Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Säkularismus
Geistliches und Weltliches verbinden
closs
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#91 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von closs » Sa 26. Sep 2015, 14:54

SilverBullet hat geschrieben:Allerdings vermute ich, dass der Umfang der „Relativität“ das Weltbild eines Menschen ganz schön durchschütteln kann.
Das wäre kein schlechtes Ziel.

SilverBullet hat geschrieben:Bei den uns bekannten Lebewesen (einschliesslich Mensch) ist mir nur eine Technik der Wahrnehmung bekannt
Wie Du zurecht sagst: "Technik".

SilverBullet hat geschrieben:Diese Technik sieht auf den ersten Blick harmlos aus, aber wenn es um Realität und Nicht-Realität geht, ist sie wie ein „eissener Vorhang“.
Das wäre wieder einmal einer dieser gefährlichen Momente, in denen das Instrument ("Technik") zu Weltanschauungen inspiriert. - Denn Deine Schlussfolgerungen sind
a) absolut richtig und folgerichtig, und
b) durch und durch weltanschaulicher Natur.

Sie sind es deshalb, weil Deine Aufteilung von "Realität" und "Nicht-Realität" den Eindruck erweckt, dass nicht sinnlich Wahrnehmbares nicht "real" sei. - Nun kann das sogar stimmen - nämlich wenn man definiert "Realität = sinnlich/naturwissenschaftlich Wahrnehmbares". - Dann aber kollidiert man mit der Philosophie-Geschichte (es gab Jahrhunderte, in denen die "Realien" geistige Dinge waren) und mit dem Alltagsverständnis (Du wirst keinen Christen finden, der Gott als "nicht real" bezeichnen würde, weil es so klingt, als gäbe es ihn nicht).

SilverBullet hat geschrieben:Wie ich am Anfang geschrieben habe, ergibt sich daraus ein Umfang der „Relativität“, der im ersten Moment erschreckend wirkt:
das Bewusstsein ist nicht die „Realität“.
Absolut sauber entwickelt. :thumbup: - in Deinem Modell ist es tatsächlich so.

Dann wäre aber die Frage: Wie würdest Du das nennen, was unabhängig davon, ob und wie wir etwas wahrnehmen, "ist" (bzw. sein kann). - Sicherlich könntest Du es nicht "Realität" nennen - diesen Begriff hast Du bereits besetzt. - Wie könnte man es aus Deiner Sicht nennen?

SilverBullet hat geschrieben:Wenn nun gesagt wird, das „ich bin“ sei die einzig sichere Beobachtung, dann stimmt das in keiner Weise.
Unterm Strich glaube ich das schon. - Dass es nach Deinem Modell nicht stimmt, glaube ich Dir unbesehen.

SilverBullet hat geschrieben:Folglich ist das „Ich“ lediglich eine praktische Vorstellung, ein Zusammenhang, innerhalb einer "Umweltkonstellation" (Gruppenverhalten) – dies wird von Neurowissenschaftlern bestätigt.
Nach DEREN Modell. - Aus meiner Sicht muss man hier tiefer schürfen.

SilverBullet hat geschrieben:Angenommen, das Bewusstsein ergäbe sich auf Basis einer Welt-Simulation, so dass das Gehirn und auch die Sinneszellenreizungen vollständig simuliert wären, dann könnte dies das Bewusstsein nicht aufdecken.
Zustimmung. - Das war auch vom Prinzip her Descartes bewusst - deshalb meint er (in meinen Worten):

"Mehr als das 'Ich-bin' können wir nur unter dem Vorbehalt erkennen, dass es einen wohlwollenden Gott gibt, der uns nicht verarschen will. Denn bereits, wenn ich an mir runtergucke, weiß ich nicht, ob der Bauch und die Beine, die ich sehe, "real" oder "eingebildet" sind." Am Ende kommt Descartes aus genau denselben Gründen wie Augustinus zum Ergebnis: "Ich kann zweifeln, wie ich will - aber DASS ich zweifeln kann, ist Nachweis dafür, dass ich bin: Cogito, ego sum" (das "eRgo" ist ein Printfehler der Pariser Druckerei, der sich bis heute gehalten hat). - Augustinus sagt dasselbe "Si enim fallor, sum" („Denn (selbst) wenn ich irre, so bin ich (doch).“)

closs
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#92 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von closs » Sa 26. Sep 2015, 15:00

Pluto hat geschrieben:Wahrnehmung ist aber ein "Haken" der in der Wirklichkeit gründet.
Natürlich. - Unzureichend, aber auch unverzichtbar.

Pluto hat geschrieben:Du meinst hier wohl das Dasein, nicht das Sein, nicht wahr?
Nein - ich meine "Sein". - Das "Seiende" hat sich authentisch zu entwickeln zu dem, wovon es Seiendes ist.

Pluto hat geschrieben:Oder ist das Sein inzwischen für dich mit dem Dasein deckunsgleich?
Nein - zwei unterschiedliche Kategorien.

Pluto hat geschrieben: Vom (metaphysischen) Sein aber, kann es keine Modelle erstellen. Auf welcher Basis sollte in solches Modell bauen?
Auf Basis geistiger Wahrnehmung. - Natürlich sind solche Modelle ebenfalls imperfekt - deshalb der Hermeneutische Zirkel.

Pluto hat geschrieben: Heutzutage sind wir gezwungen, Wissen von anderen zu übernehmen und dieses als Fakt hinzunehmen.
Man muss das aber auch überprüfen. - Wenn eine Philosophie der Zeit Begriffe ganz anders benutzt und definiert, als man es für das eigene Modell brauchen kann, muss man improvisieren bzw. definieren ("Im Kontext dieses Modells bedeute "x" folgendes: ...")

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Savonlinna
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#93 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Savonlinna » Sa 26. Sep 2015, 15:12

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Was ich sagen wollte: Du und keiner weiß, was jemand unter „Sein“ versteht.
Deshalb muss man definieren, was man damit meint. Das gilt für alle Worte: "Giraffe = das Tier mit dem langen Hals".
Orientiere Dich an den forschenden Wissenschaftlern: Wie machen die das?
Sie wollen eine Unterwasserwelt erforschen, wollen aber schon an Land definieren, was sie da unten finden werden?
No go.

closs hat geschrieben: Außerdem will ich nicht das ERGEBNIS definieren, sondern die Begriffe, die zu erforschen sind.
Du willst das Ergebnis definieren, das aus der semantischen Begriffsanalyse erst untersucht werden müsste?

Wie erforscht ein Sprachwissenschaftler die Nutzung des Begriffes "Nation" im Laufe der Jahrtausende?
Indem er schon mal selber definiert, wie man "Nation" verstanden hat?
Nein. Er untersucht die Nutzung des Begriffes Jahr für Jahr sozusagen, oder Jahrzehnt für Jahrzehnt.

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Wer hat das Wort „Sein“ geprägt und was wollte er mit dieser Wortschöpfung assoziieren?
Verstehe es als Synonym für "Entität" - das gibt es seit Jahrtausenden. - Wik sagt dazu:
Meine Frage lautete: Wer hat das Wort "Sein" geprägt? :)
Dein Zitat gibt auf diese Frage keine Antwort.
Es wäre aber als allererstes zu klären, was dieser Begriff durch die Jahrhunderte bedeutet hat, wozu er benutzt wurde.
Oder wann er zuerst für welchen Zweck benutzt wurde.

closs hat geschrieben: Für mich ist "Sein" das, was "ist", egal ob wir davon wissen oder nicht und egal ob es stofflicher oder geistiger Art ist.
Was aber eine extrem unexakte Aussage ist, vor allen Dingen viele unterschiedliche Vorstellungen in sich vereint, die außerdem nicht wirklich durchdacht scheinen.

Insofern kann ich mit dieser Definition nicht arbeiten.
Ich fand diesen Thread darum interessant, weil er so untypisch für Dich anfing:
Er sollte bei den sinnlichen Dingen beginnen.

Dann nämlich kann man sich hochschrauben, so wie man in einer Bergwelt klettert: Schritt für Schritt, und immer sich absichernd, dass man festen Boden unter den Füßen hat, bevor man den nächsten Schritt macht.

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Wäre diese Aussage so interpretierbar, dass man mit Wahrnehmung nur sich, aber nicht dem "Objekt" gerecht werden kann?
Ich verstehe nicht ganz Deine Frage.
Wie kann man dem Objekt gerecht werden, wenn man nur Wahrnehmung hat, die anthropozentrisch ist (das gilt auch für naturwissenschaftliche Wahrnehmung).
Welchem Objekt will ich denn gerecht werden?
Wir untersuchen doch gerade, wie Wahrnehmung passiert.
Und zwar bei uns, in unserem von der Subjekt-Objekt-Grammatik geprägten Denken.

Wenn Du essbare Pilze suchst, dann hast Du einen Objekt-Filter vor Dich gespannt. Du bist darauf konzentriert.
Du kannst den essbaren Pilzen doch nicht das essbar Seiende - oder von mir aus: das essbare Sein - absprechen.
Sie sind essbar, also haben sie unter anderem das Seins-Merkmal "essbar".
Für bestimmte Tiere sind sie vielleicht nicht essbar, also haben sie bei diesen Subjekten nicht das Seins-Merkmal "essbar".

Darin sieht man doch schon, dass "Sein" im Sprachgebrauch abhängig ist vom jeweiigen Subjekt.
Geht der expressionistisch empfindende Künstler in den Wald, um Pilze zu malen, dann nimmt er in den Pilzen ein Sein wahr, das dem expressionistischen Ausdruck entspricht.

Zwischenkonklusion:
"Wahrnehmung" ist das Produkt einer Subjekt-Objekt-Beziehung, wobei nicht ausmachbar scheint, wer was in welchem Maße initiiert hat.
Haben die Pilze etwas Expressionistisches von Haus aus an sich? Haben sie von Haus aus Essbares an sich?
Letzteres doch wohl nicht, da die Pilze für manche Tiere nicht essbar sind - hoffe ich jetzt mal, damit mein Beispiel funktioniert.
Und expressionistisch sind die Pilze von Haus aus auch nicht, allerdings auch nicht nicht-expressionistisch.
Vielleicht heißt das: die Dinge selber entziehen sich dem Dualismus. Wir tragen diesen Dualismus durch Wahrnehmung in sie hinein.
Pilze sind - von ihrer Warte aus betrachtet - weder essbar noch nicht-essbar. Das sind sie nur für die Fressenwollenden.

Folgerung daraus: Wozu Dinge benutzt werden, liegt nicht in den Dingen selbst.
Ihr "Sein" wird ihnen von den Nutzsuchenden zugesprochen.

Wenn ich Glück habe, closs, habe ich vielleicht gerade herausgefunden, wonach Du immer fragst, oder sagen willst, aber leider - in meinen Augen - mit Begriffen zukleisterst, dass ich da nie durchkomme.
Ich hab Ähnliches in den letzten Tagen mit Rem diskutiert:
Was immer ich von etwas oder jemandem "will": es hat nichts mit dem zu tun, was der Mensch oder das Tier oder das Ding "ist".
Meintest Du immer das?

Ich habe das Wort "ist" eben auch benutzen müssen, weil wir im Deutschen kein anderes haben. Ich müsste eins erfinden, um es davon abzuheben, dass wir die Seins-Eigenschaften eines Dinges oder eines Menschen aus unserem Wahrnehmungsinteresse heraus den Menschen oder Dingen zusprechen.

Noch am schlauesten fand ich die Antwort, die ich vor über 40 Jahren mal von einem zweijährigen Kind bekommen habe.
Dieses Kind konnte schon mit zwei Jahren komplett sprechen, und ich hab das ein paarmal genutzt, um herauszufinden, wie Zweijährige denken.
Ich fragte das Kind also und zeigte auf einen Besen: ""Was macht der Besen?"
Antwort wie aus der Pistole geschossen: "Der Besen best".

Gelänge es, alle Wertungen gegenüber Menschen und Dingen herauszuhalten, könnte man sagen: Der Ast astet, der Hund hundet.
Meist aber haben wir da schon unsere Vorurteile mitformuliert und meinen, der Hund sei typisch Hund, und meinen damit genau das nicht, was ich jetzt meinte:

dass ein Hund nichts mit dem zu tun hat, was ich als Mensch von ihm will.
Unsere Seinszusprechungen - der Hund ist süß, der Hund ist gescheckt, der Hund ist bissig - haben alle nichts mit dem zu tun, was der Hund selber "ist".
Für das letzte "ist" würde ich gerne ein anderes Wort finden.

Die Frage käme aber jetzt bei mir auf:
Kann man etwas wahrnehmen, ohne dem Wahrgenommenen ein Seinsmerkmal zuzusprechen?
Oder anders ausgedrückt: kann ich etwas, an dem ich kein Interesse habe, überhaupt wahrnehmen?

Aber auch das muss ich jetzt sagen:
Wenn ich mit dem, was ich oben in meinem Text blau gefärbt habe, den Nagel auf den Kopf getroffen habe, dann wäre ich mit Dir schon seit vierzig Jahren einig.
Allerdings ging mein Weg dahin über das Zusprechen von Eigenschaften, die aus dem Nutzdenken entspringen.
Was ein Hund oder ein Mensch oder ein Stein ist, welche ich "ohne Bedürfnis" betrachte - das ist mir unbekannt.

Meine Frage ist ja grad, ob das überhaupt betrachtbar oder wahrnehmbar wäre.

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#94 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Anton B. » Sa 26. Sep 2015, 15:19

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Der im Wasser gebrochene Ast ist durchaus ein Produkt der Wahrnehmung.
Da bin ich nicht sicher - nehmen wir zwei Fälle:

Ich sehe meine Nachbarin, die mir nach einer Ladung LSD vorkommt wie Aphrodite - das wäre aus meiner Sicht "Produkt der Wahrnehmung". - Ich sehe einen durch Lichtbrechung geknickten Ast im Wasser - das wäre aus meiner Sicht KEIN "Produkt der Wahrnehmung".
So, wie Savonlinna, sieht es die Wissenschaftstheorie auch. Danach existieren Beobachtungstheorien und die Beobachtungstheorie der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer Aufbereitung sagt bei der Berücksichtigung psychoaktiver Substanzen unterschiedliche Wahrnehmungen voraus.
Die Eiche "ist" - sie steht da - mit oder ohne Wildschweine.

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#95 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Savonlinna » Sa 26. Sep 2015, 15:22

Pluto hat geschrieben:Wahrnehmung ist aber ein "Haken" der in der Wirklichkeit gründet. Unser Gehirn hat sich nicht dazu entwickelt, um die Wahrnehmung zu verstehen, sonder um uns in der realen Welt zu dienen und zurecht zu finden.
Seit wann denkst Du teleologisch, Pluto?
Es gibt noch Zeichen und Wunder.
Das teleologische Denken erwischt am Ende jeden.

Pluto hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Die eigentliche Norm sollte sein, wie sehr die Wahrnehmung mit dem Sein koinzidiert.
Du meinst hier wohl das Dasein, nicht das Sein, nicht wahr?
Oder ist das Sein inzwischen für dich mit dem Dasein deckunsgleich?
Ihr wechselt alle Eure Positionen. :D
Ich vielleicht auch, wer weiß.

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#96 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Pluto » Sa 26. Sep 2015, 16:29

Savonlinna hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Wahrnehmung ist aber ein "Haken" der in der Wirklichkeit gründet. Unser Gehirn hat sich nicht dazu entwickelt, um die Wahrnehmung zu verstehen, sonder um uns in der realen Welt zu dienen und zurecht zu finden.
Seit wann denkst Du teleologisch, Pluto?
Inwiefern ist das teleologisch?
Es ist für mich eine Logik der Evolution, dass alle unsere Organe sich entwickelt haben um das Überleben in einer (meist feindlichen) Umwelt zu ermöglichen. Die Nachfahren derjenigen mit weniger ausgefeilter Wahrnehmung haben sich nicht vermehrt -- salopp gesagt: sie sind zum Mittagessen der Säbelzahntiger geworden.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#97 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Pluto » Sa 26. Sep 2015, 16:30

Savonlinna hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Wahrnehmung ist aber ein "Haken" der in der Wirklichkeit gründet. Unser Gehirn hat sich nicht dazu entwickelt, um die Wahrnehmung zu verstehen, sonder um uns in der realen Welt zu dienen und zurecht zu finden.
Seit wann denkst Du teleologisch, Pluto?
Inwiefern ist das teleologisch?

Es ist für mich eine Logik der Evolution, dass alle unsere Organe sich entwickelt haben um das Überleben in der (meist feindlichen) Umwelt zu ermöglichen. Die Nachfahren derjenigen mit weniger ausgefeilter Wahrnehmung haben sich nicht vermehrt -- salopp gesagt: sie sind zum Mittagessen der Säbelzahntiger geworden.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#98 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von closs » Sa 26. Sep 2015, 16:32

Savonlinna hat geschrieben:No go.
Natürlich No Go. - Darf das davon abhalten, grundlegende Begriffe zu definieren?

Savonlinna hat geschrieben:Du willst das Ergebnis definieren, das aus der semantischen Begriffsanalyse erst untersucht werden müsste?
Nein - siehe oben:
Savonlinna hat geschrieben:Außerdem will ich nicht das ERGEBNIS definieren, sondern die Begriffe, die zu erforschen sind.

Savonlinna hat geschrieben:Wie erforscht ein Sprachwissenschaftler die Nutzung des Begriffes "Nation" im Laufe der Jahrtausende? Indem er schon mal selber definiert, wie man "Nation" verstanden hat? Nein.
Natürlich nicht - was hat das mit dem Thema zu tun?

Savonlinna hat geschrieben:Meine Frage lautete: Wer hat das Wort "Sein" geprägt? :) Dein Zitat gibt auf diese Frage keine Antwort. Es wäre aber als allererstes zu klären, was dieser Begriff durch die Jahrhunderte bedeutet hat, wozu er benutzt wurde. Oder wann er zuerst für welchen Zweck benutzt wurde.
"Als allererstes" NICHT - wiewohl es ein interessantes Thema wäre.

Würde man Deinen Weg gehen, gäbe es unendliche Diskussionen, die mit Sicherheit zu keinem Ergebnis führen würden - alleine schon deshalb, weil dazu ein Leben nicht reichen würde. - Es geht hier nicht um Philosophie-Geschichte, sondern um Substanz.

Savonlinna hat geschrieben: Für mich ist "Sein" das, was "ist", egal ob wir davon wissen oder nicht und egal ob es stofflicher oder geistiger Art ist.


Was aber eine extrem unexakte Aussage ist
Warum ist es so schwer zu vermitteln, dass es etwas jenseits unserer Wahrnehmung etwas geben könnte? - Auch DAS ist ungenau formuliert - aber versteht man wirklich nicht die Substanz dieser Aussage? - Einfachste Dinge sind offensichtlich nicht mehr kommunizierbar.

Savonlinna hat geschrieben:Ich fand diesen Thread darum interessant, weil er so untypisch für Dich anfing: Er sollte bei den sinnlichen Dingen beginnen.
Insofern durchaus so gemeint, weil "Sein" (= Entität/Existenz/Realität/Wirklichkeit/??? unabhängig von unserer Wahrnehmung) selbstverständlich auch in unserem Wahrnehmungs-Bereich "ist" ("unabhängig von Wahrnehmung" heisst ja nicht "nicht wahrnehmbar"). - Insofern ist es wirklich egal, ob man über "Giraffe" oder "Gott" spricht.

Savonlinna hat geschrieben:Wir untersuchen doch gerade, wie Wahrnehmung passiert.
Wir untersuchen in erster Linie, wie und ob "Wahrnehmung" und "Sein" korrelieren:
* Ist ALLES Wahrnehmung ("Ist die Wahrnehmung weg, ist alles andere auch weg") ??
* Ist ALLES wahrnehmbar, was ist?
* Ist das, was ist, unabhängig davon, ob es wahrgenommen wird/wahrnehmbar ist oder nicht?

Wieviel sagt die Untersuchung der Wahrnehmung nach Deiner Auffassung über diese Fragestellungen aus?

Savonlinna hat geschrieben:Welchem Objekt will ich denn gerecht werden?
Dem Objekt, das Du untersuchen willst.

Savonlinna hat geschrieben:Wenn Du essbare Pilze suchst, dann hast Du einen Objekt-Filter vor Dich gespannt.
Das ist Wahrnehmung. - Ob diese Wahrnehmung authentisch ist, zeigt sich dann.

Savonlinna hat geschrieben:Du kannst den essbaren Pilzen doch nicht das essbar Seiende - oder von mir aus: das essbare Sein - absprechen.
Wer käme darauf? - Aber das Attribut "essbar" ist ein Wahrnehmungs-Begriff, den Du genauso bei Badewannen anwenden könntest. Will heißen: Die Entität des Pilzes ist nicht dadurch definiert, dass er zufällig für uns essbar ist. - Die Essbarkeit wäre eine Schlussfolgerung aus objektiven Kriterien (chemische Zusammensetzung) - eine Schlussfolgerung, die nur im Kontext des Subjekts sinnvoll ist. - Für die die chemische Zusammensetzung des Pilzes ist dieser Kontext nicht nötig.

Savonlinna hat geschrieben:Darin sieht man doch schon, dass "Sein" im Sprachgebrauch abhängig ist vom jeweiigen Subjekt.
Genau das dürfte meines Erachtens NICHT die Definition von "Sein" sein. Denn dann wäre das Objekt abhängig vom Subjekt - die Welt als Vorstellung. - Meinst Du das so?

Savonlinna hat geschrieben:"Wahrnehmung" ist das Produkt einer Subjekt-Objekt-Beziehung
Yep.

Savonlinna hat geschrieben: wobei nicht ausmachbar scheint, wer was in welchem Maße initiiert hat.
Hieße das, dass das Objekt Initiierendes sein kann? - Der Pilz initiiert, weil er essbar ist?

Savonlinna hat geschrieben:Haben die Pilze etwas Expressionistisches von Haus aus an sich? Haben sie von Haus aus Essbares an sich?
Eben genau nicht - alles Wahrnehmung.

Savonlinna hat geschrieben:Vielleicht heißt das: die Dinge selber entziehen sich dem Dualismus. Wir tragen diesen Dualismus durch Wahrnehmung in sie hinein.
:thumbup: :thumbup: - Genau so sehe ich es auch.

Savonlinna hat geschrieben:Pilze sind - von ihrer Warte aus betrachtet - weder essbar noch nicht-essbar. Das sind sie nur für die Fressenwollenden.
Bingo.

Savonlinna hat geschrieben:Folgerung daraus: Wozu Dinge benutzt werden, liegt nicht in den Dingen selbst. Ihr "Sein" wird ihnen von den Nutzsuchenden zugesprochen.
Somit ist es strenggenommen kein "Sein", das man ihnen zuspricht, sondern eine Wahrnehmung, die im besten Falle authentische Perspektive auf das Sein ist ("authentisch" im Sinne von: Wahrnehmung trifft ihr Ziel und schießt nicht daneben).

Savonlinna hat geschrieben:Wenn ich Glück habe, closs, habe ich vielleicht gerade herausgefunden, wonach Du immer fragst, oder sagen willst
Ja - ich glaube auch, dass wir EINEN Aspekt schön getroffen haben.

Savonlinna hat geschrieben:Was immer ich von etwas oder jemandem "will": es hat nichts mit dem zu tun, was der Mensch oder das Tier oder das Ding "ist".
Meintest Du immer das?
Das ist ein wesentlicher Teil dessen, was ich sagen will - ja.

Savonlinna hat geschrieben:Ich habe das Wort "ist" eben auch benutzen müssen, weil wir im Deutschen kein anderes haben.
Heidegger hat für das Vollverb "sein" "wesen" gesagt. - "Die Frau ist schön - die Frau west (im Sinne von "ist" - nicht zu verwechseln mit "ver-wesen" :geek: :lol: ).

Savonlinna hat geschrieben:Antwort wie aus der Pistole geschossen: "Der Besen best".
Genau das kommt oft in der Buber-Übersetzung des Alten Testaments vor - Buber übersetzt sehr genau und dadurch archaisch).

Meine 5-jährige Tochter hat übrigens auch mal einen philosophischen Hammer losgelassen, der hier reinpasst: Ich hatte sie mit irgendwas veräppelt, was sie durchschaut hat - darauf sagte sie: "Das 'ist' (west) nicht so, das heißt nur so". - Ein ultra-geiler Satz, von dem sich die Philosophie des 20./21. Jh. eine Scheibe abschneiden sollte.

Savonlinna hat geschrieben:Die Frage käme aber jetzt bei mir auf: Kann man etwas wahrnehmen, ohne dem Wahrgenommenen ein Seinsmerkmal zuzusprechen? Oder anders ausgedrückt: kann ich etwas, an dem ich kein Interesse habe, überhaupt wahrnehmen?
Beides geht in der Tat (aus meiner Sicht) NICHT.

Wahrnehmung ist IMMER subjektiv kontaminiert (oder "veredelt" - wer weiß). - Und - so sagt Heidegger (den wir gleich wieder vergessen, weil wir selber entwickeln wollen): Sein muss durch das Seiende thematisiert sein, um im Seienden bewusst/erkennbar zu sein. - Wirken kann Unerkanntes trotzdem (dazu muss man nicht thematisieren - das geht von alleine) - aber Bewusstsein geht nur via Thematisierung. - Ganz nebenbei: Diese Erkenntnis ist EINE Antwort in der Theodizeefrage: Wirkendes Leid zwingt zu Thematisierung.

In diesem Zusammenhang fällt mir übrigens eins, dass vieles ent-thematisiert wird, indem man Sprache ändert. Das kann dazu führen, dass komplette Bewusstseins-Universen bewusstseins-mäßig verloren gehen - eine Krankheit der Moderne. - Aber das wäre schon wieder ein anderes Thema.

Savonlinna hat geschrieben:Wenn ich mit dem, was ich oben in meinem Text blau gefärbt habe, den Nagel auf den Kopf getroffen habe, dann wäre ich mit Dir schon seit vierzig Jahren einig.
Gut möglich. - Dann wäre die nächste Frage: Bist Du damit einverstanden, dass das "Wesen" des Objekts (das, was es 'west') unabhängig ist von Wahrnehmung des Objekts?

Savonlinna hat geschrieben:Was ein Hund oder ein Mensch oder ein Stein ist, welche ich "ohne Bedürfnis" betrachte - das ist mir unbekannt.
Das ist das eine - das andere wäre: Kann es "authentische" und "nicht-authentische" Bedürfnisse geben? - Also solche, die mit dem Wesen des Objekts koinzidieren, und solche, die es NICHT tun?

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#99 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Savonlinna » Sa 26. Sep 2015, 16:43

Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Wahrnehmung ist aber ein "Haken" der in der Wirklichkeit gründet. Unser Gehirn hat sich nicht dazu entwickelt, um die Wahrnehmung zu verstehen, sonder um uns in der realen Welt zu dienen und zurecht zu finden.
Seit wann denkst Du teleologisch, Pluto?
Inwiefern ist das teleologisch?

Siehe hier:

Wikipedia hat geschrieben:Teleologie (altgriechisch τέλος télos „Zweck, Ziel, Ende“ und λόγος lógos „Lehre“) ist die Lehre, dass Handlungen oder überhaupt Entwicklungsprozesse an Zwecken orientiert sind und durchgängig zweckmäßig ablaufen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Teleologie

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#100 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Pluto » Sa 26. Sep 2015, 16:47

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Wahrnehmung ist aber ein "Haken" der in der Wirklichkeit gründet.
Natürlich. - Unzureichend, aber auch unverzichtbar.
Unsere Wahrnehmung ist für den Alltag völlig ausreichend. Was will man mehr?


closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben: Heutzutage sind wir gezwungen, Wissen von anderen zu übernehmen und dieses als Fakt hinzunehmen.
Man muss das aber auch überprüfen.
Dazu reicht uns weder die Zeit noch die Kompetenz. Wir sind gezwungen, Erkenntnisse anderer auf Vertrauensbasis anzunehmen.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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