Thaddäus hat geschrieben: Nur so kann wissenschaftlich das "tatsächliche Geschehen", von dem du sprichst, überhaupt rekonstruiert werden, soweit das möglich ist.
So weit einverstanden. - Aber was heisst das? - Die historisch-kritische Methode wurde zu meiner Zeit in etwas folgendermaßen definiert:
Textkritik
Literarkritik
Formgeschichte und Gattungskritik
Traditions- und/oder Redaktionsgeschichte, bzw. –kritik
Wir wäre nie darauf gekommen, darin eine Instanz zur eigentlichen Auslegung eines Textes zu sein - es war Kärrner-Vorarbeit - wichtige sogar.
Frage: Würdest Du historisch-kritischen Abhandlungen über Mozarts "Requiem" aös Grundlage für das Verständnis des Stückes selbst verstehen?
Thaddäus hat geschrieben:Man kann aber gerade NICHT das machen, was du machst: nämlich ein "tatsächliches historisches Geschehen" annehmen (auf welcher Grundlage denn?)
Dazu gibt es zwei Ansätze:
1) Mein persönlicher Ansatz: Ich sehe in geistigen Fragen eh alles als Chiffre - auch Historie. - "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" waren so ziemlich die letzten literarischen Äußerungen von Goethe (ich habe Jahrzehnte gebraucht, bis ich diesen Satz verstanden habe)
2) Der historische Ansatz: Das, was Jesus gemeint hat, muss nicht das sein, was die HKM aus der Rezeptions-Forschung ermittelt - kann, aber muss nicht. - So scheint DAS (geistige) Grundmotiv der gesamten Bibel - nämlich Paradigmen-Wechsel durch das NT - vollkommen bei der HKM unterzugehen (zumindest bei denen, die hier als HKM-ler zitiert werden). - Nämlich dass Jesus es eben genau NICHT so gemeint hat, wie es die Leute verstanden haben.
Man kann dieses Motiv seit dem AT verfolgen - aber es ist halt (so kommt es rüber) auf HKM-Ebene nicht greifbar, weil man ja nur das hat, was die Leute geglaubt haben, was Jesus gemeint haben. - Weist man auf das durchgängige Motiv des "Sie haben Ohren, aber hören nicht" hin, wird es als "unwissenschaftlich" bezeichnet. - Ja, aber was heisst das? - Nicht mehr und nicht weniger, dass es nicht Thema der HKM zu sein scheint? - Was sagt das über das aus, was WIRKLICH war? - Nichts.
Mit anderen Worten: Man nimmt bei der kanonischen Exegese DAS als historische Grundlage, was plausibel in Bezug auf fundamentale geistige Aussagen erscheint. - Also genau umgekehrt wie die rezeptions-orientierte HKM.
Man kann das bestens begründen - aber es ist eben kein HKM-Ansatz. - Bei der kanonischen Exegese spielt die HKM die Rolle des "Vor-Arbeiters", aber nicht des Entscheiders - sie fängt da an, wo die HKM aufhören muss. - Wo ist hier das Problem?
Thaddäus hat geschrieben:Was dieses "tatsächliche Geschehen" gewesen ist, muss erst einmal historisch-kritisch rekonstruiert werden.
So weit es gelingen kann. - Man kann aber nicht sagen: "Da wir historisch-kritisch nicht mehr beschreiben können, muss dies reichen für die anschließende geistige Interpretation".
Thaddäus hat geschrieben:Das gilt für alle tatsächlichen Geschehnisse im Zusammenhang mit Jeshua
Wie willst Du wissen, was "tatsächlich" war? Wenn es doch nur EINE Quellen-Sammlung gibt, die gleich ausgerichtet ist (christliche Mission)? - Beim Bellum Gallicum kann man wenigstens noch durch andere, unabhängige Quellen Caesars Übertreibungen korrigieren - bei der Bibel geht es nicht.
Thaddäus hat geschrieben:Nur mit den Mitteln der Historisch-Kritischen-Methodik (und der Archeologie) kann man die Rezeption und Überlieferung von Texten und ihren diversen Fassungen von der rezeptionsgeschichtlichen und überlieferungsgeschichtlichen Kontaminationen befreien!
Und wenn dann etwas Falsches übrigbleibt, weil die Rezeption von vorne herein fehlerhaft war (siehe "Naherwartung")? - Dann kann man wenigstens darauf bestehen, dass man sich wissenschaftlich nichts vorzuwerfen hat. - Wenn das reicht ...
Thaddäus hat geschrieben:noch gab es drei Weise aus dem Morgenland
Gut möglich - das Entscheidende sind die damit verbundenen Chiffren. - Wenn bspw. der eine "Weise" das Baby mit Myrrhe salbst, heisst dies, dass es dem Tod geweiht ist (Myrrhe hat man bei Leichen verwendet). - DAS ist die eigentliche Aussage, die sehr wohl von der äußeren Rahmenhandlung erfunden sein kann.
Thaddäus hat geschrieben:Nicht das vermeintlich historische Geschehen ist ernst zu nehmen (denn das gab es nicht), sondern allein der Geist, den die lukanische Weihnachtsgeschichte vermitteln will. Deswegen heißt es im NT: "Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig".
Genau - und aus diesem Grund meine ich eben, dass die HKM nicht mehr als Vorarbeit für eine anschließende inhaltliche Auslegung leisten kann.
Würde die HKM so auftreten (bzw. zitiert werden), müssten wir nicht darüber reden.
Thaddäus hat geschrieben:Genau dies ist übrigens die Herangehensweise des ev. Neutestamentler Rudolf Bultmann. Er ist ein Mirbegründer der Historisch-Kritischen-Mehode und legt ein exegetisches Konzept vor, das aus der so genannten Entmythologisierung und gleichzeitigen existenzialen Interpretation (die das Kerygma des Textes herausarbeitet) besteht.
Das klingt gut (ich kenne Bultmann vornehmlich in einseitigen Zitaten, die ihm nicht schmeicheln können). - Aber so wie Du es zitierst, ist es aus meiner Sicht genau der richtigen Weg.
Gehe ich recht in der Annahme, dass bei Bultmann die Entmythologisierung nicht auf Kosten der Kerygmatisierung geht? - Dann wären wir auf dem richtigen Weg. - Achtung: Der kerygmatische Jesus kann nichtsdestoweniger näher am TATSÄCHLICHEN Jesus sein als der Rezeptions-Jesus der HKM. - Kann, muss nicht.