closs hat geschrieben:
Ist "Bedürfnis nach Gott" ein "Trieb"? -
Na, da machst du ein Fass auf.
Hier vielleicht ein Schwenk vom philosophischen hin zum jüdischen Verständnis zur Schöpfung.
Vielleicht hilft die 1. Schöpfungsgeschichte weiter, die Perek Aleph.
Dort lernt man, dass die Erschaffung der Natur ein Willensakt Gottes war. Der Mensch wird hebr. bara, also ex-nihilo erschaffen.
Warum wurde nun dort dem Menschen gesagt, dass die Natur ein willentlicher Schöpfungsakt Gottes war?
Die grundlegendste Beziehung des Menschen ist die zur Natur, d.h. zu seiner Umgebung und seiner Umwelt, siehe dazu wieder der Ansatz von @seeadler. Der Mensch braucht Gott nicht, um sich darüber klar zu werden, dass die Natur existiert, das entdeckt er tagtäglich. Er kann der Natur nicht ausweichen, er muss über sie nachdenken und mit ihr ringen.
Der Text der Tora lehrt nun, dass die Natur nicht die Manifestation vieler Götter ist, wie der frühe Mensch glaubte (heute ist es ja umgekehrt: die Natur bezieht sich auf keinen Gott), sondern des einen. Der Mensch könnte in der Natur seine Beziehung zum Tierreich wahrnehmen und leicht daraus schließen, dass er im Grunde ein Teil des Tierreichs ist. Mag er sich fortgeschrittener oder weiter entwickelt wähnen, als der "durchschnittliche Affe", aber biologisch unterscheidet er sich nicht von ihm. Aber die Verwendung des Verbs "bara" zur Beschreibung der Erschaffung des Menschen durch Gott sagt dem hebräischen Toraleser, dass der Mensch eine völlig neue Art in der Schöpfung ist. Er ist "b'zelem Elokim" erschaffen, im Bild Gottes, d.h. er besitzt, anders als jede andere Form der Natur, ein geistiges Potential.
Und hier nun der Ansatz zu deiner Frage: Dieses geistige Potential ist nicht tierisch, triebhaft, instinktiv, sondern ein Bedürfnis, das nicht der Leib, sondern der Geist zum Leben, Überleben braucht.
In der 2. Schöpfungsgeschichte, Perek Bet, geschieht beinahe jeder Akt um des Menschen willen. Im Perek Aleph ist die Aufgabe des Menschen die Schöpfung zu beherrschen, in Perek Bet gehorsam zu sein und für Gott zu arbeiten, indem er sich um den Garten kümmert. Hier tritt der Mensch in eine Beziehung zu Gott ein, er erhält Belohnung und Strafe, d.h. dass er nun verantwortlich für sein Tun ist.
Gottes Name in Perek Bet lautet Haschem Elokim. Hawaja kommt von der Wurzel "l'hijot", was sein, gegenwärtig sein bedeutet. Der Name unterstreicht also, dass der Garten Eden ein Ort ist, bei dem der Mensch Gottes Gegenwart erkennen und folglich eine Beziehung zu ihm haben kann. Gehorcht der Mensch Gott, so kann er im Garten bleiben und sein enges Verhältnis zu Gott genießen, gehorcht er jedoch nicht, muss er sterben, denn sich von Gott entfernen, ist gleichbedeutend mit dem Tod.
Im Garten Eden befindet sich der Mensch in einem Konflikt zwischen seinem "taawa" (Begehren) und seiner Pflicht zum Gehorsam gegenüber Gott. Du nennst dies Raum der Dialektik, wobei das Judentum hier den Gehorsam hervorhebt. Die "nachasch" (Schlange) kennt diese menschliche Schwäche und fordert den Menschen dazu heraus, bereits die Existenz dieser göttlichen Beziehung in Frage zu stellen (Gen 3:1-4). Folgt der Mensch seinen Begierden und gehorcht Gott nicht, wird er aus dem Garten Eden verbannt.
Es wird also in den 2 Geschichten klar herausgestellt: Es gibt das geistige Bedürfnis des Menschen hin zu Gott und das leibliche Begehren weg vom Gehorsam.
Es ist für die Tora noch unerheblich, ob der Mensch wieder in diese ideale Umwelt zurückkehren kann oder nicht, das wird erst später zu einem wichtigen biblischen Thema werden, bei der Rückkehr aus dem Exil, bei Propheten wie Ezechiel oder Amos. Wir heutigen, christlichen Bibelleser sehen dies natütlich anders.
Was wir bis jetzt diskutierten, war das hellenistisch geprägte philosophische Weltbild und man kann es nun mit dem jüdisch-hebräischen Weltbild der Paradiesgeschichten vergleichen. Du siehst die Anknüpfungspunkte, aber auch die Unterschiede - hier Gehorsam und Wille, dort Erkenntnis und Trieb.
Servus