Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

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sven23
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#1031 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von sven23 » So 13. Sep 2015, 09:15

Die mißbräuchliche Verwendung von alttestamentarischen Texten durch die NT-Schreiber wird von Lüdemann an 9 Beispielen aufgezeigt. Zwei davon seien hier angeführt:

1.Beispiel:
"Hos 11,1: (Gott spricht:) Als Israel jung war, hatte ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn, aus Ägypten.
Diesen Spruch – einen Hinweis auf den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten – verbindet der Evangelist Matthäus sinnwidrig mit dem Aufenthalt des neugeborenen Kindes Jesus in Ägypten.
Mt 2,14–15: (Joseph) nahm das Neugeborene und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen«."


2.Beispiel:
"Jer 31,15: So spricht Jahwe: »Man hört Klagegeschrei und bitterliches Weinen in Rama. Rahel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen um ihre Kinder, denn sie sind nicht mehr«.
Dieser Spruch Jahwes hat die bereits erfolgte Wegführung von Judäern in das babylonische Exil im Blick. Das darauf folgende Wort Jahwes in V. 16–17 sagt dann ihre Rückkehr in die Heimat voraus. Der erste Evangelist bezieht den Spruch aus V. 15 sinnwidrig auf den Kindermord in Bethlehem, den König Herodes angeblich angeordnet hat.
Mt 2,16–18: Da wurde Herodes, weil er gesehen hatte, dass er von den Magiern zum Besten gehalten worden war, sehr zornig und sandte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem und Umgebung töten, von zwei Jahren an und darunter, nach der Zeit, die er von den Magiern erkundet hatte. Da wurde das durch Jeremia, den Propheten, Gesprochene erfüllt, der da
sagt: »Eine Stimme wurde in Rama gehört, Weinen und viel Wehklagen. Rahel beweint ihre Kinder, und sie wollte nicht getröstet werden, denn sie sind nicht (mehr) da
«.


Der Rückgriff der NT-Schreiber auf alttestamentarische Texte zeigt den krampfhaften Versuch, eine Verbindung zur Tradition des AT herzustellen, die der Legitmation der mythologischen Jesusfigur dienen sollte.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
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Rembremerding
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#1032 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Rembremerding » So 13. Sep 2015, 10:02

closs hat geschrieben:Das sind die richtigen Titel für wissenschaftliche Bücher. :lol:

Jetzt wird also der nächste Atheist ins Feld geführt, der den Glauben diskreditieren soll. :yawn:

Die RKK hat schon sehr früh die HKM in die Bibelwissenschaft eingeführt. Papst Leo XIII schrieb dafür zum 18. November 1893 eine eigene Enzyklika (Providentissimus Deus).
Papst Pius XII. griff diese erneut auf und ermunterte die katholische Bibelwissenschaft die HKM als Werkzeug fleißig zu nutzen und auch neue archäologische Entdeckungen zu würdigen. Er tat dies in der Enzyklika DIVINO AFFLANTE SPIRITU vom 30. September 1943.
Daraus ein Auszug:
Daß sich die Lage der biblischen Wissenschaft und ihrer Hilfsfächer in den letzten fünfzig Jahren bedeutend geändert hat, kann jedermann unschwer wahrnehmen. Als Unser Vorgänger das Rundschreiben Providentissimus Deus herausgab, war, um anderes zu übergeben, kaum der eine oder andere Ort in Palästina durch wissenschaftliche Ausgrabungsarbeit erforscht. Heute dagegen sind derartige Forschungen viel zahlreicher geworden und liefern uns, dank der strengeren Methode und der durch Erfahrung vervollkommneten Technik, viel reichere und gesicherter Ergebnisse. Wieviel Licht aus diesen Unternehmungen für eine richtigere und vollkommenere Erklärung der biblischen Bücher gewonnen wird, weiß jeder Fachmann, wissen alle, die diese Studien pflegen. Die Wichtigkeit dieser Forschungen wird noch erhöht durch die vielfache Auffindung von Schriftdenkmälern, die zur Kenntnis ältester Sprachen, Literaturen, Ereignisse, Sitten und Formen der Gottesverehrung wesentlich beitragen. Von nicht geringerer Bedeutung ist heute die so häufige Entdeckung und Untersuchung von Papyri, die die Kenntnis der Literatur und der Einrichtungen des öffentlichen und privaten Lebens, besonders der Zeit unseres Heilandes, erfolgreich gefördert haben. Fernerhin hat man alte Handschriften der heiligen Bücher aufgefunden und sorgfältig veröffentlicht; die Schrifterklärung der Kirchenväter ist allgemeiner und gründlicher untersucht worden; die Sprechweise, Erzählungsart und Schreibweise der Alten lässt sich durch ungezählte Beispiele beleuchten. Alle diese Ergebnisse, die unserer Zeit, nicht ohne besondere Absicht der göttlichen Vorsehung, erzielt hat, laden sozusagen Erklärer der Heiligen Schrift ein und mahnen sie, dieses strahlende, uns zuteil gewordene Licht freudig zu benutzen, um Gottes Wort tiefer zu durchforschen, heller zu beleuchten und klarer vorzulegen. Wenn wir, zu Unserem großen Troste, sehen, daß die Exegeten dieser Einladung schon eifrig entsprochen haben, so ist das sicherlich nicht die letzte und geringste Frucht des Rundschreibens Providentissimus Deus Unseres Vorgängers Leos XIII. er hat, dieses neue Aufblühen der Bibelwissenschaft gewissermaßen vorausahnend, die katholischen Exegeten zur Arbeit gerufen und ihnen in Weisheit die Arbeitsmethode vorgezeichnet
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sven23
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#1033 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von sven23 » So 13. Sep 2015, 10:11

Rembremerding hat geschrieben: Die RKK hat schon sehr früh die HKM in die Bibelwissenschaft eingeführt. Papst Leo XIII schrieb dafür zum 18. November 1893 eine eigene Enzyklika (Providentissimus Deus).
Papst Pius XII. griff diese erneut auf und ermunterte die katholische Bibelwissenschaft die HKM als Werkzeug fleißig zu nutzen und auch neue archäologische Entdeckungen zu würdigen. Er tat dies in der Enzyklika DIVINO AFFLANTE SPIRITU vom 30. September 1943.

Nur, was nützt es, wenn man die Erkenntnisse der HKM weitgehend ignoriert?
Es ist so ähnlich wie bei der Carstens-Stiftung in Sachen Homöopathie: man gibt sich gerne einen wissenschaftlichen Anstrich, ignoriert aber regelmäßig alle Studien.
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Savonlinna
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#1034 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Savonlinna » So 13. Sep 2015, 10:19

sven23 hat geschrieben:Lüdemann zeigt, daß die historische Kritik in der evangelischen Kirche weit mehr Berücksichtigung findet als in der katholischen, wenngleich auch nicht bis zur letzten Konsequenz.
Lüdemann "zeigt" das nicht, sondern er behauptet es.
Eine unkritische Übernahme alles dessen, was eine Autoritätsperson schreibt, scheint mir dem Christentum geschuldet.
Man hat sich von der Kirche gelöst, braucht aber sofort neue Autoritäten, die man nicht mehr überprüfen will.

Und bei Lüdemann selber kann man das auch erkennen. So zitierst Du ihn mit:
Lüdemann hat geschrieben: Nun hat aber die Bibelkritik ein für allemal gezeigt
Dieses "ein für allemal" ist so unwissenschaftlich wie nur irgendwas.
In der Wissenschaft gibt es kein ein für allemal, sondern ständig neue Ergebnisse.
Aber in der christlichen Religion gibt es das. Da hat Jesus ein für allemal den Menschen erlöst.

Daran sieht man, wie tief manche Christenkritiker dem Christentum noch verhaftet sind. Deren Denke haben sie noch immer.

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sven23
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#1035 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von sven23 » So 13. Sep 2015, 10:34

Savonlinna hat geschrieben: Lüdemann "zeigt" das nicht, sondern er behauptet es.
Da würde ich ihm aber vertrauen. Die meiste Literatur, die ich bis jetzt als kritisch im eigentlichen Wortsinn gelesen habe, stammt von evangelischen Theologen. Closs meint ja, sie hätten eine mangelnde Fundamentaltheologie. Ich würde das eher als Vorteil sehen.

Savonlinna hat geschrieben: Dieses "ein für allemal" ist so unwissenschaftlich wie nur irgendwas.
In der Wissenschaft gibt es kein ein für allemal, sondern ständig neue Ergebnisse.
Ja, das fiel mir auch auf. Ich hätte es auch anders formuliert, aber am Ergebnis ändert es ja nichts.

Savonlinna hat geschrieben: Aber in der christlichen Religion gibt es das. Da hat Jesus ein für allemal den Menschen erlöst.
Das ist auch eine vorgestanzte Glaubensaussage.
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Savonlinna
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#1036 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Savonlinna » So 13. Sep 2015, 10:56

sven23 hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Dieses "ein für allemal" ist so unwissenschaftlich wie nur irgendwas.
In der Wissenschaft gibt es kein ein für allemal, sondern ständig neue Ergebnisse.
Ja, das fiel mir auch auf. Ich hätte es auch anders formuliert, aber am Ergebnis ändert es ja nichts.
Doch, es ändert was am Ergebnis. Man kann - von der Warte der HKM aus gesehen - in eine Bibel keine allgemeingültigen Wahrheiten reinschreiben.
Die von mir schon erwähnte Bibelausgabe, die 1989 von der Evangelischen Kirche herausgegeben wurde und mit Erläuterungen der HKM-Ergebnisse nur so vollgestopft ist, ist bezüglich dieser Erläuterungen heute schon wieder teilweise überholt.


sven23 hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Aber in der christlichen Religion gibt es das. Da hat Jesus ein für allemal den Menschen erlöst.
Das ist auch eine vorgestanzte Glaubensaussage.
Ja. Aber vorgestanzte Aussagen finde ich hier auch bei den Foren-Atheisten vor; es sind nur andere, aber vorgestanzt sind sie auch, und sie gelten ebenfalls als unhinterfragbar.
Das irritiert mich, und darum könnte ich mich ihnen nie anschließen.

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sven23
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#1037 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von sven23 » So 13. Sep 2015, 11:11

Savonlinna hat geschrieben: Doch, es ändert was am Ergebnis. Man kann - von der Warte der HKM aus gesehen - in eine Bibel keine allgemeingültigen Wahrheiten reinschreiben.
Um es besser zu formulieren: es ändert nichts am aktuellen Stand der Forschung.
Es ist aber auch für einen Laien zu erkennen, daß hier alte Texte okkupiert und gewissermaßen vergewaltigt wurden, einzig mit dem Ziel, den Messias in den alten Schriften zu verwurzeln.
Ähnlich verhält es sich dem der Geburtslegende und den Abstammungslinien.
Das sind doch gerade die Forschungsergebnisse, die besonders in der kath. Kirche nicht publik sind.
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#1038 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Savonlinna » So 13. Sep 2015, 11:26

sven23 hat geschrieben: Es ist aber auch für einen Laien zu erkennen, daß hier alte Texte okkupiert und gewissermaßen vergewaltigt wurden, einzig mit dem Ziel, den Messias in den alten Schriften zu verwurzeln.
Der "Laie" meint, selber zu erkennen, aber er folgt den Angaben einer Autorität, die er nicht mehr hinterfragt, in dem Fall Lüdemann.

Die HKM hat - anders, als der Laie meint - herausgefunden, dass die alten Texte des AT vielleicht aus der Erinnerung falsch zitiert wurden.
Oder dass es damals kein Copyright gab und auch kein Gefühl für selbiges.

Der von Lüdemann gelenkte Neu-Atheist unterstellt Böses dabei. Er geht von der heutigen Zeit aus, wo es Copyright gibt.
Das Wort "vergewaltigen" wird der damaligen Zeit nicht gerecht.
Das versucht auch die HKM zu erläutern.

Wenn der Fettdruck der Stellen des AT, die auf die angeblichen Prophezeiungen für den Messias hinweisen, erhalten geblieben sind, dann werte ich das als gute Hilfe, diese rasch zu finden, damit man sieht, wie die neutestamentlichen Autoren gearbeitet haben.

Lüdemann wertet das negativ, und sofort übernimmst Du seine Meinung.
Das meinte ich mit: das Christentum noch immer im Leibe haben. Aufgeklärtes Denken hinterfragt grundsätzlich; und vor allem hinterfragt es selbstgewählte Autoritäten. Da lauert nämlich am meisten die Gefahr, die Kritkfähigkeit an der Garderobe abzugeben.

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#1039 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von sven23 » So 13. Sep 2015, 11:46

Savonlinna hat geschrieben: Die HKM hat - anders, als der Laie meint - herausgefunden, dass die alten Texte des AT vielleicht aus der Erinnerung falsch zitiert wurden.
Da du auch immer Belege forderst: kannst du das belegen?

Savonlinna hat geschrieben: Oder dass es damals kein Copyright gab und auch kein Gefühl für selbiges.
Es geht nicht um Copyright, sondern um die Absicht, die dahinter steckt. Und die Absicht war eindeutig, eine Brücke zum AT zu schlagen, um den Messias in prophetischen Vorhersagen im AT verwurzeln zu können. Das sollte seine Glaubwürdigkeit erhöhen. Daß Jesus nicht Immanuel hieß, schien auch die Kirche nicht zu stören.
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#1040 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von R.F. » So 13. Sep 2015, 12:22

Münek hat geschrieben: - - -
Wir sollten es vernünftigerweise beim Status quo belassen (haben wir eh nicht zu entscheiden ;) .) Näm-
lich hier die unabhängige Wissenschaft...
- - -
Mal ein wenig ins Detail: An welchen Punkten in Joseph Ratzingers Buch "Jesus" (Band 1 liegt mir vor) stößt Du Dich besonders?

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