1.
Die Seele: Ich bekenne es Euch, Frau Liebe, sagt diese Seele: Es gab eine Zeit, da stand ich im Dienst der Tugenden, aber jetzt hat Eure Vornehmheit mich daraus befreit. Und deshalb kann ich jetzt zu ihnen sagen und singen:
Tugenden! Ich nehme Abschied von euch für immer! Mein Herz ist nun ganz frei und heiter gestimmt. Euer Dienst ist zu beschwerlich, das weiß ich sehr wohl. Früher habe ich mein Herz rückhaltlos an euch gehängt. Ihr wisst, dass ich euch ganz hingegeben war. Ich war eure Leibeigene, aber jetzt bin ich befreit. Mein ganzes Herz hatte ich an euch gehängt, ich weiß es wohl. So lebte ich eine Zeitlang in großer Bedrängnis. Viele Qualen habe ich erlitten und große Schmerzen erduldet. Es ist ein Wunder, dass ich da lebend herausgekommen bin! Nun, so war es, und jetzt, da es vorbei ist, macht es mir nichts mehr aus: Ich bin von euch losgelöst! Dafür danke ich Gott im Himmel – gut war jener Tag für mich! Ich bin eurer Herrschaft entzogen, die mir viel Verdruss bescherte. Niemals war ich freier, als da ich geschieden von euch war. Ich bin aus eurer Gewalt entkommen und ruhe jetzt im Frieden.
2.
Die Liebe: Diese Seele, sagt die Liebe, achtet weder auf Schande noch auf Ehre, weder auf Armut noch auf Reichtum, weder auf Unbehagen noch auf Wohlgefühle, weder auf Liebe noch auf Hass, weder auf die Hölle noch auf das Paradies.
Der Verstand: Ah, um Gottes willen, Liebe!, sagt der Verstand, was soll das heißen, was Ihr da sagt?
Die Liebe: Was das heißt?, sagt die Liebe. Gewiss, das versteht nur derjenige und kein anderer als der, dem Gott den Geist des Verstehens gegeben hat – ihn lehrt weder die Schrift, noch begreift es der menschliche Geist, noch nützt das kreatürliche Bemühen nach Begreifen und Innewerden etwas. Diese Gabe stammt vielmehr vom Allerhöchsten, in den dieses Wesen entrückt wurde durch die Fülle an Erkenntnis, in der nichts von ihrem Eigenen verblieb. Und eine solche Seele, die ein Nichts geworden ist, besitzt dann alles und besitzt doch nichts, will alles und will nichts, weiß alles und weiß doch nichts.
[
Marguerite Porete, Le Miroir des simples âmes anéanties. Auswahl und Reihung: Andreas Marschler. Übersetzung: Siglinde Schnitzler ]
Quelle