Münek hat geschrieben:Die Textkritik soll den Bibeltext möglichst in der ursprünglichen Form rekonstruieren.
Ja - und wenn das passiert ist, muss der Text ja auch noch inhaltlich gedeutet werden - nicht wahr?
Aber Dein Hinweis ist wichtig, weil sich Textkritik auf den Text konzentriert, der vorliegt - und da fragt man danach, ob es der Original-Text ist oder ob es eine Abschrift ist oder wer der angegebene Verfasser ist oder ob der angegebene Verfasser mit dem tatsächlichen Verfasser übereinstimmt, etc.
Weiterhin wird man fragen, was in dem Text inhaltlich steht, der einem vorliegt. - Und dann wird man in unserem Fall an einigen Stellen vermuten/feststellen können, dass der Verfasser (egal ob primär oder sekundär - aber halt eben der, der den Text, der einem vorliegt, geschrieben hat) der Auffassung war, dass Jesus seine Wiederkunft im Sinne der Offenbarung sehr zeitnah datiert hat ("Naherwartung").
Dann wird man - immer noch text-kritisch - versuchen zu überprüfen, ob es andere Texte gibt, die dies bestätigen oder dem widersprechen. - Oder man wird feststellen, dass es keine Vergleichs-Texte gibt.
Diese Arbeit macht jede wissenschaftliche Theologie der Welt - egal ob katholisch oder kubickisch. - Irgendwann wird man sich dann aber doch der Frage zuwenden müssen, wie die im Text thematisierte Person (hier: Jesus) im Kontext der Bibel mit dem konkret textkritisch bearbeiteten Text korreliert. - Und dann können sich Methodiker streiten, ob dies dann noch in die Textkritik/historisch-kritische Methode passt (ich weiss es nicht - es ist letztlich auch egal).
Die Frage lautet in jedem Fall: Wie steht Subjekt (Textverfasser/verfasster Text) zum Objekt (hier: Jesus)? - Diese Frage ist deshalb wichtig, weil Subjekt und Objekt nicht identisch sind. - Und dann kommen eben Theologen, die diese Frage mit unterschiedlichen Argumenten beantworten.
Und dann sagt bspw. Kubicki: "Ich interpretiere, dass sich Subjekt und Objekt nicht wesentlich unterscheiden - der Text könnte inhaltlich aus der Feder Jesu sein". - Und dann sagen die kirchlichen Theologien: "Im biblischen Gesamt-Kontext überlagern sich hier unmittelbare Heilserwartung in der Zeit der Textverfassung mit der jesuanischen Lehre im Kontext von AT und NT. Der Text spiegelt mehr die Zeit seiner Verfassung wider als die Zeit Jesu selbst".
Und dann kommt man halt auf ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen. - Der eine sagt: "Jesus hatte eine (äußere) Naherwartung, in der er sich geirrt hat". - Der andere sagt: "Jesus hatte nie eine (äußere) Naherwartung, weshalb er sich in ihr nicht geirrt haben kann". - Logo.
Aber kein seriöser Wissenschaftler wird im Namen der Wissenschaft sagen: "Es ist erwiesen, dass Jesus sich in seiner Naherwartung geirrt hat". - Denn das würde bedeuten, dass der Betroffene seine eigene Disziplin nicht kennt - als Privatmeinung gekennzeichnet kann man es natürlich schon sagen: "Persönlich glaube ich, dass Jesus eine Naherwartung hatte und sich darin geirrt hat". - Das ist Ausdruck ganz normaler Meinungs-Freiheit.
Ist diese Gedankenführung denn wirklich nicht nachvollziehbar?