Gerechtigkeit ist (k)ein Ideal (?)

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Magdalena61
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#1 Gerechtigkeit ist (k)ein Ideal (?)

Beitrag von Magdalena61 » Mi 23. Jul 2014, 02:25

Pred. 7, 15-16 (LUT): Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit.
Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.
.

Hier besteht... Erklärungsbedarf.

"Sei nicht allzu gerecht"-- (?)

Die Ausrichtung auf die Ordnung/ die Maßstäbe Gottes erfordert Willenskraft, Durchhaltevermögen (Geduld) und manchmal auch ein dickes Fell. Soll man Nachfolge nun etwas legerer angehen; nicht so tierisch ernst nehmen, und auch mal Fünfe gerade sein lassen, oder was meint der Prediger?

Wie viel Streben nach Gerechtigkeit darf es denn sein? :shock:

Oder, anders herum gefragt: Wie viel Ungerechtigkeit kann ein Christ sich leisten?
1. Kor. 6,9; 2. Petr. 2,9
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2Lena
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#2 Re: Gerechtigkeit ist (k)ein Ideal (?)

Beitrag von 2Lena » Mi 23. Jul 2014, 11:16

Liebe Magdalena61,

bei den Sprüchen, bei Prediger und besonders auch bei Ben Sira fällt die Textgestaltung der Gegensätze auf. Er sagt auch dazu in seinem Vorwort, dass der hebräische Text ganz anders wirke. Damit man das auch versteht, setzt er ein krass ungerechtes Beispiel - dann eine Weisheitslehre meist als Nächstes, wenn es grad so passt.

Prediger 7 15 (7-16) Allerlei habe ich gesehen die Zeit über meiner Eitelkeit. Da ist ein Gerechter und gehet unter in seiner Gerechtigkeit, und ist ein Gottloser, der lange lebt in seiner Bosheit.

Die sagen [hebel] zu Eitelkeit, als Abel kennen wir das Wort הבל. Es bedeutet auch Idol oder Nichtigkeit. Nichtigkeiten leben lange, wenn sie nicht gerichtet werden. Da muss der Leser unterscheiden. "Er hätte alles gesehen..." weist er auf die *Auslegung* hin, wie man bedenken solle. Gerechtigkeit verginge, wo sie übel eingesetzt würde.

Wo erkennt man die Freundschaft und wo erkennt man die Bosheit, sagt der zweite Teil. רע lässt sich von zwei Wörtern ableiten. Wird es nur vom Übel genommen, und vergisst man das Andere, so bringt רעת keine Überlegungen mehr zu Weide und Freundschaft. Es ist dann nur übel und gottlos.
Da solle man sich mäßigen, meint der nächste Satz:

Prediger 7.16 (7-17) Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, daß du dich nicht verderbest!
Aber gleichzeitig spornt die Formulierung mächtig an, wenn aus der leichten Verneinung, dem אל [al] etwas höher gesprochen wird אל [el]. Das hieße neben Kraft auch Gott. Der solle riesig gerecht sein. Ganz normal gedacht ist das "el" ein Wort, das die Richtung bestimmt, heißt el, zu.

Das ist aber hier keine Theologiestunde, sondern nur ein kleiner Hinweis, wie verwirrend die Verse werden können, wenn nicht die *Auslegung* alle Seiten abklärt.

Viel Gerechtes solle man denken, weises sei besser - warum denn behindern? Nicht Wüstes nehmen. תשומם ist übersetzt als verderben, und [schamem] kann wüst werden, verlassen. Grad das Gegenteil sei zu nehmen, von wenig wenig weise!
Da gehört nicht die Verneinen [al] אל sondern [el] אל Kraft hin. Da nimmt man doch lieber "himmlisch" [schamim -i] und zeigt dort [schamim] auf Höheres, wie den Himmel, [schamajm]

Um Himmels willen, das ist zu kompliziert ?
Zerlegte Witze bringen halt leider nicht den gleichen Wert wie solche mit Bart.

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Magdalena61
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#3 Re: Gerechtigkeit ist (k)ein Ideal (?)

Beitrag von Magdalena61 » Mi 23. Jul 2014, 12:27

Um Himmels willen, das ist zu kompliziert ?
Ähm..... ja. :)

Also, das hier:
Pred. 7, 15: Da ist ein Gerechter und gehet unter in seiner Gerechtigkeit, und ist ein Gottloser, der lange lebt in seiner Bosheit.
-- ist leider Fakt. Das kann man immer wieder beobachten und bringt viele Gläubige in ernstliche Krisen, weil die Rechnung von "Saat und Ernte" nicht aufgeht.
Jetzt könnte es natürlich sein, dass der Gerechte etwas falsch macht und der Gottlose das Leben einfach schlauer anpackt.

Aber als Christ vorsätzlich "ein bißchen gottlos" (= ein bißchen ungerecht) sein, damit man mehr Erfolg und weniger Probleme hat, das kann's ja wohl nicht sein:
Pred. 7, 17(LUT): Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit.
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2Lena
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#4 Re: Gerechtigkeit ist (k)ein Ideal (?)

Beitrag von 2Lena » Mi 23. Jul 2014, 16:04

Magdalena61 hat geschrieben:man immer wieder beobachten und bringt viele Gläubige in ernstliche Krisen, weil die Rechnung von "Saat und Ernte" nicht aufgeht.
Ja, das ist ein "Trick", den die Bibelschreiber gern gebrauchen, um daran die Lehren zum Ändern zu knüpfen. Richtig ist, der Gerechte soll nicht untergehen. Die machen Mut. Es soll keine Dummheit sein (kein Seckel / Tor) - besser werden mit der Zeit. Weil Seckel "nicht gut ist" wird überlegt, was noch so klingen könnte und grad noch akustisch / rechtschreibmäßig tolerierbar ist - und dann dafür der Inhalt gut wird.

Wie Seckel (dumm) würde mit anderer Rechtschreibung "Verstand" kommen. Über Bosheit käme gleich gechriebenes! Kinder verlieren, über Erlösung sehen ( nicht Bosheit [rascha] sondern [ra scha] ) käme sehen was erlöst.

Denk dran, liebe Magdalena61, dass sich die Worte mit Doppelbedeutungen drehen lassen.

18 (7-19) Es ist gut, daß du dies fassest und jenes auch nicht aus deiner Hand lässest; denn wer Gott fürchtet, der entgehet dem allem.

Da ist auch nicht unbedingt mit Gott fürchten die einzige Lösung für den Text, denn bisweilen sind die Leute gefährlicher. So liest man dann Richtigerweise: Das Gute respektieren, es erkennen und wie es auch bei den anderen geht. Dein Bestes, ihr Bestes und ganz allgemein das Allerbeste - Gott.

Rembremerding
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#5 Re: Gerechtigkeit ist (k)ein Ideal (?)

Beitrag von Rembremerding » Mi 23. Jul 2014, 21:12

Hallo @magda

Nur ein paar Gedanken dazu:
Der Vers könnte meinen, man kann Gefahr laufen, in seinem Wandel zu sorgfältig zu sein. Natürlich können wir nie ein zu feines Gewissen haben. Es kann aber eine Gefahr bestehen, in die gerade Neubekehrte fallen können: Sie übertreiben in ihrer Haltung oder ihren Worten oder sie gehen über das Maß ihres Glaubens hinaus. Gleichzeitig kann es sein, dass sie andere Christen zu streng bewerten, eben weil sie sich selbst noch nicht kennen.
Paulus erklärt diese Falle in Rö 12,3;HSK
Denn kraft der mir verliehenen Gnade sage ich einem jeden unter euch: Sinnet nicht nach mehr, als zu sinnen recht ist; sinnet vielmehr darauf, besonnen zu sein nach dem Maß des Glaubens, wie Gott einem jeden zuteil werden ließ!
Und noch etwas anderes wird hervorgehoben:
Vers 15 verwirft den Tun-Ergehen Zusammenhang.
Nicht jedem wird es hier so ergehen, wie er sich verhält. So wird es gute Menschen nicht immer gut gehen und böse schlecht. Im Buch Job wird beispielsweise klar, dass etwa Schicksalsschläge nicht immer eine Strafe Gottes sind.
Vers 16 relativiert das Zutreffen einer solchen absoluten Schwarz-Weiß-Malerei. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang kennnt nur ein entweder-oder, gute Fromme, böse Frevler.
So soll man stets vorsichtig mit seinem Urteil sein, denn niemand ist selbst wirklich nur gerecht und fromm. Denn auch Hochmütigkeit kann sich im Leben irgendwann rächen. Jemand, der so von sich überzeugt ist, ohne Demut, läuft Gefahr sich irgendwann selbst zu zerstören.
Vers 17 bringt die beiden Extreme dann zusammen, beide können einen Menschen zu Fall bringen: Das wirklich böse und törichte Verhalten ebenso, wie absolute Selbstgerechtigkeit und Selbstüberschätzung.
Vers 18: Der wirklich Gottesfürchtige entgeht dem allen, denn er erhält Weisheit von Gott geschenkt, deshalb Vers 19.
Koh 7,15-19;HSK:
Alles überblickte ich in meinen nichtigen Tagen: Da ist ein Gerechter, der umkommt trotz seiner Gerechtigkeit, und ein Frevler, der lange lebt trotz seiner Bosheit. Sei nicht allzu gerecht und übertrieben weise! Warum sollst du Enttäuschung erfahren? Frevle nicht allzu sehr und sei kein Tor! Warum sollst du sterben vor deiner Zeit? Gut ist es, wenn du an dem einen festhältst und auch vom anderen deine Hand nicht abziehst. Denn wer Gott fürchtet, entgeht diesem allem. Die Weisheit gibt dem Weisen Macht, mehr als zehn Machthaber besitzen in der Stadt.

Servus :wave:
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Naqual
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#6 Re: Gerechtigkeit ist (k)ein Ideal (?)

Beitrag von Naqual » Mi 23. Jul 2014, 22:12

Magdalena61 hat geschrieben:
Pred. 7, 15-16 (LUT): Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit.
Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.
.
...
Wie viel Streben nach Gerechtigkeit darf es denn sein? :shock:
...

Es ist interessant, wie unterschiedlich jeder das lesen kann, wenn auch mit gewissen Überschneidungen. ;)

Ich sehe hier zwei Denk"systeme" die miteinander kollidieren.
Auf der einen Seite denken wir in klaren Gegensätzen. Etwas ist gerecht oder nicht gerecht, etwas ist gut in den Augen Gottes oder schlicht böse. Natürlich muss man in diesem Denken möglichst gerecht sein. Je mehr desto besser, weniger wäre schlecht. Ist doch logisch.

Der Autor scheint ganz anders zu denken. Aus meiner Sicht spendet er Trost und bringt eine "pragmatische Wende" hinein, die den einzelnen nicht überfordert und doch auch fordert. Keine klare Grenzziehung ab wann etwas ungerecht (falsch in den Augen Gottes) ist, aber eine Leitlinie zur Orientierung.
Einen Hinweis gibt Vers 12 vorher: ... aber die Weisheit erhält das Leben dem, der sie hat.
In unser Denksystem übertragen hieße dass, die Lebenserhaltung (im weiteren Sinne, nicht nur Leben oder Tod) ist ein übergeordneter Wert, eine Bemessungsgrundlage.
Ausgangspunkt ist der Umstand, dass man ein "gerechtes Leben führt", also ein Leben im Sinne oder zum Wohlgefallen Gottes. Das ist eine Vielzahl (wenn man im mosaischen Recht denkt wie auch der Autor) von Regelungen der Ethik und Moral. Die kann man auf die Spitze treiben. Sie werden aber bei totaler Befolgung (was eigentlich richtig ist) irgendwann sehr, sehr unweise. Unweise da sie ein Leben kaputtmachen oder stark lebensunwert machen können. Hieraus ergibt sich ein Trost und eine Grenze für an sich durchaus lobenswerte "ethische bzw. moralische Ambitionen".
Als Beispiel aus dem NT fällt mir die Stelle ein, wo es darum geht, dass man den Sabbath heiligt für den Herren und alle körperlich anstrengenden Tätigkeiten vermeidet (Arbeit). Das war (und ist) in der jüdischen Kultur ein extrem hochgehaltener Wert für Juden. Von Gott so geboten, es gehört mit zu einem "gerechten Leben".
Das kann man nun sehr konsequent betreiben um Gott gefällig zu sein. Aber die Weisheit setzt hier auch Grenzen: wenn der Sohn oder der Ochse in den Brunnen fällt, schauts nunmal anders aus. (Lk 14,5)

Der Vers sieht also die Problematik, dass man nicht einfach "gerecht leben" kann, sondern das unter dem Strich etwas Gutes nichts Böses bei rauskommen sollte. "An den Früchten werdet ihr sie erkennen" geht vielleicht aus anderer Perspektive in eine etwas ähnliche Richtung. Es ist aber auch eine Aufforderung, nicht nur in seinem Handeln die Moral hochzutreiben (was schon anspruchsvoll genug wäre), sondern dabei auch die Vernunft einzuschalten und dies praktisch umzusetzen (=Weisheit).
Natürlich wirds damit LETZTENDLICH nicht unmoralisch (vielleicht auf den ersten Blick). Aber mit Weisheit erreicht man letztlich Gutes, selbst wenn es nicht immer der Höhepunkt ethischer Regelungen ist im Einzelfall. Eigentlich provokativ...aber auch pragmatisch und vernünftig.
Und mal ein Blick durch die Geschichte: wie oft wurden Leute zugrunde gerichtet wegen eigener moralischer Vorstellungen oder die der anderen!

2Lena
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#7 Re: Gerechtigkeit ist (k)ein Ideal (?)

Beitrag von 2Lena » Mi 23. Jul 2014, 23:18

Naqual: dass man den Sabbath heiligt für den Herren und alle körperlich anstrengenden Tätigkeiten vermeidet (Arbeit). Das war (und ist) in der jüdischen Kultur ein extrem hochgehaltener Wert für Juden.
Die trieben das so weit, dass ein Rabbi irgendwann in den 90er Jahren das Nasebohren am Sabbath verbot! Ein Aufschrei ging durch die Presse, von Amerika bis zurück nach Europa und einigen Wirbel in Israel. Vermutlich lachten da manche.

Der Rabbi hatte nämlich Recht:
Af heißt Zorn und auch Nase. Sabbath ist Ruhe.
Bei Ruhe - nicht im Zorn bohren!

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