Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

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sven23
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#1011 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von sven23 » Mo 10. Aug 2015, 07:18

Hemul hat geschrieben:Darauf würde ich es ohne eine sehr gute Krankenhaus-Tagesgeldversicherung an Deiner Stelle nicht ankommen lassen. ;) Wer von mir getroffen wird braucht sich nie mehr zu rasieren. :lol:
Aha, ein Schlägertyp, dacht ich mir doch. :lol:
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
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Savonlinna
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#1012 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Savonlinna » Mo 10. Aug 2015, 10:48

Münek hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:
Scrypt0n hat geschrieben:Du [also closs] kannst lediglich auf Verse verweisen, die du in deinem Sinne auslegen kannst - die selben kann man jedoch auch für deine gegenteilige Position auslegen.
Das eben tut die historisch-kritische Forschung. Sie prüft durch, wie die Autoren der Schriften mentalmäßig drauf waren - und versucht so herauszufinden, welche Texte in welchem Sinne auslegbar wären. Und bei einigen Texten sind beide Auslegungen möglich.

Um zu einem sachgerechten Ergebnis zu kommen, müssen alle relevanten Texte in ihrer Gesamtheit untersucht werden.
Genau!

Ich hätte präziser schreiben sollen:
Die historisch-kritische Forschung prüft

a. wie der Autor der jeweiligen neutestamentlichen Schrift "mentalmäßig" drauf war - also welche Intention, welchen Zweck er verfolgte, und
b. wie ein Einzeltitat aus dem Gesamtzusammenhang des jeweiligen neutestamentlichen Buches zu verstehen sein könnte - also welche Absicht oder Intention oder Zweck das jeweilige neutestamentliche Buch verfolgt und wie das untersuchte Zitat darin struktruell eingebaut ist.

Genau das ist ja der entscheidende Punkt bei der historisch-kritischen Textanalyse, und auch das Spannende daran. Die verschiedenen biblischen Autoren haben verschiedene Absichten, verschiedene Stilmittel.
Das darf keine Sekunde unberücksichtigt bleiben, wenn man historisch-kritisch forschen will.

Christen gehen natürlich oft anders vor, und auch das ist legitim. Sie kombinieren verschiedene Stellen aus verschiedenen biblischen Büchern und machen sich dann ein persönliches Bild davon. Sie achten nicht auf die jeweiligen historisch-kulturellen unterschiedlichen Kontexte.

Obwohl heute auch evangelikale Christen sich da schon ziemlich schlau gemacht haben und Bescheid darüber wissen, dass man eine Aussage aus Johannes nicht einfach mit einer Aussage aus Matthäus kombinieren kann, als sei das von demselben Autor geschrieben.

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Savonlinna
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#1013 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Savonlinna » Mo 10. Aug 2015, 12:52

Halman hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:[...]
Angenommen, wir würden ins Theater gehen und zwar in der selben Vorstellung. Wenn wir uns nun hinterher zu einem Kaffee oder Tee treffen würden, um über unsere Rezeptionen des Stückes zu diskutieren, würden wir vermutlich feststellen, dass sie recht verschieden sind und folglich auch unsere Interpretationen differieren.
Vermutlich. :)

Halman hat geschrieben:Nun kann es auch Fehlinterpretationen geben, denn jede Interpretation muss sich anhand der zugrundeliegenden Literatur begründenn lassen und kann daher nicht völlig beliebig sein
Ich nenn das lieber nicht "Fehlinterpretation", aber ich weiß, was Du meinst. "Fehler" kann man im grammatischen Bereich machen, aber bei der Interpretation nicht, weil "Interpretation" keine festen Regeln hat wie die Grammatik oder die Mathematik.
Es gibt aber "Anstandsregeln" sozusagen, dass man dem Autor nicht das Wort im Mund herumdreht, Texte aus dem Zusammenhang reißt oder pauschal ein Stück verurteilt, weil der Autor, was weiß ich, mal geklaut hat oder so was oder in der falschen Partei war oder seine Frau verlassen hat.

Halman hat geschrieben:doch lass uns mal annehmen, dass keinem von uns Fehlinterpretationen unterlaufen, sondern wir vielmehr imstande sind, unsere Deutungen anhand des Theaterstückes zu begründen. Über die Fakten, welche Schauspieler spielten, in welcher Sprache das Stück dargeboten wurde, ob der Bühnenaufbau minimalistisch oder aufwändig war usw. sind wir uns natürlich einig. Doch unsere Deutungen können variieren, auch wenn keine Fehlinterpretation bei einem von uns vorliegt.
Ja, und warum das so ist, wurde "wissenschaftlich" ebenfalls erforscht:

Zuschauer A und Zuschauer B können aus verschiedenen Kulturen kommen, haben unterschiedliche Erlebnisse gehabt, haben eine unterschiedliche Ausbildung, und sie können tagesaktuell grad unterschiedlich "drauf" sein.
Das alles fließt in eine Deutung hinein, und kein Mensch kann das in jeglicher Hinsicht verhindern.
Will ich also auch noch deuten, warum Zuschauer A und Zuschauer B das Theaterstück unterschiedlich deuten, müssen solche Vorprägungen zumindest versuchsweise rekonstruiert werden, damit nachvollziehbar wird, warum man so unterschiedlich auf das Stück schaut.

Hans Poser, - inzwischen emeritierter (pensionierter) - Professer für Philosophie, mit Studium von Mathematik, Physik und Philosophie, hat auf sehr beeindruckende Weise in seinem Buch "Wissenschaftstheorie: Eine philosophische Einführung" aufgezeigt, dass unsere Wissenschaften insgesamt auf "Vorprägungen" beruhen, die man meistens gar nicht erkennt.

Ich hab daraus was abgetippt, weil es sehr aufschlussreich ist für unsere Thematik hier:

Hans Poser hat geschrieben:Nun bestimmt aber die Sprache in gewissem Umfang das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen. Dieses Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit ist für die Wissenschaften von fundamentaler Bedeutung, weil Wissenschaften ihre Gegenstände sprachlich erfassen und ihre Resultate sprachlich, in Aussagen und Theorien, niederlegen. Deshalb muss jetzt schon deutlich werden, welcher Art die Probleme sind, die sich daraus ergeben, dass die wissenschaftliche Wrklichkeit immer auch eine sprachlich gefasste Wirklichkeit ist.
[...]
Viel tiefer dringt ein [...] Beispiel Whorfs. Er benennt die Indianersprachen, in denen nicht, wie in indogermanischen Sprachen, Substantiva und Verba vorkommen, sondern in denen alles in einer Verbform ausgedrückt wird. Nun bringen Verben eine Tätigkeit oder Dynamik zum Ausdruck, und hat zur Folge, dass die ganze Welt anders gesehen wird: Während die indogermanischen Sprachen wegen der Dominanz der Substantiva den Eindruck einer Welt der Gegensätnde vermitteln, die Eigenschaften haben, besteht diese Indianersprachenwelt wesentlich aus dynamischen Prozessen. Die Sprache kann also die ganze Ontoloige, ja, die Weltsicht bestimmen.

aus Hans Poser,"Wissenschaftstheorie: Eine philosophische Einführung", Reclam, überarbeitet und erweitert im Jahr 2012, Seite 32f und 35.

Und in der Video-Vorlesung von Paul Hoyningen-Huene "Was ist Wissenschaft" - für deren Verlinkung ich Dir sehr, sehr dankbar bin -, wird sogar aufgezeigt, dass die Wissenschaft insgesamt heute die alten Methoden über Bord werfen musste, weil sie nicht standhielten.
Hier noch mal der Link: https://www.youtube.com/watch?v=o142gK-kxt0

Insofern ist da vieles inzwischen "in der Schwebe", was einmal gesichert schien, und verunsichert.
Das führt zu Deiner nächsten Aussage:

Halman hat geschrieben:Der moderne Mensch scheint mir aber große Schwierigkeiten damit zu haben, Interpretationen in der "Schwebe" zu halten, er verlangt nach eindeutiger Konkretisierung, ist nüchtern faktenorientiert und vermag die "Farben" der Symbolsprache, die über das rational fassbare ins Unergründbare weist, nicht mehr wahrzunehmen.
Symbolblinde Rezipienten können natürlich die "Sprache" der Bibel nicht verstehen und ausdeuten. Daher können sie die "Zahlen" nicht erkennen - sie lesen nur Wirrwarr - entsprechend ist ihr Urteil.
Ich vermute, dass das, was Du beschreibst, bereits eine Gegenreaktion ist.
In der Literaturwissenschaft hat man mehr und mehr erkannt, wieviele "Vorprägungen" eine Rolle spielen, wenn der Mensch etwas "verstehen" will.
Am Ende sagten viele: "Es gibt keine endgültige Wahrheit", bis hin zu "Alles ist relativ".

Damit können viele nicht leben, sie BRAUCHEN Sicherheiten. Ich habe das auch in literarischen Foren beobachtet:
Laienleser greifen zurück auf den Positivismus des 19. Jahrhunderts, holen ihn aus dem Grab und beleben ihn neu.
Sie lesen, so wie Du sagst, faktenorientiert. Dass etwas unterschiedlich verstanden werden kann, bekämpfen sie.
Dass etwas symbolhaft verstanden werden kann, lehnen sie ab, das ist ihnen zu ungenau, zu schwammig.

Ich fasse das also als eine Art Gegenreaktion auf, weil die Wissenschaften eventuell zur Zeit den archimedischen Punkt verloren haben.
Auch die Neue Religiösität sehe ich in diesem Zusammenhang: Gott sei der archimedische Punkt.

Da aber "Gott" nur ein Wort ist, bin ich immer unterwegs, verstehen zu wollen, was die einzelnen Gläubigen damit meinen. Was genau also der archimedische Punkt für sie ist. Ob dieser archimedische Punkt nur intellektuell konstruiert ist - was ich nicht selten in Einzelfällen vermute -, oder ob da etwas als "real" erkannt wird, was auch die Wissenschaft nicht leugnen würde, wenn sie erst mal aus ihrem derzeitigen "Loch" herauskäme.

So weit ich die von Dir verlinkte Vorlesungsreihe "Was ist Wissen" - die auf streng philosophischer Basis abgehalten wird - schon begriffen habe, hat Paul Hoyningen-Huene eine Hypothese entwickelt, wie die Wissenschaft aus diesem Loch herauskommen könnte.

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Zeus
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#1014 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Zeus » Mo 10. Aug 2015, 14:30

sven23 hat geschrieben:
Hemul hat geschrieben:Darauf würde ich es ohne eine sehr gute Krankenhaus-Tagesgeldversicherung an Deiner Stelle nicht ankommen lassen. ;) Wer von mir getroffen wird braucht sich nie mehr zu rasieren. :lol:
Aha, ein Schlägertyp, dacht ich mir doch. :lol:
Ein Beweis christlichrer Nächstenliebe?
e^(i*Pi) + 1 = 0
Gott ist das einzige Wesen, das, um zu herrschen, noch nicht einmal existieren muss.
(Charles Baudelaire, frz. Schriftsteller, 1821-1867)

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Halman
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#1015 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Halman » Mo 10. Aug 2015, 14:53

Zeus hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:
Hemul hat geschrieben:Darauf würde ich es ohne eine sehr gute Krankenhaus-Tagesgeldversicherung an Deiner Stelle nicht ankommen lassen. ;) Wer von mir getroffen wird braucht sich nie mehr zu rasieren. :lol:
Aha, ein Schlägertyp, dacht ich mir doch. :lol:
Ein Beweis christlichrer Nächstenliebe?
Zumindest ist dies kontaktfreudig.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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#1016 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Savonlinna » Mo 10. Aug 2015, 14:54

bitte löschen, doppelt gepostet

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#1017 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von sven23 » Mo 10. Aug 2015, 15:19

Halman hat geschrieben: Zumindest ist dies kontaktfreudig.
Yep, Karate-Vollkontakt. :lol:
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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#1018 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Münek » Mo 10. Aug 2015, 15:37

Scrypt0n hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Je nach Hermeneutik wird man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Wenn man willkürlich setzt, dass Jesus der Sohn Gottes ist - oder sogar noch weiter geht und behauptet, es wäre Gott selbst in einer anderen Gestalt und man damit ebenfalls setzt, dass sich Jesus unmöglich geirrt haben kann, kommt man aufgrund dieser Glaubensdogmen selbstverständlich zu einem anderen Ergebnis.
Nämlich zu einem Ergebnis, welches den eigenen - deinen - Glauben nicht in Frage stellt. Damit wird das Ergebnis von vorn herein festgelegt.

Dem ist nichts hinzuzufügen! :thumbup:

Man setzt und setzt und setzt - bis es dem Lehrer zu bunt wird und er den setzenden Schüler anraunzt: "Sechs! Setzen!" :lol: :lol: :lol:

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#1019 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Münek » Mo 10. Aug 2015, 15:49

sven23 hat geschrieben:
Halman hat geschrieben: Zumindest ist dies kontaktfreudig.
Yep, Karate-Vollkontakt. :lol:

Unser Hemul könnte doch keiner Fliege was zu Leide tun, zumindest keiner gläubigen Fliege -
mit dem Emblem "ZJ" auf den Flügeln. Allerding fließt auch Mike-Krüger-Blut in seinen Adern:


Denn ich bin Hemul, Hemul von der Werft
und ich kanns nun mal nicht ab, wenn man mich nervt.

Und nervt mich einer, zähl ich bis acht...
dann kriegt er in die Schnauze bis er lacht...


:lol: :lol: :lol:

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#1020 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Münek » Mo 10. Aug 2015, 18:56

closs hat geschrieben:
Münek hat geschrieben:Solltest Du es tatächlich geschafft haben, "vom Deiner "Meta-Ebene" in die Realität herabzusteigen?".
Es geht ohnehin ausschließlich um "Realität"/"Wirklichkeit"/"das, was der Fall war". - Da ist keine eigener Schritt zu tun.

Ob positvistische oder kanonische Hermeneutik: Es geht ausschließlich um die Frage, "was der Fall war". - Nur gibt es dazu modell-/perspektiven-bedingt unterschiedliche Antworten, die (je nach Wissenschafts-Definition) entweder beide wissenschaftlich oder beide schein-wissenschaftlich sind. - Dazwischen gibt es nichts.

Was der "Fall ist", entzieht sich unserer Kenntnis.

Deshalb ist es müßig, darüber auch nur ein Wort zu verlieren oder gar diese Vokabel als "Argument" zu benutzen. Kannste knicken.

Du liegst weiterhin mit Deiner Behauptung daneben, die "kanonische Exegese" sei wissenschaftlich. Ganz im Gegenteil. Sie wurde
in den 1980er Jahren in den USA dezidiert als Gegenpol zur historisch-kritischen, d.h. wissenschaftlichen Exegese entwickelt und
sucht (nach einer später von der "Päpstlichen Bibelkommission" formulierten Erläuterung) "den Text innerhalb des einzigen Planes
Gottes zu situieren
." (= einzubetten, zu platzieren)

Mit dieser gottglaubensmäßigen Hermeneutik (Prämisse, Vorannahme) hat sich die "kanonische Bibelausle-
gung" als Wissenschaft" disqualifiziert, oder besser: sie besaß a priori keinen wissenschaftlichen Status.

Gottesglaube und Wissenschaft sind wie Feuer und Wasser. Inkompatibel. :thumbup:

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