Münek hat geschrieben:Aber was verstehst Du unter "Paradigmenwechsel vom AT zum NT"?
Die Menschen zur Zeit Jesu waren das, was man heute "alttestamentarische Menschen" nennen würde (logischerweise hat man sich damals nicht "alttestamentarisch" genannt, weil dieses Wort erst Sinn mit Aufkommen des NT macht).
Für AT-Menschen mit all der traditionellen Konditionierung war Jesus in dieser ihrer Konditionierung schwer zu verstehen - wie könnte es anders sein? - Denn Jesus kam mit Sprüchen, die ich hier fokussieren will auf den Kern "Ich aber sage Euch" - die Schriftgelehrten (also die Hüter des AT) fanden das nicht lustig - die Menschen haben es gemocht, weil es gegen die "Etablierten" ging, verstanden haben sie es auch nicht.
Ein Kern Jesu Botschaft war der Ersatz der äußeren Beschneidung durch die innere Beschneidung, die sehr wohl auch im AT als Motiv erscheint:
"Und der HERR, dein Gott, wird dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen, damit du den HERRN, deinen Gott, liebst von ganzem Herzen und von ganzer Seele, auf dass du am Leben bleibst." (Deuteronomium, 30,6)
Mit Jesus kommt nun derjenige, der damit Ernst macht ("Ich aber sage Euch") - siehe auch Römer:
"25 Die Beschneidung nützt etwas, wenn du das Gesetz hältst; hältst du aber das Gesetz nicht, so bist du aus einem Beschnittenen schon ein Unbeschnittener geworden.
26 Wenn nun der Unbeschnittene hält, was nach dem Gesetz recht ist, meinst du nicht, dass dann der Unbeschnittene vor Gott als Beschnittener gilt?
27 Und so wird der, der von Natur unbeschnitten ist und das Gesetz erfüllt, dir ein Richter sein, der du unter dem Buchstaben und der Beschneidung stehst und das Gesetz übertrittst.
28 Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, auch ist nicht das die Beschneidung, die äußerlich am Fleisch geschieht;
29 sondern der ist ein Jude, der es inwendig verborgen ist, und das ist die Beschneidung des Herzens, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht."
Vergleich dazu Lukas 17 wo diese Verinnerlichung weiter zum Kernpunkt des NT gemacht wird:
"20 Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es beobachten könnte.
21 Man wird nicht sagen: Siehe hier! oder: Siehe dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch".
Das ist ein Paradigmen-Wechsel, der ganz sicher NICHT dazu geführt hat, dass die Menschen gesagt haben: "Kapier ich - kein Problem - lass uns unsere Tradition abwerfen - wir haben alles verstanden". - Selbst die Jünger haben oft nicht gecheckt, was ihr Chef da gesagt hat (Textstellen dazu wurden mehrfach geliefert) - sie haben nur gemerkt, dass da etwas ganz Neues kam - und waren sicherlich verwirrt, dass Jesus sich nicht als Gegner, sondern Erfüller des AT verstanden hat (s.o. Deut. 30,6).
Erst ab Pfingsten haben die Auserwählten gecheckt, was los war - der eine mehr, der andere weniger. - Was sie vereint hat, war, dass sie soviel begriffen haben, dass sie dafür gekämpft/missioniert haben - intellektuell durchdrungen wurde es möglicherweise durch Paulus (obwohl auch er einiges miß-gescheckt hat), vor allem aber durch die späteren Theologen der frühen Jahrhunderte nach Christus.
Paradigmen-Wechsel brauchen Zeit zu ihrer Umsetzung.
Münek hat geschrieben:Auch die neutestamentlichen Forscher berücksichtigen bei ihrer Textauslegung selbstverständlich alttestamentliche Texte.
Dann denken sie halt kanonisch - bravo. - Was im übrigen eine Selbstverständlichkeit sein sollte.
Münek hat geschrieben:Das habe ich kürzlich noch bei "Theißen/Merz" beim Lesen ihres Lehrbuches registriert, als es beispielsweise um den Begriff der "Königsherrschaft Jahwes" ("Reich Gottes") vor allem in den Prophetenbüchern ging.
Ich glaube nicht, dass das Problem bei Theißen/Merz liegt, sondern bei ihrer Instrumentalisierung - wobei wir auf anderer Ebene genau bei Deiner Frage sind: "Wie kommt es, dass agnostische Leser diese nicht verstanden haben?".
Die Antwort ist immer dieselbe: Rezeption ist von eigener geistiger Formatierung beeinflusst.