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von erbreich » Do 26. Dez 2013, 13:29
Gibt es die spirituelle Wahrheit? Die eine, die einzige höchste Wahrheit? Oder sind wir genötigt, uns damit zu begnügen, dass es bloss Wahrheiten im Sinne von Ansichten, Meinungen, Überzeugungen gibt? Wem die Wahrheit ein echtes Anliegen ist, der wird sich allerdings kaum durch Überzeugungen und Ansichten beschwichtigen lassen. Er wird nicht ruhen, bis er die Wahrheit gefunden hat. Und dass es die Wahrheit gibt, und dass sie gefunden werden kann, bestätigen uns sowohl der Buddha als auch der Christus (Pali-Kanon und Bibel):
Eins ist die Wahrheit, nicht gibt's eine zweite, -
Sie kennend, wird hierbei der Mensch nicht streiten!...
Nicht gibt es Wahrheit vielerlei, verschieden,
Von ew'ger Geltung in der Welt, es sei denn bloß im Dünken.
Doch wenn ihr Grübeln sie in Theorien festgelegt,
Dann sprechen sie vom Doppelding der Wahrheit und des Irrtums.
(Buddha: Sutta-Nipata; Verse 884 und 886)
Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen,
daß ich für die Wahrheit Zeugnis gebe.
Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme.
(Christus: Joh 18,37b)
Da es für mich keinerlei Veranlassung gibt, einen dieser beiden grossen Menschheitslehrer als Lügner zu diffamieren, sehe ich in ihrer beider Leben und Lehren Zeugnisse der einen Wahrheit. Wenn wir einen der beiden als wahr, den andern aber als Lügner oder Irrlehrer hinstellen, dann haben wir uns – gemäss obigen Worten des Buddha – in unseren Theorien und Grübeleien verloren. Somit wird uns eines offensichtlich: Die Wahrheit ist nicht an Name und Form gebunden. Durch Name und Form versuchen wir uns über das jeweilige Mass unserer Erkenntnis der Wahrheit zu verständigen. Wenn wir darüber in Streit geraten, dann bezeugen wir damit nicht die Wahrheit, sondern nur unser Festhalten an unseren Ansichten und Meinungen über die Wahrheit. Daran ändert sich auch nichts, wenn wir unsere Theorien aus einem der Heiligen Bücher der Menschheit ableiten und darin begründet sehen. Wenn wir unsere Überzeugungen für die Wahrheit halten, tappen wir tief im Dunkel der Verblendung herum. Es ist eine dringliche Notwendigkeit, dass wir lernen, zwischen der Wahrheit und dem Bild, in das wir sie zu Verständniszwecken kleiden, zu unterscheiden. Auf diese Notwendigkeit weist uns auch der Apostel Paulus in einem seiner Briefe hin:
Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.
(Paulus: 2.Kor 3,6)
Wo immer am Buchstaben als an der Wahrheit festgehalten wird, da entstehen Zwietracht und Leiden. Wer für Überzeugungen kämpft, kämpft entgegen seiner Meinung gerade nicht für die Wahrheit. Wer die Wahrheit wirklich kennt und aus ihr lebt, der wird weder in ihrem Namen, noch für sie Streit oder Krieg anzetteln oder auch nur in Kauf nehmen. Denn wer die Wahrheit erkannt und in seiner eigenen Existenz verwirklicht hat, der lebt in der Welt und der Welt gegenüber in Freiheit:
Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.
(Christus: Joh 8,32)
Wer sich selber frei weiss, wird nicht seinen Mitmenschen der Freiheit berauben. Weder physisch, noch spirituell. Er wird ihm nicht die Wahrheit absprechen und ihn als ‚Ungläubigen’ bezeichnen, gleichzeitig jedoch sich selber eigenhändig zum ‚Gläubigen’ erhöhen – unter Berufung auf irgendeine äussere Autorität (sei diese Mensch, Gott oder Heilige Schrift). Wer sich selber frei weiss, sieht im Gegenteil die ganze Schöpfung als existenziell frei und wird jedem Mitmenschen diese Freiheit zusprechen und zugestehen. Er wird – wie es der Buddha in der Rede an die Kalamer getan hat – jeden Menschen ermutigen, nicht auf äussere Autoritäten abzustellen, sondern nur nach dem zu handeln, was er selber durchdrungen und als wahr erkannt hat:
Geht, KÄlÄmer, nicht nach Hörensagen, nicht nach Überlieferungen, nicht nach Tagesmeinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen und logischen Schlüssen, nicht nach erdachten Theorien und bevorzugten Meinungen, nicht nach dem Eindruck persönlicher Vorzüge, nicht nach der Autorität eines Meisters! Wenn ihr aber, KÄlÄmer, selber erkennt: 'Diese Dinge sind unheilsam, sind verwerflich, werden von Verständigen getadelt, und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Unheil und Leiden', dann, o KÄlÄmer, möget ihr sie aufgeben. Und wenn ihr, KÄlÄmer, selber erkennt: 'Diese Dinge sind heilsam, sind untadelig, werden von den Verständigen gepriesen, und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Segen und Wohl’, dann, o KÄlÄmer, möget ihr sie euch zu eigen machen.
(Buddha: Anguttara Nikaya; III.66)
Es ist damit jedes Menschen eigene Lebensgeschichte und Lebensweg, ob er die Wahrheit unter diesem oder jenem Zeichen, Symbol, Bildnis kennen und verstehen lernt. Es ist auch jedes Menschen individueller Reifegrad, wo er in der Erkenntnis und Verwirklichung der Wahrheit in seinem eigenen Leben gerade steht.