie es bei religiösen Fundamentalisten der Fall ist. Alfred North Whitehead sagte es ganz passend: „Religion will not regain its old power until it can face change in the same spirit as does science.“ (Quelle)
Anton B. hat geschrieben:Ja. Nichts anderes sagt letztlich übrigens auch Gould.Na also... Du bist doch der Meinung, es gibt einen Trend hin zur Komplexität.
Gerade aufgrund dieser Tatsache ist die Frage nach dem („welttragendenden, welthaltenden, weltgeleitenden“ H. Küng) Ursprung sehr vernünftig und naheliegend. Im Koran (den ich derzeit mit großer Faszination studiere) werden gerade die Natur und ihre gesetzmäßige Ordnung, als ein Zeichen und Argument für das Dasein Gottes gesehen und alle Menschen zu ihrer Beobachtung und Erforschung aufgerufen:
„Wenn die Verständigen und die mit Weisheit Begabten über die Schöpfung der Himmelskörper und der Erde nachdenken und die Ursachen des Wechsels von Tag und Nacht ernstlich studieren, finden sie in der Tat Zeichen und Argumente über das Dasein Gottes.“ (3:191-192)
„Nicht geziemte es der Sonne, daß sie den Mond einholte, noch darf die Nacht - die eine Manifestation des Mondes ist - dem Tag - der eine Manifestation der Sonne ist - zuvorkommen. Sie schweben - ein jedes in seiner Sphäre, die sie nicht verlassen können.“ (36:41)
„Kann es einen Zweifel geben über Gott, den Schöpfer solch wunderbarer Himmelskörper und solch wunderbarer Erde?“ (14:11)
Anstatt gegen die Evolutionstheorie zu argumentieren, wäre es eine deutlich bessere Strategie, wenn religiöse Menschen die Evolution akzeptieren und Gott einfach größer denken würden, als sie ihn bisher gedacht haben. Das ist ohnehin notwendig, denn „if life can make it here, it can make it anywhere.“ - wir wissen nicht, wie viele Galaxien es gibt, aber ich hörte mal die Zahl 500 Milliarden. Neulich las ich allerdings einen Artikel, in dem gesagt wurde, dass es noch beträchtlich mehr sind, als bisher angenommen wurde.
Es wäre eine ziemliche Platzverschwendung, wenn es nur auf der Erde Leben geben würde. Anstatt nur dumm gegen die Wissenschaft zu polemisieren, sollten sich religiöse Menschen mit der Realität beschäftigen, um gerade dadurch „in der Tat Zeichen und Argumente über das Dasein Gottes“ zu finden.
Es soll ja auch Menschen geben, die ihr Glaube zu wahren Wissenschaftlern machte oder die Wissenschaft zu wahrhaft religiösen/spirituellen Menschen

Das entspricht auch dem Verständnis des großen Tolstoj, der einen Glauben beschrieb, für den der Mensch nicht auf seinen Verstand verzichten muss:
In vielen Abhandlungen, Monographien und Artikeln theologischen Charakters – sie tragen Titel wie „Wessen sind wir?“ (1879), „Mein Glaube“ (1883/84), „Kurze Darlegung des Evangeliums“ (1881-83) oder Gedanken über Gott (1898) sowie in Briefen, Aphorismen, festgehaltenen Gebeten und Tagebucheinträgen hat Tolstoj von 1879 bis zu seinem Tod 1910 sein Gottesverständnis festgehalten und entwickelt. Seine beiden Vorstellungen von Gott als „Grund aller Gründe“ und als „Leben“ greift er vielfach auf. Dazu kommt noch die Beschreibung des lebendigen Gottes als einer Kraft, die das Leben verändert. Die erste Bezeichnung Gottes als „Ursache aller Ursachen“ oder „Anfang aller Anfänge“ entspricht Tolstojs Definition von Religion als vom Menschen festgelegtes Verhältnis der einzelnen Person zur unendlichen Welt oder deren Ursprung. Zu dieser Unendlichkeit hält er fest: „[...]was nicht Teil von etwas ist, sondern der Anfang aller Anfänge, eben dies nenne ich Gott“. Dieser Gottesbegriff ist für Tolstoj ein „vernünftiger Begriff“ (razumnoe ponjatie), für dessen Annahme der Mensch nicht auf seinen Verstand verzichten muss. Er hat dennoch die Dimension des Geheimnisses, denn dieser Anfang aller Anfänge außerhalb von Raum und Zeit ist ein unendlicher und damit unbegreiflicher, verborgen bleibender, der nur ergriffen werden kann in dem Willen, dass unerklärlich bleibe, was unerklärlich ist
[...]
Mit seiner Bezeichnung Gottes als „Leben“ oder „Quelle allen Lebens“ holt Tolstoj Gott aus der Jenseitigkeit in den Menschen. Denn erkennbar ist Gott als das Leben nur durch das Leben selbst und im Leben des einzelnen, nicht durch rationale oder dogmatische Begründungen. Nur in sich selbst kann der Mensch Gott erkennen. Aber auch hier bleibt Gott ein Geheimnis, jedoch im Menschen verortet, und zwar so, dass der Mensch mit der Quelle des Lebens kommunizieren kann im Gebet.
Quelle: Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker
Das ist ein Glaube, der sich vollkommen mit der Wissenschaft vereinbaren lässt, der einen weiteren Sinnhorizont erschließt, den mir eine kühle wissenschaftliche Ratio alleine niemals geben kann. Als Christen können wir Gott, als den Impulsgeber und die treibende und gestaltende Kraft der Evolution verstehen. Die Evolution kann, aber muss nicht materialistisch gedeutet werden.