Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Anton B.
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#901 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Anton B. » Do 6. Aug 2015, 17:49

closs hat geschrieben:
Anton B. hat geschrieben:Und die oft zitierten Lehrbücher von Theißen & Merz und Schnelle beinhalten keine Exegese, weder religiös noch sonstwie.
Da gab es Zitate daraus, die das nicht gestätigen.
Dann lege die Zitate doch bitte vor.

closs hat geschrieben:
Anton B. hat geschrieben:Inhaltliche Auseinandersetzung ist aber nunmal mit Methodik verbunden.
Das ist typisch deutsch. - Ein englischer Freund hat mir mal gesagt, dass man deutsche Wissenschafts-Werke selbst in englischer Übersetzung sofort daran erkenne, dass der methodische Vorbau zwei Drittel des gesamten Umfangs ausmache. :lol:
Es ist aber auch schwer, es Dir Recht zu machen: Wissenschaftliche Aussagen bemängelst Du, weil sie auf "Setzungen" beruhen, zeigt man Dir aber das dazugehörige Fundament der Wissenserkennung, ist es auch nicht ok. Wie hast Du denn seinerzeit wissenschaftlich gearbeitet?

closs hat geschrieben:Davon abgesehen: Wenn einmal der rein wissenschaftliche Part abgeschlossen ist (HKM), funktioniert die Hermeneutik natürlich ebenfalls nach einem Schema ("Hermeneutischer Zirkel") - aber ob Du das als Metkodik anerkennen könntest, weiss ich nicht.
Wer erkennt diese Hermeneutik denn nicht als Methode an? Die relevante Frage ist doch: Ist es eine wissenschaftliche Methode?

closs hat geschrieben:
Anton B. hat geschrieben:Warum?
Weil die HKM ihre Arbeit mit der wissenschaftlichen Feststellung beendet hat. - Hermeneutisch würde man nun dieses wissenschaftlichen ERgebnisse einordnen und mögliche Schlussfolgerungen daraus ziehen (und da rutschen wir schon wieder ins Weltanschauliche).

Im gegebenen Fall sagt der 2. Petrusbrief, dass eine Erwartung nicht eingelöst ist wurde und man langsam kalte Füsse bekommt. - Dies ist deutbar als:

a) Die Erwartung wurde enttäuscht, also hat Jesus etwas Falsches erzählt, oder:
b) Die Erwartung konnte nur entstehen, weil Jesus etwas ganz anderes erzählt hat, was fälschlich rezipiert wurde.

Die HKM gibt beide Varianten her, weil Rezeptions-Geschichte Teil der HKM ist. - Also wird man nach seinem jeweiligen Weltbild auslegen - ohne gegen die wissenschaftlichen Ergebnisse der HKM zu verstoßen.
Das ist keine akzeptable Antwort auf meine Frage. Du behauptest immer wieder, die HKM gäbe das eine genausogut wie das andere wieder. Den prinzipiellen Unterschied zu einer wissenschaftlichen Modellrekonstruktion der "Meinungen" von Marie-Antoinette und Jesus hast Du nicht begründen können. Und um auf Deine neue Begründung einzugehen: Ja, die Untersuchung der Rezeptionsgeschichte ist Teil der HKM, um "dahinter" zu schauen. Die Methoden dazu kannst Du nachlesen. Und dann kannst Du die Methoden möglicherweise auch kritisch bewerten.
Die Eiche "ist" - sie steht da - mit oder ohne Wildschweine.

closs
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#902 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von closs » Do 6. Aug 2015, 18:28

Anton B. hat geschrieben:Dann lege die Zitate doch bitte vor.
Dann müsste ich seitenweise zurückscrollen - das ist mir zuviel Arbeit. - Es gibt diese von Foristen vorgelegten Zitate in diesem Thread oder im Parusie-Thread.

Anton B. hat geschrieben:Wissenschaftliche Aussagen bemängelst Du, weil sie auf "Setzungen" beruhen
Wissenschaftliche Aussagen habe ich noch nie bemängelt - solange deren Vertreter ihre Aussagen im Rahmen ihres Modells und nicht als universale Tatsachen-Aussagen dargestellt haben.

Anton B. hat geschrieben:zeigt man Dir aber das dazugehörige Fundament der Wissenserkennung, ist es auch nicht ok.
Immer noch dasselbe Missverständnis: Du sprichst von methodischen Fundamenten, die ich als solche gar nicht in Frage stelle - ich spreche von verschiedenen Perspektiven, die verschiedene Modelle haben.

Anton B. hat geschrieben:Wie hast Du denn seinerzeit wissenschaftlich gearbeitet?
Textkritik, wenn es bspw. um die Zuordnung unendlich vieler Notizen zu Schillers "Demetrius" ging (ein unvollendetes Werk - zu vollendeten Werken hat Schiller seine Notizen verbrannt). - Aber mehr historisch-kritische Arbeit, wenn es bspw. um Racine ging, der ohne Jansenismus (eine "Sekte" zu seiner Zeit) gar nicht verständlich sein kann - oder bei Shakespeare-Nachfolgern, die im klassizistischen Umfeld Shakespeares Werke charakteristisch verändert haben. - Oder Rezeptions-Geschichte ("Anthologie ungelesener Bestseller" :lol: ), wenn es um die Goethe-/SChiller-Rezeption im Bildungs-Bürgertum ging.

Allerdings muss ich gestehen, dass die Professoren damals keine Seminare zu Wissenschafts-Theorie gemacht haben - für die Aufgabenstellung war eine methodische Einführung ausreichend:
1) Zunächst Daten wertfrei sammeln.
2) Dann auslegen.
Im Grunde also die Trennung zwischen HKM und Hermeneutik.

Anton B. hat geschrieben: Die relevante Frage ist doch: Ist es eine wissenschaftliche Methode?
Nach naturwissenschaftlichem Denken, NEIN. - Denn je nach Hermeneutik (positivitisch, kanonisch, narrativ, etc.) kommt in aller Regel zur selben Frage und auf derselben wissenschaftlichen Basis Unterschiedliches raus.

Es ist NICHT so wie in der Geologie, dass der eine sagen könnte "Das ist ein Sandstein" und der andere "Nein, das ist ein Kalkstein". - Das ist der Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. - Wissenschaftlich bei der Geisteswissenschaft ist die objektiv nachvollziehbare Folgerichtigkeit einer Begründung - aber eben jeweils innerhalb der Prämissen, die JEDE Hermeneutik mit sich bringt.

Anton B. hat geschrieben:Den prinzipiellen Unterschied zu einer wissenschaftlichen Modellrekonstruktion der "Meinungen" von Marie-Antoinette und Jesus hast Du nicht begründen können.
Dann ist Dir ein Versuch von mir entgangen: Es ist ein Unterschied, ob man unterschiedliche und voneinander unabhängige Quellen dazu hat (Marie-Antoinette) oder auf Quellentexte angewiesen ist, die untereinander nur bedingt unabhängig sind. - Weiterhin gibt es (wahrscheinlich) bei Marie-Antoinette Texte von eigener Hand, was bei Jesus nicht der Fall ist.

Das wären zunächst mal zwei Unterschiede. - Worauf willst Du raus?

Unabhängig davon: Auch bei Marie-Antoinette sollte man unterscheiden zwischen Beobachtungen und Schlussfolgerungen. - Denn während Beobachtungen immer objektiv sind ("es gibt 5 Briefe von Marie-Antoinette an Ludwig XVI."), weisen Schlussfolgerungen immer auf das Subjekt zurück.

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#903 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Scrypt0n » Do 6. Aug 2015, 18:52

closs hat geschrieben:
Anton B. hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Da gab es Zitate daraus, die das nicht gestätigen.
Dann lege die Zitate doch bitte vor.
Dann müsste ich seitenweise zurückscrollen
Nicht in Ausreden schwingen.
Denn du kannst zurückscrollen wie du willst; derartige Zitate gibt es nicht.

Aber: Mal wieder, auf typisch kurtische Art, nett ausgewichen.
Kurz: Deine Aussage lässt sich nicht begründen und entspricht deiner Fantasie.

closs hat geschrieben:
Anton B. hat geschrieben:Den prinzipiellen Unterschied zu einer wissenschaftlichen Modellrekonstruktion der "Meinungen" von Marie-Antoinette und Jesus hast Du nicht begründen können.
Dann ist Dir ein Versuch von mir entgangen
Keinefalls.
Dein Versuch schlug lediglich fehl.

closs hat geschrieben:
Scrypt0n hat geschrieben: das ist nämlich ein und die selbe Sache.
Nein - es ist ein Unterschied, ob man Quellen kennt oder berücksichtigt.
Nein, ist es nicht.
Selbe Quellenlage ist selbe Quellenlage - und damit auch das gleiche Ergebnis.

Ob die Quellenlage nun eine andere ist, oder aber Inhalte der selbigen nicht behandelt werden, nimmt sich das beides nichts, denn: Dann wird sich auf unterschiedliches bezogen, nicht auf das gleiche.
;)

Am wichtigsten:
closs hat geschrieben:Du solltest beachten, dass die Aussortierung einer vorhandenen Quelle bereits eine Interpretation ist.
Das nimmt sich nichts; auch nach einer Aussortierung von Quellen bezieht sich das Ergebnis demzufolge ebenfalls nicht auf der selben Quellenlage.
Egal wie du es auch drehst und wendest..

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#904 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von closs » Do 6. Aug 2015, 19:12

Scrypt0n hat geschrieben:Selbe Quellenlage ist selbe Quellenlage - und damit auch das gleiche Ergebnis.
Nur hierauf möchte ich reagieren (der Rest ist x-mal durchgelutscht), weil es so wichtig ist:

Es ist falsch, dass die selbe Quellenlage das gleiche Ergebnis bringt. - Hätten positivistische, kanonische oder narrative Hermeneuten diesselbe Quellenlag, würden sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Hermeneutik zu unterschiedlichen Ergebnissen zur selben Frage kommen. - Diese Ergebnisse müssten nicht, könnten aber widersprüchlicher Natur sein.

Egal, ob dies die Parusie oder Wunder oder sonstwas betrifft. - Dein Glaube ist dramatisch irrig.

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#905 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Pluto » Do 6. Aug 2015, 19:18

closs hat geschrieben:
Anton B. hat geschrieben:Wissenschaftliche Aussagen bemängelst Du, weil sie auf "Setzungen" beruhen
Wissenschaftliche Aussagen habe ich noch nie bemängelt - solange deren Vertreter ihre Aussagen im Rahmen ihres Modells und nicht als universale Tatsachen-Aussagen dargestellt haben.
Erst nachweisen, dass es mehrere Welt-Systeme gibt, dann kann man deinen Argumenten folgen, sonst gelten die Aussagen der Wissenschaftler nun mal universell.
Der Ball liegt ganz klar bei dir. :angel:

closs hat geschrieben:Du sprichst von methodischen Fundamenten, die ich als solche gar nicht in Frage stelle - ich spreche von verschiedenen Perspektiven, die verschiedene Modelle haben.
Du scheinst zu verkennen, dass es nur eine Perspektive richtig sein kann.

closs hat geschrieben:Im Grunde also die Trennung zwischen HKM und Hermeneutik.
Was nicht schwierig ist, wenn man die HKM damals noch nicht ernst nahm.

closs hat geschrieben:Denn je nach Hermeneutik (positivitisch, kanonisch, narrativ, etc.) kommt in aller Regel zur selben Frage und auf derselben wissenschaftlichen Basis Unterschiedliches raus.
Die HKM ist eine Methodik die im Idealfall Fehlerhafte Schlussfolgerungen ausschließt.
Da sie aber von Menschen praktiziert wird, die weltanschaulich geprägt sind, kommt es zu sicher auch zu falschen Schlüssen.

Das Problem der Hermeneutik ist, dass sie ohne Einschränkung subjektiven Interpretationen und Meinungen zulässt. Die HKM ist eine Methodik die ein solches subjektives Vorgehen, verhindern soll.

closs hat geschrieben:Es ist NICHT so wie in der Geologie, dass der eine sagen könnte "Das ist ein Sandstein" und der andere "Nein, das ist ein Kalkstein".
In der HKM ist es genauso. Es ist die Suche nach Fakten, NICHT Meinungen, die letztlich zur Wahrheit führt.

closs hat geschrieben:Wissenschaftlich bei der Geisteswissenschaft ist die objektiv nachvollziehbare Folgerichtigkeit einer Begründung
Nach welcher Methodik arbeitet denn die Hermeneutik?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#906 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Scrypt0n » Do 6. Aug 2015, 19:19

closs hat geschrieben:
Scrypt0n hat geschrieben:Selbe Quellenlage ist selbe Quellenlage - und damit auch das gleiche Ergebnis.
Es ist falsch, dass die selbe Quellenlage das gleiche Ergebnis bringt.
Nein, ist es nicht.
Und das wurde dir bereits gestern dargelegt.
Denn: Ob die Quellenlage nun eine andere ist, oder aber Inhalte der selbigen nicht behandelt werden, nimmt sich das beides nichts, denn: Dann wird sich auf unterschiedliches bezogen, nicht auf das gleiche.

Auch nach einer Aussortierung von Quellen bezieht sich das Ergebnis demzufolge ebenfalls nicht auf der selben Quellenlage.
Egal wie du es auch drehst und wendest..

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#907 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Halman » Do 6. Aug 2015, 20:53

Scrypt0n hat geschrieben:
closs hat geschrieben:
Scrypt0n hat geschrieben: das ist nämlich ein und die selbe Sache.
Nein - es ist ein Unterschied, ob man Quellen kennt oder berücksichtigt.
Nein, ist es nicht.
Selbe Quellenlage ist selbe Quellenlage - und damit auch das gleiche Ergebnis.
Non sequitur. Warum wiederholst Du diesen logischen Fehlschluss?

Wir sprechen hier über Texte. Bei einer Textquelle kann es sehr wohl mehr als nur eine redlich vertretbare Interpretation geben, sofern sie anhand des vorliegenden Textes begründbar ist. Im Bereich der Literatur folgt aus identischer Quellenlage mitnichten zwingend das gleiche Ergebnis.


Pluto hat geschrieben:
closs hat geschrieben:
Anton B. hat geschrieben:Wissenschaftliche Aussagen bemängelst Du, weil sie auf "Setzungen" beruhen
Wissenschaftliche Aussagen habe ich noch nie bemängelt - solange deren Vertreter ihre Aussagen im Rahmen ihres Modells und nicht als universale Tatsachen-Aussagen dargestellt haben.
Erst nachweisen, dass es mehrere Welt-Systeme gibt, dann kann man deinen Argumenten folgen, sonst gelten die Aussagen der Wissenschaftler nun mal universell.
Der Ball liegt ganz klar bei dir. :angel:
Tja, der ist wieder zu Dir zurückgerollt.

Sind im geisteswissenschaftlichen Bereich die Erkenntnisse wirklich so eindeutig? Kann es denn bei Textinterpretation nur eine haltbare Meinung geben?

Pluto hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Du sprichst von methodischen Fundamenten, die ich als solche gar nicht in Frage stelle - ich spreche von verschiedenen Perspektiven, die verschiedene Modelle haben.
Du scheinst zu verkennen, dass es nur eine Perspektive richtig sein kann.
Dies halte ich für eine gewagte Äußerung.

Pluto hat geschrieben:Das Problem der Hermeneutik ist, dass sie ohne Einschränkung subjektiven Interpretationen und Meinungen zulässt. Die HKM ist eine Methodik die ein solches subjektives Vorgehen, verhindern soll.
Der HKM liegt ebenfalls ein hermeutischer Zugung zugrunde, nämlich der historisch-kritische. Oder bin ich auf dem Holzweg?

Pluto hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Es ist NICHT so wie in der Geologie, dass der eine sagen könnte "Das ist ein Sandstein" und der andere "Nein, das ist ein Kalkstein".
In der HKM ist es genauso. Es ist die Suche nach Fakten, NICHT Meinungen, die letztlich zur Wahrheit führt.
Diese Idealisierung vermag ich in fachlichen Artikel, die sich auf die HKM stützen, nicht zu finden. Vielmehr wimmelt es darin von Hypothesen, Modellen und Theorien - Meinungen von Exegeten. Achte bitte auf das "Konjunktiv" in "bibelwissenschaft.de" und den Zenger-Dokumenten zum Theologie-Examen.
In meinem Thread Welches Frauenbild vermittelt die Bibel? bezog ich mich auch auf eine dort verlinkte Webside mit der Exegese zum vielleicht schwierigsten Kapitel des NT. Hast Du wirklich den Eindruck, als wenn gleiche Quellenlage zu einem einheitlichen Ergebnis führt, wie Scrypt0n schleierhafterweise behauptet? Hast Du wirklich den Eindruck, dass hier Fakten gesammelt werden, die zur Wahrheit führen? Wie kommst Du denn auf sowas?

Pluto hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Wissenschaftlich bei der Geisteswissenschaft ist die objektiv nachvollziehbare Folgerichtigkeit einer Begründung
Nach welcher Methodik arbeitet denn die Hermeneutik?
Die Hermeneutik gibt es meines Wissens nicht. Die "Kunst des Verstehens" kann auf verschiedenen Perspektiven erzielt werden. In der historisch-kritischen Exegese ist der hermeneutische Zugang halt historisch-kritisch, in der narrativen Exegese narrativ usw. Oder sehe ich dies falsch?
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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#908 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von closs » Do 6. Aug 2015, 21:54

Pluto hat geschrieben:Du scheinst zu verkennen, dass es nur eine Perspektive richtig sein kann.
Halman hat im wesentlichen in meinem Sinn geantwortet - nur eine Unterstreichung:

Geisteswissenschaft ist nicht Naturwissenschaft. - Der Begriff "Wissenschaft" bezieht sich bei Geisteswissenschaft darauf, dass man philologische (also im weiteren Sinn auch theologische) Fragestellungen so beantwortet, dass der Weg zu den Antworten logisch und inhaltlich nachvollziehbar ist - insofern intersubjektiv nachvollziehbar ist. - Und: Dass sie nicht im Gegensatz zu historisch-kritischen Erkenntnissen stehen, wobei hier dringend auf den Unterschied zwischen "Erkenntnis" und "Interpretation" hinzuweisen ist. - Deswegen Ratzingers Hinweis, dass HKM unverzichtbar ist, aber (in meinen Worten) kein Monopol hat auf die Art der Hermeneutik.

In aller Regel geht es in Geisteswissenschaften NICHT um Fragen wie "Wie hoch ist die Lichtgeschwindigkeit" (die Lichtgeschwindigkeit ist nachmessbar gleich hoch, egal welches Modell man wählt). - Man kann also in der Geisteswissenschaft Modell-Aussagen nicht oder nicht ohne weiteres falsifizieren - oder man kann alle falsifizieren. - Alles Interpretationssache, also Frage der Perspektive der jeweiligen Hermeneutik.

Das heisst nicht, dass es zu Willkür kommt, da jeder hermeneutische Ansatz logisch und inhaltlich nachvollziehbar sein muss.

Pluto hat geschrieben:Die HKM ist eine Methodik die ein solches subjektives Vorgehen, verhindern soll.
Das kann sie teilweise, wenn ein hermeneutischer Ansatz offensichtlich falsch ist - die HKM könnte bspw. regulativ wirken, wenn jemand behaupten würde, Jesus hätte beim Bau der Cheops-Pyramide mitgewirkt.

Die HKM kann aber dann nicht als Regulativ wirken, wenn sie selber hermeneutischer Akteur ist (ich weiss, dass es historisch-kritische Hermeneutik gibt, halte es aber für sehr kritisch, weil dann innerhalb der HKM objektive Wissenschaft und weltanschauliche Hermeneutik vereint sind). - Insofern wäre es aus meiner Sicht besser, wenn sich die HKM auf methodische Erfassung von Daten (Daten-Erhebung) in verschiedenen Disziplinen (Linguistik, Historie, Volkskunde, etc.) beschränken würde, um clean zu bleiben - dieser Wunsch wird mir wohl nicht erfüllt werden.

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Savonlinna
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#909 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Savonlinna » Do 6. Aug 2015, 23:26

Halman hat geschrieben:Bei einer Textquelle kann es sehr wohl mehr als nur eine redlich vertretbare Interpretation geben, sofern sie anhand des vorliegenden Textes begründbar ist. Im Bereich der Literatur folgt aus identischer Quellenlage mitnichten zwingend das gleiche Ergebnis.
Und auch im Bereich der Naturwissenschaft folgt das nicht zwingend.
Beispiel:

Im gestrigen "Hamburger Abendblatt" stand unter dem Titel "Bonobos kommunizieren wie Babys"
u.a. Folgendes:

Bestimmte Rufe von Bonobos sind mit Tönen menschlicher Säuglinge vergleichbar
[...].
Die Forscher analysierten in der Demokratischen Republik Kongo Rufe einer Bonobo-Gruppe von etwa 40 Tieren. Die Autoren beschreiben die charakteristischen "Peeps" als hohe, kurze Töne, die die Bonobos mit geschlossenem Mund und meist neutraler Miene äußern. Dies tun sie in sehr unterschiedlichen Situationen – etwa beim Essen, Laufen, Ruhen, bei der Fellpflege, beim Streiten oder als Warnung.
Das sind die beobachteten Fakten:
a. die Töne in ihrer Art und in ihrem Kontext
b. die Ähnlichkeit der Art der Töne mit Babylauten

Dann werden diese Beobachtungen versuchsweise interpretiert:

Interpretationsversuch 1:
Die Töne der Bonobos könnten möglicherweise einen evolutionären Übergang von einfachen zu flexibleren Kommunikationsformen darstellen. Diese Art der Verständigung könnte bei gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Bonobos vor etwa sechs bis zehn Millionen Jahren entstanden sein.

Interpretationsversuch 2:
Der Bonobo-Forscher Martin Surbeck vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hält eine andere Erklärung für möglich: "Vielleicht piepen Bonobos in ganz verschiedenen Situationen, um den Gruppenzusammenhalt zu stärken", sagt er. Das täten auch andere soziale Arten wie etwa Erdmännchen.
http://www.abendblatt.de/ratgeber/wisse ... Babys.html

Hier wird sauber zwischen Faktenaufnahme und Interpretation getrennt. Das ist auch in der Naturwissenschaft der geforderte Standard.


Halman hat geschrieben:Sind im geisteswissenschaftlichen Bereich die Erkenntnisse wirklich so eindeutig? Kann es denn bei Textinterpretation nur eine haltbare Meinung geben?
Nein, natürlich nicht.
Auch hier ein Beispiel:

Die literarischen Werke des Dichters Franz Kafka werden sehr verschieden gedeutet.
Ein wichtiger Unterschied zwischen den Deutungen wird in einem Kurzessay folgendermaßen thematisiert:

Ist Kafkas Werk autobiografisch?
Das ist von jeher eine der umstrittensten Fragen unter ›fortgeschrittenen‹ Lesern
Um der Beantwortung dieser Frage näher zu kommen, werden verschiedene Ebenen eines literarischen Werkes beschrieben, auf all denen auch Autobiographisches identifiziert werden kann.

So hat Kafka tatsächlich in seinem Berufsleben mit Unmengen von Kanzlei-Akten zu tun gehabt. Vor allem in seinem Romanfragment "Der Prozess" spielen diese Akten eine zentrale Rolle.

Nun kommt die Deutung; ich greife einen Punkt aus dem Essay heraus:

Auf der Ebene der Bedeutung und des objektiven Gehalts von Kafkas Werken liefern jedoch diese engen autobiografischen Bezüge bei weitem keine hinreichenden Erklärungen.
[...]
Kafkas nachhaltiger Weltruhm beruht nicht zuletzt darauf, dass zahlreiche Leser die geschilderten Erfahrungen von Entfremdung, Isolation und Ich-Zerfall als authentisch empfinden, aber auch als außerordentlich ›typisch‹ für unsere Zeit. Für diese Leser ist es zunächst unwichtig, ob Kafka Aktenberge schilderte, weil er sie täglich vor Augen hatte, oder vielmehr deshalb, weil er in ihnen etwas Signifikantes, Zukunftsweisendes erblickte. Ob Kafka soziale Kälte und Ausgrenzung so überzeugend darstellte, weil er sie als Jude in schmerzlicher Weise erfahren hat, oder weil er systematische Ausgrenzung als Problem der Moderne wahrnahm.

Das heißt: Zu wissen, aus welchen konkreten Lebenserfahrungen Kafka bestimmte Bilder und Ideen bezieht, ist auf der Ebene der Bedeutung wie auch der unmittelbaren Wirkung der Texte sicherlich hilfreich, aber keineswegs unabdingbar. Kafkas Bilder und Symbole entfalten einen Bedeutungsreichtum, der gerade nicht privat, nicht autobiografisch, sondern universell ist — seine Wirkung über alle kulturellen Schranken hinweg belegt dies eindrucksvoll.
http://www.franzkafka.de/franzkafka/was ... ort/457234

In der Kafka-Deutung gibt es also sowohl die autobiographische Deutung als auch die - ich sag jetzt mal - gesellschaftskritische und die existentielle Deutung bezüglich unserer modernen Zeit.
Sie sind nebeneinander vorhanden, werden in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich akzentuiert, werden von Epoche zu Epoche ergänzt.

Pluto
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#910 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Pluto » Do 6. Aug 2015, 23:58

Savonlinna hat geschrieben:Und auch im Bereich der Naturwissenschaft folgt das nicht zwingend.
Beispiel:

Im gestrigen "Hamburger Abendblatt" stand unter dem Titel "Bonobos kommunizieren wie Babys"
u.a. Folgendes:

Bestimmte Rufe von Bonobos sind mit Tönen menschlicher Säuglinge vergleichbar
[...].
Die Forscher analysierten in der Demokratischen Republik Kongo Rufe einer Bonobo-Gruppe von etwa 40 Tieren. Die Autoren beschreiben die charakteristischen "Peeps" als hohe, kurze Töne, die die Bonobos mit geschlossenem Mund und meist neutraler Miene äußern. Dies tun sie in sehr unterschiedlichen Situationen – etwa beim Essen, Laufen, Ruhen, bei der Fellpflege, beim Streiten oder als Warnung.
Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Schlussfolgerungen in der Naturwissenschaft. Das geschieht wie das Beispiel der Laute von Bonobo-Babys zeigt, immer wieder wenn Forscher in "Wissens-Neuland" vorstoßen (Bonobo-Babys wurde meines Wissens noch nicht eingehend untersucht).

Selbst bei bekannten Phänomenen wie etwa in der Quantenphysik, streitet man sich über die Interpretation. Worüber man sich allerdings einig ist, sind die Beobachtungen welche die Vorhersagen einer Theorie bestätigen. Werden die Vorhersagen nicht bestätigt, muss das Modell verworfen oder angepasst werden. Das geschieht in deinem zweiten Beispiel (Kafkas Werk) NICHT.

Hier kursieren die Meinungen über den autobiografischen Inhalt von Kafkas Werken weiter und halten sich jahrelang nebeneinander, weil man für beide Hypothesen gute Argumente vorbringen kann. Man hat aber keine Möglichkeit, die eine oder andere Version objektiv zu widerlegen. So bleibt der auto-biografische Inhalt von Kafkas Werk immer eine Frage der subjektiven Auslegung.

Naturwissenschaft ist von der Methodik her objektiver. Ob Objektivität besser ist, ist eine andere Frage.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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