Alles Teufelszeug? II

SilverBullet
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#1 Alles Teufelszeug? II

Beitrag von SilverBullet » Mi 9. Mär 2016, 15:17

abgetrennt aus: Alles Teufelszeug?
closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Auf der einen Seite könnte es sich um die Phänomene der Wahrnehmung handeln.
Und schon legst Du Dich, als wäre es selbstverständlich, auf naturalistische Wahrnehmung fest.
Nein, mit „Phänomen“ wird lediglich ausgedrückt, dass es der menschlichen Wahrnehmung nicht bekannt ist, wie es zu dem „Irgendwie-Sein beim Erleben“ kommt.

In meiner Vermutung (meinem Weltbild) versuche ich die Situationen sogar ohne Phänomene zu erklären, wobei aber dennoch das „Erkennen von Phänomenen“ verwendet wird => ein Verstehen in Form eines „mentalen Reagierens“ ohne den Anlass eines tatsächlichen Phänomens.
Ich danke daran erkennt man, dass ich mein Weltbild gar nicht verwende, wenn ich erst einmal die „Sicht der Wahrnehmung“ beschreibe.

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Im zweiten Fall gibt es keinen Anlass von einem direkten Erleben oder von einem Kontakt auszugehen.
Darfst Du aber.
Nein, dafür müsstest du zuerst viel mehr Details liefern

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:von einem Beobachten von „geistigen Dingen“ kann keine Rede sein.
Das ist eine kritisch-rationalistisch-methodische Schlussfolgerung, die vermutlich korrekt ist, aber nichts über die "wirkliche Wirklichkeit" aussagt.
Nein, es ist keine „kritisch-rationalistisch-methodische Schlussfolgerung“ sondern eine Wahrnehmungsbeobachtung – ich erkläre doch noch überhaupt nichts, sondern beschreibe nur die Wahrnehmung – das könntest du genauso, wenn du alle Weltbilder abschalten würdest, die dir sagen/suggerieren, was du feststellen sollst.

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Auf dieser Basis redest du dir ein, dass das, was nicht wahrgenommen wird, „da“ sein soll.
Wer sagt, dass es nicht wahrgenommen wird? - Es wird nicht im Sinne naturalistischer Methodik wahrgenommen, aber die Leute nehmen es doch trotzdem wahr.
Es sind nur Behauptungen, ohne dass Details geliefert werden – das ist rein gar nichts.

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Dabei sollte Wahrnehmung selbst aber erst einmal weltbildunabhängig ablaufen
Korrekt. - Meinst Du, die fromme Bauersfrau des Mittelalters hatte ein dezidiertes Weltbild?
Wenn ich es richtig verstanden habe, wurde im Mittelalter dafür gesorgt, dass die einfachen Leute dem Weltbild-Verständnis der Mächtigen folgen. Die Kirche hatte ein grosses Problem damit, als die Bibel jedermann zugänglich sein sollte – warum wohl?

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:habe ich bereits „ein paar Beiträge zurück“ geschrieben, dass Philosophen gewisse „Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit“ zu haben scheinen.
Weil Du "Wirklichkeit" methodisch definierst.
Nein, „phänomenal“, also rein über die "bautechnisch" festgelegten Wahrnehmungsfähigkeiten.

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Philosophie und Religion missinterpretieren die Bedeutungszusammenhänge der Wahrnehmung und erfinden sich neue Bereiche
Nichtsdestoweniger darfst Du davon ausgehen, dass geistige Dinge nicht er-funden, sondern ge-funden werden - sie sind also unabhängig von Deiner Wahrnehmung da.
Davon werde ich nicht ausgehen, denn es ist nichts weiter als ein lustiges Gerücht unter Philosophie- und Religionsanhängern, welches sich nur dadurch halten kann, dass keine Details geliefert werden.

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Savonlinna
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#2 Re: Alles Teufelszeug?

Beitrag von Savonlinna » Mi 9. Mär 2016, 16:21

Thaddäus hat geschrieben:
closs hat geschrieben: An anderer Stelle hatten wir es schon einmal davon, dass Philosophie auch prospektiv sein kann - sprich:
Was bedeutet (hier) Plato, wenn man Phänomene (bspw: Christentum) mit einbezieht, die Plato selbst noch nicht kennen konnte, auf die seine Aussagen aber passen (oder nicht passen).
Es gibt keine christlichen Aussagen, die auf Platon passen. Es gibt aber platonisches Gedankengut, welches sich im heutigen Christentum findet, weil es dort eingebaut worden ist. Geistesgeschichtlich ist die Entwicklungslinie völlig klar. Deswegen ist auch jeder Versuch, geistesgeschichtliche Entwicklungen und Strömungen aus Sicht des Christentums rückblickend christlich zu deuten absurd, weil es die tatsächliche geistesgeschichtliche Entwicklung umkehrt. Allenfalls finden sich geistesgeschichtliche Entwicklungen und philosophische Ideen im Christentum. Niemals aber umgekehrt.

Was closs vorchwebt, scheint nicht das Nachzeichnen einer historischen Entwicklung zu sein, sondern das Erstellen einer Systematik.
Paralleles dazu gibt es auch in der Literaturwissenschaft Ähnliches:
Neben der Literaturgeschichte findet man poetische Formen heraus, Gattungen, durchgängige Motive etc.
Letztere aber werden ebenfalls in ihrer historischen Entwicklung aufgezeigt.

Allerdings will closs noch mehr: er will aufzeigen, dass hinter allem ewige Ideen stehen.
Ich kann das bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen - jeder musische Mensch kann das, denke ich. Man hat oft das Gefühl, dass hinter einem Detail eines Gedichts etwas schon immer Dagewesenes steht, etwas Ur-Bekanntes. Von mir aus: Archetypisches.
So, als sei dieser Ton, den man da gerade auf dem Klavier anschlägt, oder den man hört, schon immer dagewesen.

Das will closs in einer Philosophiegeschichte bzw. einer Systematik gewürdigt sehen.
Und dann macht er DEN Grundfehler seines Lebens: er will das mit rational-logischen Methoden beweisen oder plausibel machen.

Meines Erachtens gehört dieses Thema aber - zumindest zunächst - in die Wahrnehmungspsychologie - aber ausgerechnet die verachtet closs. Die sei ja "nur" anthropozentrisch.
Aber mir scheint, dass es genau umgekehrt ist: nur die Wahrnehmung ermöglicht es, jenseits der ratio diese Aufhebung der Logik - des tertium non datur - zu erfassen. Nur durch Wahrnehmung kann das, was closs als göttlich oder als Attribut Gottes bezeichnet, verstanden werden.
Unsere Sinne - unsere inneren Sinne - verstehen viel mehr als der kombinierende Verstand.

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#3 Re: Alles Teufelszeug?

Beitrag von closs » Mi 9. Mär 2016, 16:36

Savonlinna hat geschrieben:Wogegen ich hingegen angehe, ist, wenn Du z.B. behauptest: "Alle Kulturen geben mir Recht".
Falls ich es SOOO gesagt haben sollte (ich erinnere mich NICHT), würde ich es zurücknehmen. - Meine Aussage ist, dass alle Hochkulturen dieselben großen Themen erkennen und bearbeiten - eines dieser Themen "der Mensch und das 'Darüber'".

Savonlinna hat geschrieben:Du beziehst niemals ein, dass Du die Kulturen falsch verstehen könntest.
NAtürlich kann ich das - natürlich kann es sein, dass eine Kultur etwas nicht oder noch nicht so versteht, wie man es versteht.

Thaddäus hat geschrieben:Bei Platon, ob Ideen- oder Seelenlehre, findet man nichts Christliches und kann man auch gar nicht finden.
Historisch-kritisch geht das ja auch nicht - geistig schon.

Wobei: "Christliches" ist hier falsch. - Es müsste heißen: "Das Christentum schlägt sich mit Themen ähnlich oder ganz anders rum wie/als das Griechentum". - Oder nimm ein ganz einfaches konkretes Beispiel: Achilles und Siegfried.

Ob die Nibelungen-Verfasser die Ilias gekannt haben, ist substantiell komplett irrelevant (wiewohl historisch interessant). - Die Ilias ist natürlich nicht christlich beeinflusst (wäre käme auf so etwas) - das Nibelungenlied übrigens von seinen Ursprüngen her auch nicht. - Trotzdem behandelt beide in Achilles und Siegfried das christlich sehr relevante Motiv des sich selbst-überhebenden Menschen, der glaubt, unverletztlich zu sein (nicht moralisch gemeint).

Thaddäus hat geschrieben:Das Christentum hat sich bei Platon und später Aristoteles reichlich bedient, um sich einen philosophischen Überbau zu geben.
Das ist historisch korrekt - wobei man hier differenzieren müsste, dass Aristoteles geradezu vergöttert wurde, während Platon sehr im Hintergrund stand (warum, weiss ich nicht mehr).

Thaddäus hat geschrieben:Allenfalls finden sich geistesgeschichtliche Entwicklungen und philosophische Ideen im Christentum. Niemals aber umgekehrt.
Logisch - das war auch nie das Thema, geschweige denn eine Aussage.

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#4 Re: Alles Teufelszeug?

Beitrag von closs » Mi 9. Mär 2016, 16:45

SilverBullet hat geschrieben:mit „Phänomen“ wird lediglich ausgedrückt, dass es der menschlichen Wahrnehmung nicht bekannt ist, wie es zu dem „Irgendwie-Sein beim Erleben“ kommt.
Definiere ich ganz anders - ein Stuhl ist auch ein Phänomen - etwas, was sich meiner Wahrnehmung zeigt.

SilverBullet hat geschrieben:dafür müsstest du zuerst viel mehr Details liefern
Das darf nicht von mir abhängen - das muss auch denkerisch erschließbar sein.

SilverBullet hat geschrieben:sondern eine Wahrnehmungsbeobachtung
Mit "Beobachtung" meinst Du aber eine sinnliche Beobachtung - damit ist die Katze auf den alten Füßen.

SilverBullet hat geschrieben:Es sind nur Behauptungen, ohne dass Details geliefert werden
Welche Details erwartest Du von einem Christen, der Gott wahrnimmt? - Was würde es bei Dir ändern können?

SilverBullet hat geschrieben:Wenn ich es richtig verstanden habe, wurde im Mittelalter dafür gesorgt, dass die einfachen Leute dem Weltbild-Verständnis der Mächtigen folgen.
Das ist eine Ausrede (davon abgesehen, dass auch heute die Menschen dem Mainstream folgen wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln). - Dann nimm Nomaden in der Mongolei - dort wirst Du auf anderer kultureller Plattform geistig-spirituelle Wahrnehmung bestätigt finden (diese Leute haben keinen "Chef", der es ihnen vorschreibt).

SilverBullet hat geschrieben:Nein, „phänomenal“, also rein über die "bautechnisch" festgelegten Wahrnehmungsfähigkeiten.
Aber unter "bautechnisch" subsummierst Du lediglich naturalistische Wahrnehmung.

SilverBullet hat geschrieben:Davon werde ich nicht ausgehen
Das glaube ich Dir aufs Wort - dementsprechend anders sind Deine Schlussfolgerungen.

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#5 Re: Alles Teufelszeug?

Beitrag von Novas » Mi 9. Mär 2016, 16:55

Thaddäus hat geschrieben:Aber im Christentum findet man viele ursprünglich platonische Ideen, z.B. die, dass alles Körperliche negativ und alles Geistige positiv zu werten sei u.v.a.m

Das ist so nicht richtig. Der Körper gilt als der Tempel des Heiligen Geistes (1.Kor. 6,19). Solch eine Sichtweise adelt den Körper eher und gibt ihm noch eine spirituelle Schönheit, denn der Lebensatem Gottes wirkt und lebt durch ihn, ganz unabhängig davon ob wir oder andere unser Aussehen schön finden; der Körper ist wie ein Gebet, welches erklingt, wenn wir ihn fühlen, genießen, benutzen, gebrauchen. So wird alltägliche Arbeit Gebet. So wird das Liebesspiel zum Gebet. So wird das einfache Atmen und Gehen zum Gebet: Das Leben durchdringt die ganze Lebensform, jede Bewegung unsres Daseins. Wir haben nicht nur einen Körper, sondern wir sind auch Körper, also wir können ihn auf zwei Arten betrachten: als äußerer Körper und als innerer Körper. Der innere Körper ist das ganze die Form durchdringende Bewusstsein. „Körperbewusstsein“ ist mit Sicherheit ein wesentlicher Bestandteil jeder echten Spiritualität. Karlfried Graf Dürckheim sprach darum vom „Körper den ich habe und der Leib, der ich bin.
Zuletzt geändert von Novas am Mi 9. Mär 2016, 17:05, insgesamt 3-mal geändert.

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#6 Re: Alles Teufelszeug?

Beitrag von closs » Mi 9. Mär 2016, 16:59

Savonlinna hat geschrieben:Allerdings will closs noch mehr: er will aufzeigen, dass hinter allem ewige Ideen stehen.
Genau richtig analysiert. - Kulturen sind beliebig austauschbare Größen, die auf ihre jeweilige Art mit denselben großen Fragen umgehen - je weniger sie sich gegenseitig beeinflussen, um so besser kann man sie vergleichen.

Savonlinna hat geschrieben:So, als sei dieser Ton, den man da gerade auf dem Klavier anschlägt, oder den man hört, schon immer dagewesen.
Sehr fein verstanden. :thumbup: - Das sind übrigens "Ideen".

Savonlinna hat geschrieben:Und dann macht er DEN Grundfehler seines Lebens: er will das mit rational-logischen Methoden beweisen oder plausibel machen.
Das ist interessant (vielleicht hast Du ja recht). - Willst Du damit sagen, dass der Vergleich von Urbildern über verschiedene Kulturen zum Scheitern verurteilt ist?

Dann wäre aber die umgekehrte Frage auch zulässig: Wäre nicht jedes substantielle Verständnis eines wirklich großen Werkes vereitelt, wenn man es nur historisch innerhalb einer Kultur versteht? - Das erinnert mich stark an die Diskussion "HKM versus kanonische Exegese" - "methodische Klarheit versus substantieller Zugang".

Persönlich kann ich mir NICHT vorstellen, wie man Shakespeare oder Goethe oder vor allem die Bibel verstehen könnte, wenn nicht vor dem Hintergrund der Urbilder, die über allen Zeiten und Kulturen sind. - Jung hat übrigens mal gesagt, dass ein Genie immer über der Zeit sein müsse, um in der Zeit wirken zu können (anhand von Michelangelo).

Savonlinna hat geschrieben:Aber mir scheint, dass es genau umgekehrt ist: nur die Wahrnehmung ermöglicht es, jenseits der ratio diese Aufhebung der Logik - des tertium non datur - zu erfassen. Nur durch Wahrnehmung kann das, was closs als göttlich oder als Attribut Gottes bezeichnet, verstanden werden.
Da würde ich wirklich nicht widersprechen.

Meine spitzen Finger kommen woanders her: Irgendein Wissenschaftler hat hier (oder woanders?) gesagt, dass sich Erkenntnis-Theorie (Wahrnehmungs-Psychologie ist doch ein Teil davon - oder?) lediglich um sinnliche bzw. neurowissenschaftlich identifizierbare Wahrnehmung kümmere.

Wenn dies so wäre, wäre sie in der Tat KEIN Ansprechpartner für mich, weil es dann wirklich wieder aufs Anthropozentrisch-Atheistische hinausliefe. - Genau das aber wären die falschen Voraussetzungen - dann bräuchte man erst gar nicht anzufangen.

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#7 Re: Alles Teufelszeug?

Beitrag von Novas » Mi 9. Mär 2016, 17:19

Savonlinna hat geschrieben:Meines Erachtens gehört dieses Thema aber - zumindest zunächst - in die Wahrnehmungspsychologie - aber ausgerechnet die verachtet closs. Die sei ja "nur" anthropozentrisch. Aber mir scheint, dass es genau umgekehrt ist: nur die Wahrnehmung ermöglicht es, jenseits der ratio diese Aufhebung der Logik - des tertium non datur - zu erfassen. Nur durch Wahrnehmung kann das, was closs als göttlich oder als Attribut Gottes bezeichnet, verstanden werden

Das sehe ich auch so. „Der Mensch steht der Welt nicht gegenüber, sondern ist Teil des Lebens, in dem die Strukturen, der Sinn, das Sichtbarwerden aller Dinge gründen.“ * * * “…die gesehene Welt ist nicht 'in' meinem Leib, und mein Leib ist letztlich nicht 'in' der sichtbaren Welt: als Fleisch, das es mit einem Fleisch zu tun hat, umgibt ihn weder die Welt, noch ist sie von ihm umgeben. [...] Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere.“ (Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare)

Das „Fleisch“ (chair) ist hier weder mit dem Leib, noch mit bloßer Materialität zu verwechseln. Es ist vielmehr gelebte, gespürte, phänomenal erfahrene Materialität. Das „Fleisch“ ist damit genau der Punkt, an dem sich Leib und Welt treffen: Der Leib ist immer schon Teil der sichtbaren Welt - zugleich ist die Welt immer schon durch den Leib erfahren. Merleau-Ponty bringt in diesem Zusammenhang immer wieder das Beispiel der linken Hand, die die rechte berührt. In dem Moment des Berührens ist das Spüren der Hand ein Innen und Außen zugleich - sie offenbart sich als gleichzeitig der Welt zugehörig (da von außen berührbar und sichtbar) sowie von innen spürbar.
https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Merleau-Ponty

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#8 Re: Alles Teufelszeug?

Beitrag von Novas » Mi 9. Mär 2016, 17:32

Novalis hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Aber im Christentum findet man viele ursprünglich platonische Ideen, z.B. die, dass alles Körperliche negativ und alles Geistige positiv zu werten sei u.v.a.m

Das ist so nicht richtig. Der Körper gilt als der Tempel des Heiligen Geistes (1.Kor. 6,19). Solch eine Sichtweise adelt den Körper eher und gibt ihm noch eine spirituelle Schönheit, denn der Lebensatem Gottes wirkt und lebt durch ihn, ganz unabhängig davon ob wir oder andere unser Aussehen schön finden; der Körper ist wie ein Gebet, welches erklingt, wenn wir ihn fühlen, genießen, benutzen, gebrauchen. So wird alltägliche Arbeit Gebet. So wird das Liebesspiel zum Gebet. So wird das einfache Atmen und Gehen zum Gebet: Das Leben durchdringt die ganze Lebensform, jede Bewegung unsres Daseins. Wir haben nicht nur einen Körper, sondern wir sind auch Körper, also wir können ihn auf zwei Arten betrachten: als äußerer Körper und als innerer Körper. Der innere Körper ist das ganze die Form durchdringende Bewusstsein. „Körperbewusstsein“ ist mit Sicherheit ein wesentlicher Bestandteil jeder echten Spiritualität. Karlfried Graf Dürckheim sprach darum vom „Körper den ich habe und der Leib, der ich bin.


Hier noch ein kleiner Hinweis auf den gleichnamigen Vortrag von Dürckheim. "Der Körper, den ich habe - Der Leib, der ich bin" Über den Leib als Ort, an dem das Transzendente spürbar wird: ein Ort, der entscheidend für eine ganzheitliche Gesundheit und wirkliche Heilung ist.
https://www.youtube.com/watch?v=diJcGfqBR2o

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#9 Re: Alles Teufelszeug?

Beitrag von Thaddäus » Mi 9. Mär 2016, 20:49

closs hat geschrieben: Meine Aussage ist, dass alle Hochkulturen dieselben großen Themen erkennen und bearbeiten - eines dieser Themen "der Mensch und das 'Darüber'".
Ja, ganz sicher ist das so. Das liegt aber daran, dass Menschen Kultur schaffen. In allen Kulturen setzen sich die Menschen mit dem Tod auseinander. Warum? Weil jeder Mensch sterben muss und er weiß, dass er sterben muss und jederzeit sterben kann.

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Du beziehst niemals ein, dass Du die Kulturen falsch verstehen könntest.
Natürlich kann ich das - natürlich kann es sein, dass eine Kultur etwas nicht oder noch nicht so versteht, wie man es versteht.
Jede Kultur bringt geistige Erzeugnisse hervor und die sind genau so zu verstehen, wie sie hervorgebracht werden. Wie man "es" versteht, gibt es nicht, weil es einen solchen "Es-Standpunkt" nicht gibt.

closs hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Bei Platon, ob Ideen- oder Seelenlehre, findet man nichts Christliches und kann man auch gar nicht finden.
Historisch-kritisch geht das ja auch nicht - geistig schon.
Wie gesagt verwechselst du da die Entwicklungs-Richtung. Du findest zwar platonische Ideen im Christentum. Aber du findest keine christlichen Ideen bei Platon. Es dürfte auch hinreichend klar sein, warum das nicht geht.

closs hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Allenfalls finden sich geistesgeschichtliche Entwicklungen und philosophische Ideen im Christentum. Niemals aber umgekehrt.
Logisch - das war auch nie das Thema, geschweige denn eine Aussage.
Dann solltest du das auch nicht schreiben. Siehe deine Aussage direkt über dieser!

closs hat geschrieben:Wobei: "Christliches" ist hier falsch. - Es müsste heißen: "Das Christentum schlägt sich mit Themen ähnlich oder ganz anders rum wie/als das Griechentum". - Oder nimm ein ganz einfaches konkretes Beispiel: Achilles und Siegfried.
[...]
Trotzdem behandelt beide in Achilles und Siegfried das christlich sehr relevante Motiv des sich selbst-überhebenden Menschen, der glaubt, unverletzlich zu sein (nicht moralisch gemeint).
Der sich selbst überhebende Mensch mag ein relevantes Thema im Christentum sein, aber es ist kein christliches Grundmotiv. Man findet es bereits bei Prometheus und Sisyphos, wobei diese Helden - ganz anders als die Hiob Figur - die Götter nicht nur missachten, sondern sie sogar noch überlisten. Und ihr Antrieb ist, entweder eine Ungerechtigkeit nicht hinnehmen zu wollen oder den Menschen etwas zu schenken, das sie den Göttern gestohlen haben (z.B. das Feuer). Sie verachten die Götter nicht, aber sie missachten sie - und helfen so den Menschen.
Und natürlich ist die Hybris ein Grundthema der griechischen Tragödie, wobei Prometheus und Sysiphos sich nicht der Hybris schuldig machen, sondern eben, die Götter zu missachten.
Das Christentum verwendet lediglich das gleiche Motiv und interpretiert es christlich.

Es gibt narrative archetypische Grundmotive, archetypische Figurenfunktionen und archetypische Grundstrukturen (C.G. Jung, Jospeh Campbell, Vladimir Jakowlevič Propp, Christopher Vogler), die in allen Kulturen zu finden sind. So z.B. die berühmte Heldenreise. Archetypische Urbilder und Ur-Strukturen sind deshalb bei allen Menschen gleich, weil alle Menschen ganz bestimmte, gemeinsame basale Erfahrungen machen (z.B. eine Mutter oder einen (spirituellen) Lehrer zu haben). Es gibt im Menschen eine psychologische Disposition, solche Archetypen und symbolischen Bilder und Strukturen hervorzubringen. Sie sind der geistig-kulturelle Ausdruck der gemeinsamen Grunderfahrungen. Damit kenne ich mich aus, denn unter anderem damit verdiene ich mein Geld. In der Literatur, im Film, in Fernsehshows, in Computerspielen und in der Werbung werden diese Archetypen unentwegt mit großem Erfolg eingesetzt, - wenn man es richtig macht.

Auch im Christentum (wie in allen Religionen) finden sie sich. Maria mit dem Jesuskind im Arm ist ein Archetyp:

Bild wegen fehlender Quellenangabe entfernt (Pluto)

Er findet sich aber eben auch im Film. Hier in Aliens - Die Rückkehr von James Cameron:

Bild wegen fehlender Quellenangabe entfernt (Pluto)

Dasselbe Motiv, nämlich der uralte Archetyp der Mutter mit dem Kind.
Dieses Bild aus dem Fim, das die Figuren Ripley und Newt zeigt (und Ripley hat Newt in ihrer Abenteuerfahrt als Tochter adoptiert), lehnt sich nicht etwa an das christliche Motiv der Maria mit dem Jesuskind an, sondern beide sind künstlerische Ausrucksformen des viel älteren Archetyps der Mutter mit ihrem Kind. So kann auch eine Mutter mit ihrem Kind einfach in der Küche sitzen. Wir sehen diese Mutter mit Ihrem Kind in einer innigen Haltung und haben sofort ein unmittelbares bestimmtes, tiefes Gefühl, ein positives, denn wir sehen die Innigkeit ihrer Beziehung. Das Bild rührt uns unmittelbar an. Hier eine syrische Mutter mit ihrem Kind, die aus Syrien geflüchtet sind:

Bild wegen fehlender Quellenangabe entfernt (Pluto)

Was meinst du, warum so viele junge Menschen den Papst interessant finden? Etwa, weil das alle so überzeugte Katholiken sind, die noch jedem Dogma folgen?

Da muss ich dich vermutlich enttäuschen. Der Papst erfüllt lediglich eine archetypische Figurenfunktion, nämlich die des Mentors. Der Archetyp des Mentors zeichnet sich dadurch aus, dass er Zugang zu spirituellem Wissen hat. Er kennt das Geheimnis der Welt und des Menschen. Er ist fast immer ein alter Mann, sehr selten eine alte Frau. Er war früher selbst ein Held, hat die Entwicklungsstufe des Helden aber durch eine eigene Abenteuerfahrt überwunden und ist nun ein spiritueller Lehrer geworden, der weiß, was der Tod ist und welches Geheimnis er birgt. Wenn Helden ihre Abenteurfahrten erfolgreich absolvieren (es gibt auch den scheiternden Helden), dann werden sie zu Mentoren. Eine Vorstufe zum Mentor ist der religiöse Held, wie Gautama Siddharta, Jesus oder die Heldenfigur Neo in den Matrix-Filmen. Er hat die Funktion, dem Schüler-Helden bei seiner Aufgabe zu helfen (und wir alle sind Helden und müssen uns unentwegt im Leben bewähren).

Der Papst erfüllt lediglich eine bestimmte archetypische Funktion. Man erhofft sich von ihm Einsichten über die tieferen Zusammenhänge in der Welt und vor allem Einsichten über den Tod und was uns mit dem Tod erwartet. Der profane spirituelle Mentor weist immer darauf hin, dass es gilt, dieses Leben zu leben. Christliche Mentoren wie die Kirchenväter oder eben der Papst verweisen stattdessen auf eine Erfüllung im Jenseits. Eine bedeutende Schwäche des Christentums.

Dass der Mentor nur eine bestimmte psychologisch-archetypische Funktion erfüllt, wird daran ersichtlich, dass er austauschbar ist. Letztlich geht es gar nicht darum, was er genau lehrt.
Der Papst erfüllt eine Mentorenfunktion, aber auch der Dalai Lama erfüllt sie und Mahatma Gandhi und Bhagwan und Martin Luther King und Mutter Theresa und Obi Wan Kenobi, Dumbledore aus den Harry Potter-Filmen und Meister Yoda in den frühen Star Wars-Filmen. Der bereits tote Mentor Obi Wan Kenobi spricht zum jungen Luke Skywalker gleichsam aus den Wolken oder vom Himmel herab die Worte: "Die Macht wird mit dir sein". Auch Gandalf im Herrn der Ringe erfüllt diese Funktion. Alle sind sie Mentoren von Heldenschülern.

Auch dieses Motiv ist also nicht originär christlich. Wenn du nach kulturellen Ur-Motiven suchst, dann musst du nach Archetypen suchen!

Bilder wegen fehlender Quellenangaben entfernt (Pluto)
Zuletzt geändert von Thaddäus am Mi 9. Mär 2016, 21:51, insgesamt 10-mal geändert.

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#10 Re: Alles Teufelszeug?

Beitrag von Thaddäus » Mi 9. Mär 2016, 21:01

Novalis hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Aber im Christentum findet man viele ursprünglich platonische Ideen, z.B. die, dass alles Körperliche negativ und alles Geistige positiv zu werten sei u.v.a.m

Das ist so nicht richtig. Der Körper gilt als der Tempel des Heiligen Geistes (1.Kor. 6,19). Solch eine Sichtweise adelt den Körper eher und gibt ihm noch eine spirituelle Schönheit, denn der Lebensatem Gottes wirkt und lebt durch ihn, ganz unabhängig davon ob wir oder andere unser Aussehen schön finden; der Körper ist wie ein Gebet, welches erklingt, wenn wir ihn fühlen, genießen, benutzen, gebrauchen. So wird alltägliche Arbeit Gebet. So wird das Liebesspiel zum Gebet. So wird das einfache Atmen und Gehen zum Gebet: Das Leben durchdringt die ganze Lebensform, jede Bewegung unsres Daseins. Wir haben nicht nur einen Körper, sondern wir sind auch Körper, also wir können ihn auf zwei Arten betrachten: als äußerer Körper und als innerer Körper. Der innere Körper ist das ganze die Form durchdringende Bewusstsein. „Körperbewusstsein“ ist mit Sicherheit ein wesentlicher Bestandteil jeder echten Spiritualität. Karlfried Graf Dürckheim sprach darum vom „Körper den ich habe und der Leib, der ich bin.
Was ich meine, hat sich vor allem in der Abwertung alles Körperlichen und der restriktiven Sexualmoral der katholischen Kirche niedergeschlagen.
Bei Platon ist "der Leib, der Sarg der Seele". Während die Seele die Ideen und damit die Wesenheit der Welt unmittelbar schaut, ist alles Körperliche (be-)trügerisch und von Leidenschaften getrieben. Bei Platon und im frühen Christentum gilt es, alles Körperliche zu überwinden und seine Seele aus dem Gefängnis des Leibes zu befreien. Frühe christliche Asketen haben sich deshalb selbst geblendet und die Trommelfelle durchstoßen, damit möglichst nichts mehr Sinnliches Eingang in ihre Seele findet. Der verrückte Gedanke, die Sexualität könnte überhaupt irgendetwas Schlechtes sein (ein Gedanke, der sowohl den Griechen vor Platon und nach Platon, als auch den Hebräern völlig fremd ist), kam durch diese letztlich platonische Sichtweise ins Christentum. (Obwohl der arme Platon gar nicht den Sex im Blick hatte, sondern das Körperliche an sich). Warum sollte es das Verhältnis von Priestern zu Gott trüben, wenn sie Sex haben? Da muss man erstmal drauf kommen!
Daran ist am Ende Platon schuld und seine christlichen Interpretatoren, die ihn nicht richtig verstanden haben.

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