Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

closs
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#911 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von closs » Fr 7. Aug 2015, 07:33

Pluto hat geschrieben:Man hat aber keine Möglichkeit, die eine oder andere Version objektiv zu widerlegen.
So ist es in den Geisteswissenschaften - was die Frage aufwirft, was eigentlich "Wissenschaft" ist:

* Nur das, was eindeutig falsifizierbar ist.
oder:
* Systematisches Sammeln von Daten und deren Interpretation.

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Halman
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#912 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Halman » Fr 7. Aug 2015, 11:43

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Man hat aber keine Möglichkeit, die eine oder andere Version objektiv zu widerlegen.
So ist es in den Geisteswissenschaften - was die Frage aufwirft, was eigentlich "Wissenschaft" ist:

* Nur das, was eindeutig falsifizierbar ist.
oder:
* Systematisches Sammeln von Daten und deren Interpretation.
Wenn Dich diese Frage wirklich interessiert, empfehle ich Dir die Univorlesungen von Prof. Dr. Paul Hoyningen-Huene.

Darin wird es vermutlich für Dich die eine und andere Überraschung geben.

Was sind "Beweise"? Wie erfolgt die Verteidigung von Wissensansprüchen? Lässt sich das weite Feld der Wissenschaft überhaupt einheitlich definieren? Was unterscheidet wissenschaftlich erworbenes Wissen vom Alltagswissen? Zur Beantwortung dieser Fragen verweise ich auf die Vorlesungen aus der Universität - etwas trocken und lang, aber es lohnt sich.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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Halman
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#913 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Halman » Fr 7. Aug 2015, 12:13

Zu den Aussagen, welche auf eine Naherwartung in den Evangelien hinweisen, gibt es auch zwei weitere Aussagen-Reihen, welche auf Verzögerung und Ungewissheit hindeuten.
In den synoptischen Evangelien sind drei verschiedene Aussagen-Reihen in Bezug auf das Kommen des Reiches Gottes zu finden: Erstens Hinweise auf eine rasche Wiederkehr Jesu, zweitens Hinweise auf ein Verzögern dieser Wiederkehr, und drittens die Betonung einer Ungewissheit des Zeitpunktes dafür.

Meiner Meinung nach spricht das NT eher für eine plötzliche Widerkunft Christi, als für eine baldige. Lk 17:24 beschreibt ein plötzliches Erscheinen des Menschensohnes. Ein plötzliches Ereignis muss nicht notwenigerweise bald erfolgen. Lk 17:26f. u. Lk 17:34f. beschreiben Situationen, in denen die Menschen sich der Parousía (Gegenwart) nicht bewusst sein werden und daher völlig von den Erreignissen überrollt werden (wie beim unerwarteten Einbruch eines Diebes).
Auf die Ermahnung in Mk 8:38 folgt die hier bereits besprochende Verklärung/Umwandlung Jesu, welche zumindest drei Jüngern eine Schau gewährte, die sie sonst zu ihren Lebzeiten nicht gehabt hätten.

Innertextlich sind die jesuanischen Verheißungen "verschränkt" mit seinen Warnungen vor den Römern (jüdischer Krieg 66-73 n. Chr. und insbesondere der Vernichtung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 n. Chr.).
Vor diesem HIntergrund verstehe ich auch die jesuanischen Ermahnungen zur Wachsamkeit in seinen Endzeitreden, wie in Mk 13:28-29. Hier mag die Frage aufkommen, warum die Jünger denn Wachsam sein sollten, wenn der Menschensohn zu ihren Lebzeiten gar nicht wiederkommen sollte.
Sicher war Wachsamkeit für sie in den kommenden Dekaden sehr wichtig, da ihnen sehr schwierige Zeiten bevorstanden. Laut Eusebius von Cäsarea diente die Stadt Pella (Jordanien) der Urchristengemeinde in Jerusalem als Zufluchsort. Die Wachsamkeit, welche ihnen die Apostel aufgrund von Jesu Ermahnung vermutlich eingeschärft hatten, wirkte sich wahrscheinlich günstig aus, so dass sie aus Jerusalem und die Umgegend flohen, als sich ihnen nach den Abzug von Cestius Gallus die Gelegenheit bot.
Zitat von Eusebius:
"Gehet hin und lehret alle Völker in meinem Namen!" zur Predigt des Evangeliums zu allen Völkern hinausgezogen waren, als endlich die Kirchengemeinde in Jerusalem in einer Offenbarung, die ihren Führern geworden war, die Weissagung erhalten hatte, noch vor dem Kriege die Stadt zu verlassen und sich in einer Stadt Peräas, namens Pella, niederzulassen, ...
Doch danach wurde die Stadt vom Feldherrn Titus belagert und es gab kein Entkommen mehr.

Nach meinem Verständnis wirkte Jesus Wunderzeichen, die auf seine künftige messianische Königsherrschaft hinwiesen. Dies trifft insbesondere auf Mk. 3:27, Mat. 12:28 und Luk 11:20 zu
Luk. 10:18 scheint mir eine Parallele zu Off 12:7-9 zu sein.

Die "Ernte" in Mk 4:26-29 deutet auf einen längeren Zeitraum hin. Deutlicher wird dies aus dem Matthäusevangelium. Hierzu ein Zitat aus den oben verlinkten Wikipedia-Artikel:
Auch das Gleichnis vom Unkraut im Acker, das man, gemeinsam mit dem Weizen, wachsen lassen und nicht vorzeitig ausreißen soll, lässt an einen längeren Zeitraum denken (13,24–30),
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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#914 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Hemul » Fr 7. Aug 2015, 13:09

Wie immer hat die Bibel auch hier folgen Rat in Prediger 12:12+13 parat:
12 Und darüber hinaus, mein Sohn, lass dich von ihnen warnen! Das viele Büchermachen findet kein Ende. Und das viele Studieren ermüdet den Leib. 13 Lasst uns nun das Ergebnis des Ganzen hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote! Das soll jeder Mensch tun.
:wave:
denn die Waffen, mit denen wir kämpfen, sind nicht fleischlicher Art, sondern starke Gotteswaffen zur Zerstörung von Bollwerken: wir zerstören mit ihnen klug ausgedachte Anschläge (2.Korinther 10:4)

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#915 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von closs » Fr 7. Aug 2015, 15:42

Halman hat geschrieben:Darin wird es vermutlich für Dich die eine und andere Überraschung geben.
Vielen Dank - gutes Material!!!

Was bis jetzt anhand von Vorlesung Teil 1 übrigbleibt, scheint mir zu sein (so einfach wie das klingt): Es gibt ganz unterschiedliche Wissenschafts-Begriffe (also kein Monopol).

Was sich weiter abzeichnet, spricht für Antons Ausführungen: Wissenschaftliche Aussagen sind immer Modell-Aussagen (das ist ja auch meine Auffassung). - Wobei man sicherlich zur unterscheiden hat zwischen Modellen, die themen-bedingt ein Nachmessen der Aussagen ermöglichen (Naturwissenschaft) oder nicht (Geisteswissenschaft).

Eigentlich drängt sich ein ganz anderes Problem in den Vordergrund: Die Vermittlung von Wissenschaft. - Denn man hört im hier gegebenen Zusammenhang selten "Unser gewähltes Modell legt nahe, dass Jesus eine Naherwartung hatte", sondern "Jesus hatte unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten eine Naherwartung" - das sind zwei grund-unterschiedliche Aussagen.

Catholic
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#916 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Catholic » Fr 7. Aug 2015, 16:02

Hemul hat geschrieben:Wie immer hat die Bibel auch hier folgen Rat in Prediger 12:12+13 parat:
12... Das viele Büchermachen findet kein Ende. Und das viele Studieren ermüdet den Leib...
:wave:

Kurzfassung:
"Bildet euch nicht allzusehr,das schadet euch nur."
???

Pluto
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#917 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Pluto » Fr 7. Aug 2015, 16:05

closs hat geschrieben:Denn man hört im hier gegebenen Zusammenhang selten "Unser gewähltes Modell legt nahe, dass Jesus eine Naherwartung hatte", sondern "Jesus hatte unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten eine Naherwartung" - das sind zwei grund-unterschiedliche Aussagen.
Nicht wirklich...
Im Alltagsgespräch kann man diese Aussagen doch ziemlich gleich interpretieren, nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass der in der Bibel beschriebene Jesus durchaus eine Naherwartung hatte.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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sven23
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#918 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von sven23 » Fr 7. Aug 2015, 16:08

Catholic hat geschrieben: Kurzfassung:
"Bildet euch nicht allzusehr,das schadet euch nur."
???
Yo, zuviel kritisches Nachdenken schadet jedem Glaubensdogma. ;)

"Die Beweisführung (für religiöse Wahrheiten) ist schwierig und kann nur von Gelehrten verstanden werden; der Glaube aber ist nötig für die Ungebildeten, für die jungen Menschen und all diejenigen, denen es an Muße fehlt, sich mit Philosophie zu beschäftigen... Für sie reicht die Offenbarung."
(Thomas von Aquin in: "Summa contra Gentiles" (entstanden ca. 1259-64)
Zuletzt geändert von sven23 am Fr 7. Aug 2015, 18:37, insgesamt 1-mal geändert.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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#919 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Pluto » Fr 7. Aug 2015, 16:33

Halman hat geschrieben:
closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Man hat aber keine Möglichkeit, die eine oder andere Version objektiv zu widerlegen.
So ist es in den Geisteswissenschaften - was die Frage aufwirft, was eigentlich "Wissenschaft" ist:

* Nur das, was eindeutig falsifizierbar ist.
oder:
* Systematisches Sammeln von Daten und deren Interpretation.
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... etwas trocken und lang, aber es lohnt sich.
Sehr interessant. Wobei er erst in den weiteren Videos auf den Punkt kommt.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

Anton B.
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#920 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Anton B. » Fr 7. Aug 2015, 16:50

closs hat geschrieben:Was sich weiter abzeichnet, spricht für Antons Ausführungen: Wissenschaftliche Aussagen sind immer Modell-Aussagen (das ist ja auch meine Auffassung). - Wobei man sicherlich zur unterscheiden hat zwischen Modellen, die themen-bedingt ein Nachmessen der Aussagen ermöglichen (Naturwissenschaft) oder nicht (Geisteswissenschaft).
Für eine Unterscheidung ist Naturwissenschaft oder nicht uninteressant. Wenn, dann geht es um empirische/nicht-empirische Wissenschaft.

closs hat geschrieben:Eigentlich drängt sich ein ganz anderes Problem in den Vordergrund: Die Vermittlung von Wissenschaft. - Denn man hört im hier gegebenen Zusammenhang selten "Unser gewähltes Modell legt nahe, dass Jesus eine Naherwartung hatte", sondern "Jesus hatte unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten eine Naherwartung" - das sind zwei grund-unterschiedliche Aussagen.
Ja, wobei in den empirischen Wissenschaften dem Modell immer die Falsifikationsversuche folgen. Und je nach Struktur, der Kohärenz mit anderem Wissen usw. wird es zu zeitgenössischem wissenschaftlichen Wissen. In diesem Kontext ist die Tatsache, das Modell sagt dies und das, für sich alleine genommen ziemlich trivial.
Die Eiche "ist" - sie steht da - mit oder ohne Wildschweine.

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