Parusieverzögerung

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sven23
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#1131 Re: Parusieverzögerung

Beitrag von sven23 » Fr 8. Mai 2015, 19:51

closs hat geschrieben:Durchaus - es trifft aber auch auf die historisch-kritische Methode zu, wenn sie sich so darstellt wie hier im Thread.

Das tut sie doch gar nicht.
Die historisch-kritische Forschung macht natürlich auch Texanalysen unter den unterschiedlichsten Gesichtspunkten.
Man kann aber auch als Laie erkennen, daß die überwiegende Mehrzahl der Zitate eindeutig auf eine Naherwartung schließen lassen. Die Idee der Parsieverzögerung wurde doch erst eingeführt, als man nicht mehr anders konnte.
Die stärksten Indizien sind die Zitate von Jesus selbst und die sich auf die Naherwartung beziehenden Stellen von Petrus.
Zu Petrus gibt es 2 Möglichkeiten:

A: der 2.Petrusbrief ist echt: dann hat man einen Augen- und Ohrenzeugen allererster Güte, der die Naherwartung aus dem Munde Jesus selbst indirekt bestätigt, oder
B: der 2. Petrusbrief ist eine Fälschung. Dann ergibt sich die Frage, warum die Fälscher die Naherwartung überhaupt erwähnten. Sie konnten es sich also nicht leisten, diese zu verschweigen, weil diese im kollektiven Gedächtnis noch so präsent war, daß ein Verschweigen als Manipulation erkannt worden wäre.

Es ist also gar nicht verwunderlich, daß die neutestamentliche Forschung zu den bekannten Ergebnissen kommt.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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Zeus
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#1132 Re: Parusieverzögerung

Beitrag von Zeus » Fr 8. Mai 2015, 20:05

closs hat geschrieben:Durchaus - es trifft aber auch auf die historisch-kritische Methode zu, wenn sie sich so darstellt wie hier im Thread.
Wo hat sich die historisch-kritische Methode denn hier im Thread dargestellt? :o
e^(i*Pi) + 1 = 0
Gott ist das einzige Wesen, das, um zu herrschen, noch nicht einmal existieren muss.
(Charles Baudelaire, frz. Schriftsteller, 1821-1867)

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Savonlinna
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#1133 Re: Parusieverzögerung

Beitrag von Savonlinna » Fr 8. Mai 2015, 20:35

closs hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:"Nicht, was ein Mensch namens Jesus gedacht, gewollt, getan hat, sondern was nach seinem Tode mit ihm gedacht, gewollt, getan worden ist, hat die christliche Religion und mit ihr die Geschichte des so genannten christlichen Abendlandes bestimmt."
Absolut richtig - das gilt aber für alles. Man denke an H.v.Hofmannsthal, der sinngemäß gemeint hat, dass seine Gedanken in dem Moment verfaulen, wenn sie seinen Mund verlassen. - Ein Leitmotiv der Sprach-Philosophie des 20. Jh. (siehst Du das ähnlich, liebe Savi?).
Jetzt habe ich aber Glück, dass ich in diesen Thread geguckt habe, wo ich doch so lieb angesprochen wurde. :)

In einem Punkt hast Du voll ins Schwarze getroffen, closs. Gerade Hugo von Hofmannsthals Chandos-Aufsatz - wo das wahrscheinlich steht, das mit den faulenden Wörtern im Mund - hat mir mehrmals sehr geholfen, mich selber in diesem Punkt zu verstehen.

Was aber Sven schreibt, scheint noch ein bisschen etwas anderes zu sein, und ihm bzw. Augstein gebe ich in dieser Form ebenfalls Recht. Das Genannte gilt zwar auch für alle Menschen, aber für "Jesus Christus", der ja eine überdimensionale Rezeptionsgeschichte hat, noch in besonderem Maße ->

Bezüglich aller Menschen:
Kaum dass ein Mensch gestorben ist, wuchern schon die "Legenden"' über ihn hoch.
Das war seinerzeit so, als der charismatische und beliebte schwedische Ministerpräsident Olof Palme auf der Straße in Stockholm ermordet wurde.
Gleich, noch am selben oder nächsten Tag, wurde erzählt, dass er gegenüber einem Menschen von einer Todesahnung gesprochen habe.
Das war schon Legendenbildung.

Bezüglich Jesus Christus:
Hier webten nach seinem Tod viele, sehr viele Menschen an seinem Bild.

In diesem Ausmaß ist das ein Phänomen, das nicht leicht zu erklären ist, wahrscheinlich auch noch nie wirklich erklärt werden konnte.
Plausibel erscheint mir, dass das allgemeine Zeitbedürfnis nach einem "Heiland", auch nach einem "inneren Heiland" rief, schrie.

Noch sehr viel plausibler erscheint mir außerdem, dass die damaligen Gemeinden und Gemeinschaften innerlich an einem "Urbild" arbeiteten:
dem Mythos vom sterbenden und wiederauferstehenden Gott.
Das hat mit Historie letztlich gar nichts zu tun, auch wenn die "Arbeit an diesem Mythos" historisch geschehen ist und noch immer historisch geschieht.
So ein Mythos hat aber eine starke Kraft, er war in vielen Religionen lebendig, und vielleicht kann die Menschheit ohne diesen Mythos nicht leben. Sie muss ihn herausarbeiten, weil er vielleicht wirklich ein Urbild ist, in dem der Mensch verwurzelt ist.

Der von mir oft erwähnte jüdische und marxistische Philosoph Ernst Bloch sieht in solchen Mythen Ahnungen, die erst in der Zukunft realisiert werden könnten.

Dass solche herausgearbeiteten "Urbilder" auch eine Form der Realität haben, da sie ja vorkommen und wirksam sind, ist meine These.
Und das sage ich nicht als Gläubige, sondern sehe das als Teil einer Vorüberlegung, die die Religionswissenschaft, aber auch - und für mich vor allem - die Anthropologie untersuchen müsste.
Vielleicht gibt da ja auch schon Untersuchungen.

Also, um den Bogen zu Svens Zitat zu ziehen:
Was nach Jesu 'Tod von Menschen gedacht, gewollt, getan wurde, ist eine innere Realität, die bewusst und unbewusst von Menschen geschaffen, erbaut wurde. Oder, wie ich Ernst Bloch deuten würde:
Menschen "rubbeln" durch innere Kreativität etwas frei, was in ihnen als Sehnsucht enthalten ist und noch nur virtuell oder potentiell ist.

Ich glaube, dass so in etwa das der Grund ist, warum viele Christen sagen, dass sie letztlich den historischen Jesus gar nicht brauchen.

2Lena
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#1134 Re: Parusieverzögerung

Beitrag von 2Lena » Fr 8. Mai 2015, 21:11

Ach Sven, deine wunderbaren Zitate!
Sven23 hat geschrieben:Eine bemerkenswerte und imo richtige Einschätzung:
"Zweifellos hat diese Zukunftserwartung ihre Wurzeln in Leben und Lehre Jesu; sie stellt keine nachträgliche Konstruktion der urchristlichen Gemeinde dar. Jesus selbst sprach wiederholt vom Kommen des Menschensohns und vom nahen Ende der Welt(-zeit). Mehrere Texte legen die Vermutung nahe, dass er diese Ereignisse noch zu Lebzeiten seiner Jünger erwartete. Damit hat Jesus selbst das Problem der Parusieverzögerung verursacht, auf das die Schreiber des Neuen Testaments unterschiedliche Antworten geben."
Quelle:Spes Christiana 21, 2010 von Rolf J. Pöhler
Das stammt aus der "evangelischen Ecke"die seit 500 Jahren Verwirrung stiftet, nachdem Luther das "allein die Schrift" deklariert hatte. Schau was die Praxis der Katholischen Kirche war. Das war über Jahrhunderte gleich: Die Messe in Latein, Predigt zum sittlichen Leben, Kirchenchöre, Kunst und soziale Aufgaben ...

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Münek
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#1135 Re: Parusieverzögerung

Beitrag von Münek » Fr 8. Mai 2015, 22:25

Savonlinna hat geschrieben:Ich glaube, dass so in etwa das der Grund ist, warum viele Christen sagen, dass sie letztlich den historischen Jesus gar nicht brauchen.

Der historische Jesus wird den Christen von der Kirche doch gar nicht vermittelt (Religions-, Kate-
chumen- und Konfirmandenunterricht, Gottesdienst). Warum wohl?

Der renommierte Theologe und Professor für Neues Testament Gerd Conzelmann (ein Schüler Rudolf
Bultmanns) traf den Nagel auf den Kopf, als er feststellte:

"Die Kirche lebt praktisch davon, dass die wissenschaftlichen
Ergebnisse der Leben-Jesu-Forschung in ihr nicht publik sind
."

Im Mittelpunkt von Conzelmanns Hauptwerken steht die Erkenntnis, dass in den Schriften des "Neuen
Testaments" nicht vom historischen Jesus die Rede ist, sondern von einer theologischen Kunstfigur der
biblischen Autoren.

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Münek
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#1136 Re: Parusieverzögerung

Beitrag von Münek » Fr 8. Mai 2015, 22:37

closs hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:Weltanschauliche Prämissen treffen aber eher auf die Fundamentaltheologie zu
Durchaus - es trifft aber auch auf die historisch-kritische Methode zu, wenn sie sich so darstellt wie hier im Thread.

Welche Prämissen (Axiome) sollten das denn sein? :o

Jetzt tue mal Butter bei die Fische...

closs
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#1137 Re: Parusieverzögerung

Beitrag von closs » Fr 8. Mai 2015, 22:46

sven23 hat geschrieben:Die historisch-kritische Forschung macht natürlich auch Texanalysen unter den unterschiedlichsten Gesichtspunkten.
Das macht Sinn. - Es wäre dabei zu erwarten, dass diese Gesichtspunkte vorab erläutert werden (was ich nicht absprechen will). - Jedenfalls könnten dann nicht Sätze raus kommen, dass Jesus eine Naherwartung HATTE, sondern dass dies unter dem Aspekt der eigenen Gesichtspunkte naheliegt.

sven23 hat geschrieben:Die stärksten Indizien sind die Zitate von Jesus selbst
Text-kritische Todsünde, die Du da begehst: Du setzt Text-Zeugnisse ÜBER Jesus mit Jesus gleich. - Ein no go.

Zeus hat geschrieben:Wo hat sich die historisch-kritische Methode denn hier im Thread dargestellt?
Indem sie als Grundlage des Satzes dargestellt wurde, Jesus HABE selbst eine Naherwartung gehabt. - Als sei dies ein text-kritisches Ergebnis in Tatsachen-Rang. - So kommt es ständig rüber.

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Magdalena61
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#1138 Re: Parusieverzögerung

Beitrag von Magdalena61 » Fr 8. Mai 2015, 22:47

Hemul hat geschrieben:
32 Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.«
Magdalena61 hat geschrieben:WAS meint Jesus mit "Wahrheit"?
Bestimmt nicht Zeit und Stunde und die genauen Umstände seiner Wiederkunft.
Tag und Stunde sollte man gem. Matthäus 24:36 nicht wissen. Was Jesus einen Atemzug vorher nämlich in den Versen 32+33 hervorhebt zeigt aber unmissverständlich, dass seine wahren Nachfolger die genauen Umstände seiner Wiederkunft deutlich
erkennen sollten:

32 Von dem Feigenbaum aber lernt das Gleichnis: Wenn sein Zweig schon saftig wird und Blätter treibt, so erkennt ihr, daß der Sommer nahe ist. 33 Also auch ihr, wenn ihr dies alles seht, so erkennt, daß er nahe vor der Türe ist. 34 Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschehen ist. 35 Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. 36 Um jenen Tag aber und die Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, sondern allein mein Vater.

Die erfüllten Ereignisse die Jesus vor seinen obigen Worten in Matthäus 24 aufzählt sollten ein sicheres Zeichen dafür sein, dass seine Parusie unmittelbar bevorstehen musste.
Aber der Feigenbaum steht für Israel!

Und mit Israel ging es definitiv erst einmal den Bach runter, einige Zeit nach diesen Worten... bis zur Zerstörung Jerusalems und der Vertreibung/ Verschleppung des Volkes in alle möglichen Länder der Erde.

Sie sind gerade mal dabei, sich zusammen zu rappeln, seit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Von "saftigen Zweigen" und von "Blättern", die dem Fruchttragen wohl vorangehen müssen, kann man derzeit nur ansatzweise sprechen. Das moderne Israel ist kein flächendeckend gläubiges Land; die Bevölkerung glaubt gemischt, wie überall.

Folglich muß man, wenn man diese Prophetie ernst nimmt, die Wiederkunft Jesu in die Zukunft verlegen. Dann passt es...
LG
God bless you all for what you all have done for me.

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Münek
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#1139 Re: Parusieverzögerung

Beitrag von Münek » Fr 8. Mai 2015, 22:55

closs hat geschrieben:Und weil das so ist, gibt es ja den ständigen Kampf, das zu entdecken, was WIRKLICH gedacht, gewollt und getan wurde - und dabei kommen immer wieder andere Interpretationen heraus, weil sich der Untersuchungs-Gegenstand (hier: Jesus) immer wieder neu im Untersuchenden ("Exegeten") spiegelt - je nach Epoche anders. - Ganz normal.

Aber ganz gewiss nicht, was Jesu zentrale Botschaft betrifft.

Dass das angekündigte "Reich Gottes" nicht kam, ist Fakt. Dass Jesus seinen Landsleuten den
nahe bevorstehenden Anbruch der Gottesherrschaft (Reich Gottes) auf Erden predigte ebenso.

Was Du Dir da erhoffst, halte ich für völlig ausgeschlossen.

closs
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#1140 Re: Parusieverzögerung

Beitrag von closs » Fr 8. Mai 2015, 22:56

@ Savi:
Deinen Ausführungen kann ich im wesentlichen folgen und zustimmen.

Savonlinna hat geschrieben:Also, um den Bogen zu Svens Zitat zu ziehen:
Was nach Jesu 'Tod von Menschen gedacht, gewollt, getan wurde, ist eine innere Realität, die bewusst und unbewusst von Menschen geschaffen, erbaut wurde. Oder, wie ich Ernst Bloch deuten würde: Menschen "rubbeln" durch innere Kreativität etwas frei, was in ihnen als Sehnsucht enthalten ist und noch nur virtuell oder potentiell ist.
Genau so. - Und genau deshalb ist es unzulässig, unter historisch-kritischen Gesichtspunkten zu begründen, dass Jesus selbst eine Naherwartung hatte - so wie man Olof Palme nicht unterstellen kann, dass er wirklich eine Todesahnung hatte.

Natürlich KANN es (unter text-kritischen Gesichtspunkten) sein, dass Jesus selbst eine Naherwartung hatte - aber es kann (unter text-kritischen Gesichtspunkten) genauso sein, dass Jesus genau diesem Hype (Heiland-Erwartung der Zeit/Endzeit-Erwartung der Zeit) entgegentreten wollte, indem er diese äußeren Erwartungen in innere Erwartungen transformiert hat - aber (noch) nicht verstanden wurde (das ist ja UNSERE heilsgeschichtliche Aufgabe, das zu kapieren).

Beide Annahmen sind intellektuell und logisch hoch-redlich - halt unter verschiedenen Prämissen betrachtet - das ist erlaubt.

Savonlinna hat geschrieben:Ich glaube, dass so in etwa das der Grund ist, warum viele Christen sagen, dass sie letztlich den historischen Jesus gar nicht brauchen.
"Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" (Goethe, FaustII) - also auch Geschichte ist ein Gleichnis. - Insofern ist es egal, wie man es sieht.

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