closs hat geschrieben:sven23 hat geschrieben:"Nicht, was ein Mensch namens Jesus gedacht, gewollt, getan hat, sondern was nach seinem Tode mit ihm gedacht, gewollt, getan worden ist, hat die christliche Religion und mit ihr die Geschichte des so genannten christlichen Abendlandes bestimmt."
Absolut richtig - das gilt aber für alles. Man denke an H.v.Hofmannsthal, der sinngemäß gemeint hat, dass seine Gedanken in dem Moment verfaulen, wenn sie seinen Mund verlassen. - Ein Leitmotiv der Sprach-Philosophie des 20. Jh.
(siehst Du das ähnlich, liebe Savi?).
Jetzt habe ich aber Glück, dass ich in diesen Thread geguckt habe, wo ich doch so lieb angesprochen wurde.
In einem Punkt hast Du voll ins Schwarze getroffen, closs. Gerade Hugo von Hofmannsthals Chandos-Aufsatz - wo das wahrscheinlich steht, das mit den faulenden Wörtern im Mund - hat mir mehrmals sehr geholfen, mich selber in diesem Punkt zu verstehen.
Was aber Sven schreibt, scheint noch ein bisschen etwas anderes zu sein, und ihm bzw. Augstein gebe ich in dieser Form ebenfalls Recht. Das Genannte gilt zwar
auch für alle Menschen, aber für "Jesus Christus", der ja eine überdimensionale Rezeptionsgeschichte hat, noch in besonderem Maße ->
Bezüglich aller Menschen:
Kaum dass ein Mensch gestorben ist, wuchern schon die "Legenden"' über ihn hoch.
Das war seinerzeit so, als der charismatische und beliebte schwedische Ministerpräsident Olof Palme auf der Straße in Stockholm ermordet wurde.
Gleich, noch am selben oder nächsten Tag, wurde erzählt, dass er gegenüber einem Menschen von einer Todesahnung gesprochen habe.
Das war schon Legendenbildung.
Bezüglich Jesus Christus:
Hier webten nach seinem Tod viele, sehr viele Menschen an seinem Bild.
In diesem Ausmaß ist das ein Phänomen, das nicht leicht zu erklären ist, wahrscheinlich auch noch nie wirklich erklärt werden konnte.
Plausibel erscheint mir, dass das allgemeine Zeitbedürfnis nach einem "Heiland", auch nach einem "inneren Heiland" rief, schrie.
Noch sehr viel plausibler erscheint mir außerdem, dass die damaligen Gemeinden und Gemeinschaften innerlich an einem "Urbild" arbeiteten:
dem Mythos vom sterbenden und wiederauferstehenden Gott.
Das hat mit Historie letztlich gar nichts zu tun, auch wenn die "Arbeit an diesem Mythos" historisch geschehen ist und noch immer historisch geschieht.
So ein Mythos hat aber eine starke Kraft, er war in vielen Religionen lebendig, und vielleicht kann die Menschheit ohne diesen Mythos nicht leben. Sie
muss ihn herausarbeiten, weil er vielleicht wirklich ein Urbild ist, in dem der Mensch verwurzelt ist.
Der von mir oft erwähnte jüdische und marxistische Philosoph Ernst Bloch sieht in solchen Mythen Ahnungen, die erst in der Zukunft realisiert werden könnten.
Dass solche herausgearbeiteten "Urbilder" auch eine Form der Realität haben, da sie ja vorkommen und wirksam sind, ist meine These.
Und das sage ich nicht als Gläubige, sondern sehe das als Teil einer Vorüberlegung, die die Religionswissenschaft, aber auch - und für mich vor allem - die Anthropologie untersuchen müsste.
Vielleicht gibt da ja auch schon Untersuchungen.
Also, um den Bogen zu Svens Zitat zu ziehen:
Was nach Jesu 'Tod von Menschen gedacht, gewollt, getan wurde, ist eine innere Realität, die bewusst und unbewusst von Menschen geschaffen, erbaut wurde. Oder, wie ich Ernst Bloch deuten würde:
Menschen "rubbeln" durch innere Kreativität etwas frei, was in ihnen als Sehnsucht enthalten ist und noch nur virtuell oder potentiell ist.
Ich glaube, dass so in etwa das der Grund ist, warum viele Christen sagen, dass sie letztlich den historischen Jesus gar nicht brauchen.