Exegese - Segen oder Fluch?

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Halman
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#61 Re: Exegese - Segen oder Fluch?

Beitrag von Halman » Do 4. Aug 2016, 00:57

Über die Parusieverzögerung wird hier seid Jahren kontrovers gestritten. Prof. em. Klaus Berger führt sie ins seinem Buch "Die Bibelfälscher" als ein Beispiel für Verdrehungen durch die liberale Exegese an. Wenn Ihr im nun folgendem Link eine Seite weiter klickt, dann kommt ihr zum Kapitel Beispiele für Verdrehungen durch die liberale Exegese und könnt dort seine Argumentation selbst nachlesen.
Ich stimme mit Berger darin überein, dass Mk 9:1 mit Mk 9:2-8 zusammenhängt. Er zeigt eine alternative Deutungsmöglichkeit auf, gem. der das Reich Gottes durch die Verklärung Jesu offenbar wurde und so die ausgesuchten Jünger tatsächlich Zeugen dieses Reiches wurden. Diese Erklärung deckt sich meiner Meinung nach mit meinem Beitrag vom Do 6. Aug 2015, 16:26.
Noch einen Klick im Buch-Link weiter erklärt Berger, dass Jesu Gotteskindschaft und das Reich Gottes miteinander verschränkt sind. Dies wird besonders in Luk 11:20 deutlich.
Meiner Meinung nach ignoriert die liberale Exegese diese geistliche Dimension, sie fehlt schlicht und ergreifend in der liberalen Bibelhermeneutik, und so verkennt sie die Tiefe, welche die Texte enthalten. Meine Meinung basiert auf meine Rezeption von Bergers Buch, auf welches ich mich hier beziehe.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

closs
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#62 Re: Exegese - Segen oder Fluch?

Beitrag von closs » Do 4. Aug 2016, 01:10

Halman hat geschrieben:dann kommt ihr zum Kapitel Beispiele für Verdrehungen durch die liberale Exegese und könnt dort seine Argumentation selbst nachlesen.
Richtig gut - danke.

Halman hat geschrieben:Meiner Meinung nach ignoriert die liberale Exegese diese geistliche Dimension, sie fehlt schlicht und ergreifend in der liberalen Bibelhermeneutik, und so verkennt sie die Tiefe, welche die Texte enthalten.
Genau so ist es.

Nun muss man ja Berger nicht zustimmen - aber wenn man wenigstens KAPIEREN würde, was er sagt. - Und da bin ich total unsicher, ob "liberale Exegese" so selbst-immunisiert ist, dass sie es nicht erkennen KANN, oder ob es ein ganz normaler Machtkampf ist, bei dem man sich einfach durchsetzen will, damit einem die Lehrstühle nicht wegbrechen.

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sven23
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#63 Re: Exegese - Segen oder Fluch?

Beitrag von sven23 » Do 4. Aug 2016, 08:02

closs hat geschrieben:
Halman hat geschrieben:dann kommt ihr zum Kapitel Beispiele für Verdrehungen durch die liberale Exegese und könnt dort seine Argumentation selbst nachlesen.
Richtig gut - danke.
So gut nun auch wieder nicht.
Berger vertritt hier eine Außenseiterposition (ich bin hier der Exeget), um die Naherwartung irgendwie noch zu retten.
Die Mehrheit der Exegeten sieht das anders, völlig zu Recht, wie ich meine.
Die Aussage "es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken werden, bis sie sehen das Reich Gottes komme mit Kraft" mit der 6 Tage später erfolgenden "Verklärung" in Verbindung zu bringen, ist schon ziemlich gewagt. Würde man ein Ereignis, das nur ein paar Tage später stattfindet, so geschwollen ankündigen?
"es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken werden, bis sie sehen das Reich Gottes komme mit Kraft" ist ein Versprechen, dass einige die anbrechende Gottesherrschaft noch innerhalb ihrer eigenen Lebensspanne erleben werden.

Wahrlich ich sage dir closs; du wirst den Tod nicht schmecken, bevor du nächste Woche in Urlaub fährst. Macht keinen Sinn.
Die Mehrzahl der Exegeten sieht das auch so.
Und was ist mit "Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen..."? Hat Berger dafür auch eine Ausrede?
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closs
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#64 Re: Exegese - Segen oder Fluch?

Beitrag von closs » Do 4. Aug 2016, 08:54

sven23 hat geschrieben:Hat Berger dafür auch eine Ausrede?
Es geht hier nicht um Ausreden, sondern um einen theologische Gegenentwurf zu einer säkularen Bibel-Deutung.

Mit den "Städten Israels" ist das so eine Sache. Als Einzelzitat hat es echte Durchschlagskraft - aber das hat das Zitat "Das Reich Gottes ist in Euch" auf der anderen Seite auch. - Also was nun?

Oder ist es ein Irrtums-Zitat eines Naherwartungs-Versteher-Textverfassers? Oder ist damit weise gemeint, dass man mit den Städten Israels NIE fertig werden kann, weil sie so starrnackig sind? - Man käme näher, wenn man den aramäischen/hebräischen Urtext verstehen würde (wenn es überhaupt so einen gibt).

Ich glaube, Halman fasst die Problematik gut zusammen, wenn er schreibt:
Halman hat geschrieben:Meiner Meinung nach ignoriert die liberale Exegese diese geistliche Dimension, sie fehlt schlicht und ergreifend in der liberalen Bibelhermeneutik, und so verkennt sie die Tiefe, welche die Texte enthalten.

2Lena
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#65 Re: Exegese - Segen oder Fluch?

Beitrag von 2Lena » Do 4. Aug 2016, 08:55

Sven23 hat geschrieben:"es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken werden, bis sie sehen das Reich Gottes komme mit Kraft" ist ein Versprechen, dass einige die anbrechende Gottesherrschaft noch innerhalb ihrer eigenen Lebensspanne erleben werden.
Lieber Sven23, es ist ein Dilemma, diese Sache - ohne ein wirklich grundlegendes Wissen in der Psychologie herauszubekommen.

Bisher geht diese (ähnlich Freud) nur von irgendwelchen Verhaltensmustern der Menschen aus. Dass ein Mensch Depressionen hat, wird auf persönliche Defekte, wenig Sonnenlicht oder dergleichen geschoben, um nur ein Beispiel zu nennen. Dann erhält er Medikamente, die ihn betäuben.

Es ist im Reich der Psychologie nichts über die "Seele" klar. Zwar halten einige Pfarrer in den Spitzturmhäusern immer noch die Predigt vom unsterblichen Leben, aber die Meisten glauben das selber kaum.

Dass eine Seele gleichzeitig in verschiedenen Erdenleben oder etwa gar in den Sternen "lebt", ist ihnen total schleierhaft. Wenigstens sind sind wir gut dran, dass wir uns im Computer das Multitasking wenigstens recht vage vorstellen können.

Das hieße, mit anderen Worten, dass die Aussagen Jesu richtig sind - uns aber die Vorstellung über die Wirkungsweisen der Seele ganz und gar fehlen. Warum forscht man nicht da weiter ...?

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sven23
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#66 Re: Exegese - Segen oder Fluch?

Beitrag von sven23 » Do 4. Aug 2016, 10:30

closs hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:Hat Berger dafür auch eine Ausrede?
Mit den "Städten Israels" ist das so eine Sache. Als Einzelzitat hat es echte Durchschlagskraft - aber das hat das Zitat "Das Reich Gottes ist in Euch" auf der anderen Seite auch. - Also was nun?
Berger ignoriert, dass man vor einem inneren Gottesreich nicht warnen und zur Eile mahnen muss: Kehrt um, tut Buße, bevor es spät ist.
Die seriöse Forschung ist dagegen bemüht, alle Textstellen zu berücksichtigen und sie in ein schlüssiges Gesamtkonzept einzubinden. Nur so kann man den Texten und ihrer Entwicklung gerecht werden.

closs hat geschrieben: Oder ist damit weise gemeint, dass man mit den Städten Israels NIE fertig werden kann, weil sie so starrnackig sind? -
Nein, das mit Sicherheit nicht, das wäre Eisegese vom Allerfeinsten.
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Halman
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#67 Re: Exegese - Segen oder Fluch?

Beitrag von Halman » Do 4. Aug 2016, 12:46

closs hat geschrieben:
Halman hat geschrieben:dann kommt ihr zum Kapitel Beispiele für Verdrehungen durch die liberale Exegese und könnt dort seine Argumentation selbst nachlesen.
Richtig gut - danke.
Freut mich. :)

closs hat geschrieben:Nun muss man ja Berger nicht zustimmen - aber wenn man wenigstens KAPIEREN würde, was er sagt. - Und da bin ich total unsicher, ob "liberale Exegese" so selbst-immunisiert ist, dass sie es nicht erkennen KANN, oder ob es ein ganz normaler Machtkampf ist, bei dem man sich einfach durchsetzen will, damit einem die Lehrstühle nicht wegbrechen.
Danke für diesen Hinweis, Vermutlich ist es so, dass "Liberale" es nicht WOLLEN.

Bergers Buch "Die Bibelfälscher" ist ein populär-theologisches Buch, mit dem er meiner Meinung nach beabsichtigt, möglichst viele Menschen zu sensibilisieren. Es wurde offenbar ganz bewusst NICHT als Fachbuch geschrieben. Dass dem emeritierten Professor dies sehr wohl bewusst sein dürfte, wird aus seinen einleitenen Worten seines Jesus-Buches deutlich:
Zitat von Klaus Berger (JESUS / Einführung, Seite 13):
Mit diesem Buch überschreite ich bewusst mein Fachgebiet. Mein Beruf ist es, die Bibel und ihr Umfeld wissenschaftlich zu erforschen. Als Exeget bin ich normalerweise für Texte und Textauslegungen zuständig, weitergehende Fragen sind tabu. In diesem Buch aber verlasse ich mein Terrain. Ich möchte modernen Menschen sagen, was sie von Jesus haben. Ich möchte Menschen antworten, die fragen, ob Jesus heute noch irgendeine Bedeutung für sie hat. Wer mich als Exeget kennen lernen möchte, soll mein Buch »Wer war Jesus wirklich?« lesen.

Wie Berger in seinem Buch auf Seite 27, urteilt Theißen: Johannes war kein Zeuge Jesu. In den Links kann jeder die Argumentationen der Exegeten nachlesen.
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#68 Re: Exegese - Segen oder Fluch?

Beitrag von closs » Do 4. Aug 2016, 12:51

sven23 hat geschrieben:Die seriöse Forschung ist dagegen bemüht, alle Textstellen zu berücksichtigen
Das ist ja genau auch der Ansatz der kanonischen Exegese - bis zurück zur Genesis. - Im übrigen: Natürlich gibt es Widersprüche zu der einen oder anderen Deutungs-Version - warum, haben wir lange genug diskutiert.

sven23 hat geschrieben:das wäre Eisegese vom Allerfeinsten.
Könnte in diesem speziellen Fall tatsächlich so sein. - Untersuchungswürdig wäre aus meiner Sicht, warum es all die Widersprüche in beide Richtungen gibt. - Meine Antwort kennst Du - aber was sagen einerseits HKM-ler und andererseits Kanoniker dazu?

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#69 Re: Exegese - Segen oder Fluch?

Beitrag von closs » Do 4. Aug 2016, 12:53

Halman hat geschrieben:Vermutlich ist es so, dass "Liberale" es nicht WOLLEN.
Das weiß ich eben nicht. - Ich kann mir auch gut vorstellen, dass man von einer Denkweise so eingenommen ist, dass man sich gar nicht mehr authentisch in andere Denkweisen versetzen kann.

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#70 Re: Exegese - Segen oder Fluch?

Beitrag von Halman » Do 4. Aug 2016, 13:04

closs hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:Hat Berger dafür auch eine Ausrede?
Es geht hier nicht um Ausreden, sondern um einen theologische Gegenentwurf zu einer säkularen Bibel-Deutung.

Mit den "Städten Israels" ist das so eine Sache. Als Einzelzitat hat es echte Durchschlagskraft - aber das hat das Zitat "Das Reich Gottes ist in Euch" auf der anderen Seite auch. - Also was nun?

Oder ist es ein Irrtums-Zitat eines Naherwartungs-Versteher-Textverfassers? Oder ist damit weise gemeint, dass man mit den Städten Israels NIE fertig werden kann, weil sie so starrnackig sind? - Man käme näher, wenn man den aramäischen/hebräischen Urtext verstehen würde (wenn es überhaupt so einen gibt).
Ich denke, dass man auch gut mit dem altgriechischem Grundtext arbeiten kann, schließlich wurde dieser von den Urchristen im Umlauf gebraucht, um das Evangelium zu verkünden.
Das Zitat mit den "Städten Israels" ist vermutlich das stärkste Argument der Kritiker und dieses Jesuslogion halte ich auch aus zwei Gründen für authentisch:
1. Weil es in "Spannung" anderen Versen des Gesamtkontextes steht.
2. Weil Jesus in der Tat zu den "Schafen Israels" gesandt wurde.
Dies spricht meiner Meinung nach für die Authenzität des MatEv's. Der Vers ist Teil einer jesuanischen Rede, in der Jesus möglicherweise auch auf die Verkündung des Evangeliums in den Diasporastädten anspielte:
18 auch vor Fürsten und Könige wird man euch führen um meinetwillen, ihnen und den Heiden zum Zeugnis. (Mat 10:18)
[...]
23 Wenn sie euch aber in der einen Stadt verfolgen, so flieht in eine andere. Denn wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels nicht fertig sein, bis der Sohn des Menschen kommt. (Mat 10:23)
Wie verstehst Du diese Verse im Zusammenhang?

Ich stimme mit Dir darin überein, dass man sich nicht nur einen Vers herauspicken darf, sondern ihn im Gesamtkontext zu anderen Äußerungen betrachten sollte. Diesbezüglich verweise ich auf meine Beiträge vom Do 5. Mai 2016, 12:44 und Do 5. Mai 2016, 17:29.
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