Thaddäus hat geschrieben:Pluto hat geschrieben:Eine Frage, die sich mir immer wieder stellt... Sind Spiritualität und Religion wie zwei Seiten einer Münze?
Kann es nicht spirituelle Erlebnisse geben, ohne dass man gleich eine Gottheit dahinter vermutet?
Um spirituell zu sein, bedarf es keines Gottes oder Göttern und somit auch keiner Religion. Jedenfalls dann, wenn man Religion als etwas versteht, zu dem der Glaube an einen Gott oder Götter zwingend dazu gehört. Spiritualität gibt es nachweislich, seitdem es Menschen gibt.
Der moderne Mensch (homo sapiens sapiens) existiert seit mindestens 200 000 Jahren. Seit gerade einmal 2000 Jahren gibt es das Christentum. Die ältesten Anzeichen religöser Vehrehrung von möglicherweise "Göttern" hat man in Anatolien auf dem Göbekli Tepe ausgegraben, wobei von den gefundenen T-förmigen Pfeilern, die teilweise Tierreliefs aufweisen, offenbar nicht klar ist, ob sie wirklich als "Götter" verehrt wurden.

Fest steht aber, dass es eine religiöse Kultstätte war. Sie ist vor etwa 11 000 Jahren errichtet worden, zu einer Zeit also, als die Menschheit gerade seßhaft wurde. Die mindestens 190 000 Jahre davor lebten die Menschen als umherziehende Jäger, Sammler und Nomaden.
Dem Götterglauben voraus geht der
Ahnenkult, also der Glaube daran, dass die verstorbenen Vorfahren immer noch irgendwie "da" sind und den Nachfahren helfen bei ihrem täglichen Überlebenskampf. Spiritualität zeigte sich zum ersten Mal darin, als der prähistorische Mensch seine Toten nicht einfach entsorgte, sondern sie begrub und ihnen irgendwann Gabbeigaben mit ins Grab legte, was bezeugt, dass sie offenbar glaubten, der Tote könne diese Beigaben irgendwann und irgendwo gebrauchen. Spiritualität zeigt sich auch in den Tierabbildungen in allen prähistorisch besiedelten Höhlen, die eine enge spirituelle Beziehung der frühen Jäger mit den Tieren nahelegen, die sie jagten und töteten, um selbst überleben zu können. Sie waren unmittelbar abhängig von den Tieren und davon, dass diese jedes Jahr wiederkamen und sich töten ließen. Spiritualität zeigt sich auch im Höhlenbär-Kult der Neandertaler, die in vermutlich ritueller Absicht, Knochen durch die Augenhöhlen von Höhlenbärschädeln steckten. So wurden sie jedenfalls gefunden.
Wir heute sind die Nachfahren der Menschen, die seit 200 000 Jahren überlebten und die ihre eigenen Erfahrungen mit sich selbst als soziale Wesen mit ihrer eigenen Psyche und mit der Natur gemacht haben, in der sie lebten und überleben mussten. Uralte archetypische Bilder und Strukturen prägen auch heute noch unser Leben und vor allem die Geschichten, die wir uns erzählen. Kein moderner Blockbusterfilm kommt ohne sie aus. Solche Archetypen sind z.B. die
Reise des Helden, weil jeder Mensch sich in eigenen Abenteuerfahrten bewähren muss (von Schulprüfungen bis zur letzten Reise in den Tod, die jeder antreten muss; die
Wiederauferstehung (des Helden), weil die Natur in ewigen Kreisläufen sich stets erneuert; das
Mentoren-Schüler-Verhältnis, weil jede neue Generation ausgebildet werden muss; der Archetyp der
Mutter mit dem Kind, weil die erste Beziehung und Liebe, die jeder Mensch in seinem Leben hat, die zu seiner Mutter ist, die ihn nährt und beschützt; der Archetyp der (symbolischen)
Tötung des Vaters, weil jede neue Generation sich von Eltern und Elternhaus trennen muss, um selbst neue Familien gründen zu können und insbesondere der Sohn die Dominanz des Vaters abschütteln muss, um selbst ein Mann werden zu können; der
Archetyp des Schattens als des großen Widersachers, des Drachens und der Bestie, der einen selbst zu fressen und die Welt zu zerstören droht, weil jeder Mensch gute wie schlechte Eigenschaften hat, und er seine verdrängten schlechten Eigenschaften erkennen muss, um ein soziales und liebendes Wesen sein zu können usw.usf.
In Mythen und Märchen, Romanen und Filmen werden diese und andere existenzielle Themen wieder und wieder behandelt und es wird in ihnen in symbolischer Weise aufgezeigt, welche Erfahrungen frühere Generationen gemacht haben und was sie uns an Lebensweisheit lehren können. Das ist in meinen Augen nichts anderes als Spiritualität und insofern sind natürlich auch alle Religionen spirituell.