Thaddäus hat geschrieben:Doch nun zum Eigentlichen: Ich musste nicht lange suchen, um die wissenschaftlich prekäre Prämisse der zengerschen kanonischen Exegese in der Wiedergabe Jastrzembskis zu finden. Sie zeigt sich in dieser Formulierung:
Wenn ich diese Annahme richtig verstehe, besagt sie nicht weniger, als dass
bereits die altestamentlichen Autoren ihre Schriften - wissentlich oder unwissentlich - in einer Art Vorausschau oder Vorahnung auf das NT hin ursprünglich verfasst haben, also daraufhin verfasst haben, dass sich Jesus als der bereits im AT verheissene Messias erweisen wird (
"... sondern sie entstehen als Kanon").
Halman hat geschrieben:
Ja, ich verstehe Deinen Kritikpunkt. Die von Dir hervorgehobene Formulierung lies sich eher wie eine theologisch-religiöse Glaubensbekundung als wie eine theologisch-wissenschaftliche Feststellung.
Ich gebe Euch beiden hier Recht!
Selbst wenn die erweiternde Ausdeutung des Zitates von Georg Steins - rot gefärbt - durch Thaddäus nicht zutreffen würde, wäre sie keine wissenschaftliche Aussage.
Sie kann es auch dadurch nicht werden, wenn Georg Steins das einfach als Prämisse setzen würde, also:
Ich, Georg Steins, setze, dass jeder Text, der später in die Bibel aufgenommen wurde, bereits kanonisch
sei.
Da das Zitat von Georg Steins hier allerdings aus dem Kontext gerissen ist, kann ich im Moment nicht wissen, wie es genau gemeint ist; insofern mache ich keine Aussage über das Denken Georg Steins; ich kann nur sagen:
falls das Zitat so gemeint ist, wie ich meinerseits nun ausgedeutet habe, markiert es eine unwissenschaftliche Aussage.
Die Frage, die sich aber nun erhebt, ist:
muss jegliche kanonische Exegese unwissenschaftlich sein?
Ich sage nach wie vor: Nein!
Und das will ich begründen.
Zunächst einmal muss die Prämisse
eindeutig sein.
Uneiendeutig wäre zum Beispiel die Prämisse: 'Es gibt Gott.'
Da 'Gott' unendlich viele und unerkennbare Bedeutungen für die Leser hat, taugt diese Prämisse für keine wissenschaftliche Untersuchung.
Ebenfalls wäre obige Prämisse: 'Jeder heutige Bibeltext war von Anfang an kanonisch gemeint' uneindeutig: da die Implikationen dieser Aussage nicht auslotbar sind.
Also: Immer, wenn in einer Prämisse eine Katze im Sack verborgen ist, wird keine wissenschaftliche Darlegung möglich sein. Die Eindeutigkeit der Prämisse ist unerlässliche Bedingung für Wissenschaftlichkeit. Denn aus Uneindeutigem kann man nur uneindeutige Resultate folgern.
In der Kunst ist das möglich - sogar erwünscht - , in der Wissenschaft nicht.
Daraus folgt dann die Frage: Gibt es im Bereich kanonischer
Auslegung - außerhalb der
Historie und der
Methodik kanonischer Deutungen - eindeutige Prämissen?
Ich denke, ja.
Nehmen wir die heutige Bibel - ich wähle mal die lutherisch-evangelische, weil die mir vertrauter ist -, dann liegt diese in ihrer heutigen Zusammanstellung als Fakt vor. Und im lutherisch-evangelischen Denken ist diese Zusammenstellung nicht heilig - Luther wollte am liebssten die Offenbarung aus der Bibel rausschmeißen, hat sie dann zumindest an das Ende verfrachtet.
Da die wissenschaftliche kanonische Exegese die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung voraussetzt, wird also auch nicht klammheimlich die Prämisse gesetzt, dass die Einzelschriften nicht einzeln entstanden sind und ihre jeweilige Historie haben.
SONDERN:
Der Blick wird auf den
heutigen Leser gerichtet, nicht auf die Entstehung der Texte.
Weil dieses Phänomen so schwierig ist, gehe ich noch einmal kurz zurück auf die Literaturwissenschaft, denn da haben wir genau das gleiche Phänomen und die gleiche Schwierigkeit:
Die Rezeptionsforschung geht vom Leser aus: Wie versteht
er den Text?
Die literaturwissenschaftliche Rezeptionsanalyse hat in dieser Hinsicht genau die gleichen Erkenntnisse wie die kanonische Exegese:
Es gebe drei Bereiche; in den Worten von Egbert Ballhorn:
a. Die Textwelt
b. Die Herkunftswelt des Textes
c. Die Welt des Lesers
Punkt b. wird von der historisch-kritischen Forschung thematisiert
Punkt a. wird von der werkimmenanten Analyse thematisiert, die in der theologischen Forschung heute mit Punkt b. verbunden ist
c. ist ein entscheidender Punkt des Rezeptionsgedankens, der nicht nur in der Literaturwissenschaft und der Theologie immer mehr an Wichtigkeit gewinnst, sondern insgesamt in den Wissenschaften, sogar in den Naturwissenschaften.
Eine Rezeptionsanalyse untersucht nicht nur Punkt c, sondern c in Zusammenhang mit b und a.
Das ist wichtig.
Ich zitiere dazu - aus Bequemlichkeit - aus Wikipedia, und zwar zu Thesen von Wolfang Iser, einem der profiliertesten literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheoretiker ->
Wikipedia hat geschrieben:Das erste Problem, das Iser aufzeigt, ist das der Gültigkeit literarischer Interpretationen: Wäre die einmal interpretierte Bedeutung die einzig gültige, bliebe für den Leser nichts mehr übrig. Doch ein Text erwacht erst durch das Lesen zum Leben, die Interaktion zwischen Leser und Text ist also fundamental. Jeder Lesevorgang bedeutet eine Aktualisierung des Textes.
Iser fragt, ob es eine Bedeutung des im Text Dargestellten unabhängig von den verschiedenen Reaktionen der Leser gibt. Doch jede Interpretation ist immer nur eine von mehreren möglichen Realisierungen und kann immer wieder verändert werden. Der Text gewährt einen Spielraum für unterschiedliche Aktualisierungsmöglichkeiten: zu unterschiedlichen Zeiten verstehen unterschiedliche Leser den gleichen Text unterschiedlich.
Je weniger ein Text determiniert ist, desto stärker ist der Leser an seiner Sinnkonstitution beteiligt. Der fiktionale Text entzieht sich der Überprüfung in Bezug auf die Realität. Mangelnde Deckung der Textwirklichkeit mit der dem Leser bekannten Realität erzeugt Unbestimmtheit, die wiederum Adaptierbarkeit des Textes an individuelle Leserdispositionen erlaubt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Appel ... _der_Texte
Das Zitat kurz zusammengefasst:
Es findet immer ein Dialog zwischen Text und Leser statt, der Text muss vom Leser aktualisiert werden, damit er als "Sinnfaktor" überhaupt da ist. Bei fiktionalen Texten - die also keine Sachtexte sind - ist diese Unbestimmtheit sogar notwendig,
damit der Leser für sich einen Sinn daraus holen kann.
Das ist auch das, was Ratzinger im Vorwort zu seinem Jesus-Buch schreibt:
Entscheidend sei der heutige Leser, der sich
heute mit dem Text konfrontiert und heute Antwort auf Fragen möchte.
Wie weit dergleichen wissenschaftlich sein kann, muss ich - auch für mich selber - so nach und nach entwickeln, ich bitte da um Geduld.
Eine Sache möchte ich aber noch sagen, sie betrifft den Kanon selber:
Die wird in obigem Punkt a. thematisiert, der Textwelt.
Wenn ich den "Faust" lese, erkläre ich als Textwelt eben den veröffentlichten "Faust" und suche diesen zu verstehen.
Ich kann aber auch andere Werke von Goethe hinzunehmen und die Textwelt, die ich zusammenhängend deuten will, vergrößern.
Solche Sachen nennt man heute "Intertextualität", und sie kann sogar noch weiter gehen:
Man könnte also davon ausgehen, dass alle literarischen Texte, die in den letzten paar Jahren in Deutschland geschrieben wurden, intertextuell zusammenhängen, da kaum ein Autor sich nicht indirekt auf andere Autoren bezieht. Und selbst wenn das nicht der Fall ist, schreiben sie alle unter gleichen momentanen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen.
Man kann sogar bestimmte heutige Texte mit Texten der literarischen Romantik in Verbindung bringen, weil sie alle auf eine Grundproblematik reagieren würden: einem Paradigmawechsel.
Der Witz bei dieser Betrachtungsweise ist: dass Bedeutung nicht nur einfach entschlüsselt wird, sondern durch Lesen und Deuten
geschaffen wird.
Damit unterliegt auch die Vorstellung von "Wissenschaftlichkeit" in gewissem Sinn einem Pardigmenwechsel, dem Rechnung zu tragen ist.
Da bin ich selber dran, das irgendwie verbal zu packen.
Auch hier bitte ich also um Geduld.