Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Philosophisches zum Nachdenken
JackSparrow
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#111 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von JackSparrow » Do 6. Jul 2017, 22:23

Novalis hat geschrieben:Wie bereits gesagt: Wunder haben keinerlei Relevanz. Relevant ist das Dharma, die Lehre, die zur Befreiung vom Leiden führt ;)
Alkohol und Opiate führen zur Befreiung vom Leiden. Zumindest für den Zeitraum ihrer Wirkungsdauer. Andere wirksame Arten von Dharma sind mir leider nicht bekannt.

Auch bin ich mir nicht ganz sicher, ob Leiden nicht eine physiologisch nützliche Funktion erfüllt und ob Menschen, die keinerlei Leid empfinden (können), nicht vielleicht eine signifikant niedrigere Lebenserwartung haben als Normalsterbliche.

Novas
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#112 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von Novas » Do 6. Jul 2017, 22:36

JackSparrow hat geschrieben:
Novalis hat geschrieben:Wie bereits gesagt: Wunder haben keinerlei Relevanz. Relevant ist das Dharma, die Lehre, die zur Befreiung vom Leiden führt ;)
Alkohol und Opiate führen zur Befreiung vom Leiden. Zumindest für den Zeitraum ihrer Wirkungsdauer

Eben deshalb ist es eine Illusion und keine echte Befreiung :) es ist selbst nur eine Form von Leiden (duḥkha) außerdem kann nur ein klarer Geist Glück in ganzer Fülle erleben. Nur ein klarer Geist kann wirklich denken, meditieren und Selbsterforschung betreiben. Ein benebelter Geist ist diffus, unruhig und nicht zur Sammlung und Reflexion fähig. Das vermindert die Lebensqualität.

Auch bin ich mir nicht ganz sicher, ob Leiden nicht eine physiologisch nützliche Funktion erfüllt und Menschen, die keinerlei Leid empfinden (können), nicht vielleicht eine signifikant niedrigere Lebenserwartung haben als Normalsterbliche.

Damit hast Du vollkommen Recht. Leid und Angst erfüllen eine evolutionäre Funktion. Wer beim Anfassen der Herdplatte keinen Schmerz empfindet, könnte in ziemliche Schwierigkeiten geraten. Wenn jemand einen Löwen vor sich sieht, dann ist Angst ebenfalls angemessen. Es ist ein Zeichen der Intelligenz des Körpers, dass er uns dieses Signal des Schmerzes oder der Angst mitteilt. Hier würde ich begrifflich zwischen Schmerz und Leid unterscheiden. Wenn von der Befreiung vom Leiden gesprochen wird, dann ist psychologisches Leid gemeint. Beispielsweise ist die Angst vor dem Tod eine Form des psychologischen Leidens, von der ein Mensch vollkommen frei werden kann. Da ist diese Erkenntnis von Epikur sicher sehr hilfreich:

"Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr." - Brief an Menoikeus, 125 (Original griech.: "τὸ φρικωδέστατον οὖν τῶν κακῶν ὁ θάνατος οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς͵ ἐπειδήπερ ὅταν μὲν ἡμεῖς ὦμεν͵ ὁ θάνατος οὐ πάρεστιν͵ ὅταν δὲ ὁ θάνατος παρῇ͵ τόθ΄ ἡμεῖς οὐκ ἐσμέν.")

Wenn man diesen Gedanken meditiert, so hat es eine erleuchtende Qualität, denn es ist wahr und wirkt befreiend.

closs
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#113 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von closs » Do 6. Jul 2017, 23:00

Thaddäus hat geschrieben:Ich weiß nicht, was Gott den lieben langen Tag tut, aber tut er Wunder in dieser Welt, dann geht das mit einer Aufhebung der Naturgesetze einher.
Das kommt übrigens darauf an, wie man "Wunder" definiert - es wird recht heterogen definiert. - Davon abgesehen ist es möglich, dass eine höhere Ebene eine niedrigere Ebene aufhebt.

Thaddäus hat geschrieben:, er würde daraus schließen, dass es sich dann offenbar nicht um ein Natur-Gesetz handeln kann. Naturgesetze lassen keine Ausnahmen zu, sonst sind sie keine Naturgesetze.
Moment: Da ein Naturwissenschaftler rein naturalistisch denkt (das ist sein Job), würde er alles naturwissenschaftlich deuten wollen.

Würde also etwas feststellen, was nicht mit bestehenden Naturgesetzen vereinbar ist, würde er davon ausgehen, dass er etwas entdeckt, was naturgesetzlich definiert werden muss - und wenn es ein neues Naturgesetz wäre - Nobelpreis wäre sicher. - Mal ganz nebenbei: In der QM diskutiert man, ob der Erste Hauptsatz der Thermodynamik in bestimmten Fällen durchbrochen werden kann (wurde hier imj Forum diskutiert) - man wird Gründe dafür haben. - So würde man es bei jedem "Wunder" genauso tun.

Thaddäus hat geschrieben: Und dann würde er sich auf die Suche nach einer natürlichen Erklärung dieses erstaunlich merkwürdigen Phänomens machen.
Genau so.

Nebenbei: Bei all den ungeklärten Fragen würde mich eine besonders interessieren.
Glaubst Du jetzt, dass der Mensch mit seiner Vernunft erkennen kann, ob Gott vernünftig handelt, oder nicht?

JackSparrow
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#114 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von JackSparrow » Do 6. Jul 2017, 23:17

Novalis hat geschrieben:Ich habe schon Dinge erlebt, die mir deutlich gezeigt haben, dass das materialistische Weltbild eben genau das ist: nur ein Bild und nicht die absolute Wahrheit. Es gibt Phänomene, die weit darüber hinaus gehen (Transzendenz)
Dafür gibt es genau drei Erklärungen:

(1) Du bist der einzige Mensch auf Erden, der solche Dinge erlebt. In diesem Fall sind deine Erlebnisse für den Rest der Welt natürlich komplett irrelevant.

(2) Deine Mitmenschen erleben die gleichen Dinge wie du, sind aber zu blöd um zu bemerken, dass es sich dabei um ein transzendentes Wunder handelt. In diesem Fall solltest du eventuell deine Definition von "transzendentes Wunder" nochmal überdenken.

(3) Du irrst dich.

Wenn von der Befreiung vom Leiden gesprochen wird, dann ist psychologisches Leid gemeint.
Da ich nicht an die Existenz einer "Psyche" glaube, kann ich leider keinen Unterschied erkennen zwischen psychologischem Leid und nichtpsychologischem Leid.

Beispielsweise ist die Angst vor dem Tod eine Form des psychologischen Leidens, von der ein Mensch vollkommen frei werden kann.
Kleinkindern ist sicherlich kaum bewusst, dass sie irgendwann sterben werden. Eine genetische Ursache kann für Angst vor dem Tod also prinzipiell ausgeschlossen werden.

Andererseits könnten genetische Ursachen aber dazu führen, dass jemand für Ängste allgemein empfänglicher ist oder diese stärker empfindet als der Durchschnittsbürger. Diese Menschen würden dann eine Zielgruppe bilden für solche Religionen, die ein Leben nach dem Tod versprechen, und diese Religionen würden dann das Leid auslösen. Bei anhaltendem Leidensdruck hat sich gegen Angststörungen eine pharmakologische Intervention mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern als wirksam erwiesen.

Ich persönlich teile die Meinung des Philosophen Epikur und verspüre daher keinerlei Angst vor dem Tod. Leider kann ich nicht sagen, welches von beidem die Ursache und welches die Wirkung ist:

Accustom yourself to believe that death is nothing to us, for good and evil imply awareness, and death is the privation of all awareness; therefore a right understanding that death is nothing to us makes the mortality of life enjoyable, not by adding to life an unlimited time, but by taking away the yearning after immortality. (...) Death, therefore, the most awful of evils, is nothing to us, seeing that, when we are, death is not come, and, when death is come, we are not. It is nothing, then, either to the living or to the dead, for with the living it is not and the dead exist no longer.
https://en.wikisource.org/wiki/Letter_to_Menoeceus

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#115 Re: Kant und "göttliche Vernunft"

Beitrag von fin » Fr 7. Jul 2017, 10:17

-- Clossy Stürmer auf der Ersatzbank --

closs hat geschrieben: Glaubst Du jetzt, dass der Mensch mit seiner Vernunft erkennen kann, ob Gott vernünftig handelt, oder nicht?

Das scheint mir eine rhetorische Frage :D die das eigentliche Thema verfehlt, denn es käme auf den Kontext an. Generell haben Thaddäus (und fin) das hinreichend beantwortet, auch in Bezug auf Kant.

Thaddäus hat geschrieben: Gott kann nach Kant niemals per Gottesbeweis bewiesen werden, und wir können auch niemals bestimmen, was Gott eigentlich ist und welche göttlichen Eigenschaften er hat. Er ist ausschließlich eine regulative Idee der Vernunft.

Clossy, die Annahme, eine übergeordnete göttliche Größe sei für unsere Welt verantwortlich, muß tatsächlich nicht unvernünftig sein. Setzt man diese Größe voraus - wie du - dann lassen sich zugehörige Fragen stellen und Schlüsse ziehen. Der generelle Verweis, der göttliche Horizont übersteige den beschränkten Horizont des Menschen ist eine triviale Erkenntnis. Natürlich vermag diese Größe sehr viel mehr als der Mensch und bewegt sich in Sphären (Wirklichkeiten), die der Mensch nicht einsehen kann. Daß der Schöpfer den Menschen weit überragt, ist also ein simpler Schluß, zb. was Wissen, Vermögen und Macht betrifft.

All das macht Gott aber nicht vernünftiger!

Im Gegensatz zu Gott ist der Mensch ein bedingtes Wesen. Die Bedingungen hat Gott vorgegeben. Selbige bilden die Grundlagen menschlicher Zusammenhänge, auf die er fußt und baut. Die irdische Welt (und ihre Ordnungen) sind für den Menschen einsehbar und damit auch Aspekte Gottes. Vernunft meint vor allem eine entsprechende Haltung, die sich nach jeweiligen Ordnungen (Bedingungen) ausrichtet. Der Mensch ist auf diese Haltung angewiesen, sofern es gemeinschaftliche Vereinbarungen und Exsistenzfragen betriffft, denn er ist ein abhängiges Wesen, Gott - per Defintion - scheinbar nicht.

Der Mensch muß also hier und da vernünftig sein, Gott nicht! Das macht ...

fin hat geschrieben:Gott aber nicht vernünftiger!

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Thaddäus
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#116 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von Thaddäus » Fr 7. Jul 2017, 13:10

closs hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Nicht auf das "Urwesen" selbst wird der Begriff der Vernunft übertragen, nur "auf das Verhältnis derselben zur Sinnenwelt", nur nach der Analogie (s. d.); wir denken uns die Welt so, "als ob sie von einer höchsten Vernunft... abstamme"
Das heißt dann doch:
Es gibt ein "Urwesen" (irgendwas muss "Archetypus" ja sein, wenn es gerade NICHT anthropozentrisch sein soll).
Kant würde sich nicht dazu hinreißen lassen, zu behaupten, es gäbe Gott. Denn das wäre ein existenzbejahendes Urteil, welches die menschliche Vernunft prinzipiell nicht treffen kann. Der Titel seines Hauptwerks Kritik der reinen Vernunft soll genau das zum Ausdruck bringen: er kritisiert den Gebrauch "reiner Vernunft", die sich zu bloßen metaphysischen Spekulationen hinreißen lässt, ohne dass ein Rückgriff auf empirische Erkenntnisse überhaupt möglich ist, weil sie es nur noch mit reinen "Gedanken-Dingen" zu tun hat, die Kant "Noumena" nennt. Der Begriff "Gott" (intellectus archetypus) ist für ihn tatsächlich nur die (transzendente bzw. regulative) Idee menschlicher Vernunft, die sich genötigt sieht anzunehmen, dass es eine einheitsstiftende "höhere" Vernunft als die menschliche geben muss.
Kant drückt diesen Sachverhalt so aus ...
Der unseren schwachen Begriffen angemessene Ausdruck wird sein: daß wir uns die Welt so denken, als ob sie von einer höchsten Vernunft ihrem Dasein und inneren Bestimmung nach abstamme, ... (Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, § 59)
Kant setzt das als ob in diesem Satz selbst fett, um anzuzeigen, dass die menschliche Vernunft immer nur so tun kann, "als ob" es einen intellectus archetypus, sprich: einen Gott, gäbe. Kant zeigt die Grenzen menschlicher Vernunft in seiner Erkenntnisteorie auf, ist aber der Ansicht, dass Metaphysik innerhalb gewisser strenger Grenzen dennoch möglich ist.

closs hat geschrieben: Intellectus archetypus" ist nicht in seinem Urwesen gemeint, sondern in dem, was davon bei uns ankommt.
Einverstanden?
Nein, der Weg ist genau umgekehrt. Der menschlichen Vernunft drängen sich unabweisbar Fragen auf (nach Gott, nach der Freiheit, nach der Unsterblichkeit, nach den Grenzen unseres Erkenntnisvermögens, nach dem intellectus archetypus usw.), die sie nicht fundiert beantworten kann. Sie bildet Begriffe, die keine Fundierung mehr in der Erfahrungswelt haben, und über die wir deshalb nicht fundiert urteilen können. Die Fragen selbst aber verweisen auf etwas, nämlich auf etwas "Unerkennbares". Dieses Unerkennbare können wir, wie die Dinge an sich, nicht näher bestimmen. Versucht man es doch, spekuliert man nur wild herum ohne eine feste und sichere Grundlage.
Das heißt: die menschliche Vernunft verweist auf etwas Unerkennbares (Gott/intellectus archetypus) als transzendente bzw. regulative Idee. Das geht notwendig stets nur vom Menschen aus. Was göttliche Vernunft ist und ob sie etwas mit unserer Vernunft zu tun hat, können wir nicht bestimmen.

Alles, was von einem etwaigen Gott an Offenbarung ankommen kann, muss so geartet sein, das menschliche Erfahrung und menschliche Vernunft es auch fassen kann, - und sei es fassen als etwas Wundersames und Nicht-Erklärbares. Alles, was ein etwaiger Gott dem Menschen offenbart, muss stets in seiner Lebenswelt offenbart werden. Wundersames und Nicht-Erklärbares können aber nicht mit Sicherheit als allein von Gott stammen Könnendes identifiziert werden, weil es immer auch andere Möglichkeiten der innerweltlichen Erklärung geben könnte. Und wir wüssten auch nicht, ob es von einem guten Gott oder von einem bösen Dämon stammt usw.
Kant zumindest ist der Ansicht, dass die Richtung der Bezugnahme immer nur vom menschen (seiner Vernunft) zu Gott gehen kann, nicht umgekehrt.

closs hat geschrieben: Falls ja: Kann man so sehen (...) - DAS aber gibt es in der Theologie ebenfalls - unter dem Namen "Offenbarung": "Etwas ersichtlich werden lassen" - hier: "kompatibel mit unserem Vernunft-Vermögen machen".

Die zusammengefasste Antwort findet sich wiederum in Eislers Kantlexikon zum Stichwort Offenbarung:
Offenbarung.
Jeder Offenbarung muß ein reiner "Vernunftsglaube" zugrunde gelegt werden. Die Offenbarung muß so gedeutet werden, "daß sie mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt". "Denn das Theoretische des Kirchenglaubens kann uns moralisch nicht interessieren, wenn es nicht zur Erfüllung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote ... hinwirkt", Rel. 3. St. 1. Abt. VI (IV 125 ff.). Alle Offenbarung muß, vom Standpunkt der Vernunftreligion, moralisch ausgelegt werden (vgl. Bibel). Daß eine Offenbarung göttlich sei, kann nie durch Kennzeichen, welche die Erfahrung (Geschichte) an die Hand gibt, eingesehen werden. Ihr Charakter ist immer "die Übereinstimmung mit dem, was die Vernunft für Gott anständig erklärt". Der Ausleger offenbarter Lehren ist "der Gott in uns", "weil wir niemand verstehen als den, der durch unseren eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts als durch Begriffe unserer Vernunft, sofern sie rein-moralisch und hiermit untrüglich sind, erkannt werden kann", Str. d. Fak. 1. Abs. Anh. einer Erläuterung III (V 4, 89 ff.), Vgl. Theologie, Religion, Bibel, Christentum.

closs hat geschrieben: 1) Sind diese uns offenbaren Erscheinungen das Maß ("anthropozentrisch")?
Ja, denn wir können aufgrund unsere Erkenntnisapparates niemals das "Ding an sich" erkennen, sondern stets nur die Erscheinungen der Dinge, so wie sie unser Erkenntnisvermögen konstituiert.

closs hat geschrieben: 2) Ist das, aus dem diese Erscheinungen "sind", das Maß ("theozentrisch" - "ontologisch" - oder finde Du ein Wort, Du weißt jetzt, was damit gemeint ist).
Das kann nach Kant nicht das Maß sein (ein theozentrisches Maß; "ontologisch" verwendest du an dieser Stelle falsch), weil wir prinzipiell nichts erkennen können, das jenseits unseres Erfahrungs- und Erkenntnisvermögens liegt. Positiv formuliert können wir grundsätzlich alles erkennen, was im Feld möglicher Erfahrungen liegt. So können wir ultraviolettes Licht, Röntgenstrahlung, Radiowellen, Ultraschall, Gravitationswellen, subatomare Vorgange etc. zwar nicht unmittelbar beobachten und dadurch Erfahrungen mit diesen machen, aber wir können sie uns durch technische Hilfsmittel erfahrbar machen. Sie liegen also im "Feld möglicher Erfahrungen" von uns. Die Schwierigkeit ist alledings zu entdecken, dass es diese nicht unmittelbar über die Sinne erfahrbaren Phänomene überhaupt gibt.

Eine "theozentrische" Sicht kann für den Menschen und seine Vernunft also deshalb kein Maßstab sein, weil wir schlechterdings nicht wissen können, was eine theozentrische Sicht bedeuten könnte. Wir können von Gott weder sicher urteilend aussagen, dass er existiert, noch, welche Eigenschaften er hat, wenn das nicht nur ins Superlativ getriebene menschliche Eigenschaften sein sollen. Wir können zwar mit metaphysischen Begriffen jonglieren, aber "Begriffe ohne (sinnliche) Anschauungen sind leer", wie Kant es formuliert (und "sinnliche Anschauungen ohne Begriffe sind blind").

Sicher urteilend können wir lediglich feststellen, dass die menschliche Vernunft eine Idee davon bildet, dass es eine höhere und andersartige Vernunft geben müsste, die die Einheit unserer Erfahrungswelt garantiert. Kant drückt diesen schwer zu verstehenden Sachverhalt so aus:

Wenn wir mit dem Verbot, alle transszendente Urteile der reinen Vernunft zu vermeiden, das damit dem Anschein nach streitende Gebot, bis zu Begriffen, die außerhalb dem Felde des immanenten (empirischen) Gebrauchs liegen, hinauszugehen, verknüpfen, so werden wir inne, daß beide zusammenbestehen können, aber nur gerade auf der Grenze alles erlaubten Vernunftgebrauchs; denn diese gehöret ebensowohl zum Felde der Erfahrung, als dem der Gedankenwesen, und wir werden dadurch zugleich belehrt, wie jene so merkwürdige Ideen lediglich zur Grenzbestimmung der menschlichen Vernunft dienen, nämlich, einerseits Erfahrungserkenntnis nicht unbegrenzt auszudehnen, so daß gar nichts mehr als bloß Welt von uns zu erkennen übrig bliebe, und andererseits dennoch nicht über die Grenze der Erfahrung hinaus zugehen, und von Dingen außerhalb derselben, als Dingen an sich selbst, urteilen zu wollen.

Wir halten uns aber auf dieser Grenze, wenn wir unser Urteil bloß auf das Verhältnis einschränken, welches die Welt zu einem Wesen haben mag, dessen Begriff selbst außer aller Erkenntnis liegt, deren wir innerhalb der Welt fähig sind. Denn alsdenn eignen wir dem höchsten Wesen keine von den Eigenschaften an sich selbst zu, durch die wir uns Gegenstände der Erfahrung denken, und vermeiden dadurch den dogmatischen Anthropomorphismus, wir legen sie aber dennoch dem Verhältnisse desselben zur Welt bei, und erlauben uns einen symbolischen Anthropomorphism, der in der Tat nur die Sprache und nicht das Objekt selbst angeht. (Kant, Prolegomena, §57, Kursivsetzung von Grenze durch Kant selbst)
Der (Begriff) "Gott" liegt auf der Grenze unseres Vernunftgebrauchs. In dem er auf der Grenze liegt, können wir eine Ahnung von Gott (intellectus archetypus) haben, mehr aber nicht, weil wir die Grenze unseres Vernunftvermögens eben nicht überschreiten können.
Zuletzt geändert von Thaddäus am Fr 7. Jul 2017, 17:03, insgesamt 4-mal geändert.

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#117 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von closs » Fr 7. Jul 2017, 14:04

fin hat geschrieben:Das scheint mir eine rhetorische Frage :D die das eigentliche Thema verfehlt, denn es käme auf den Kontext an.
Es ist weder eine rhetorische Frage, da offen. - Es verfehlt das Thema nicht, weil es genau darum geht. - Wenn es auf den Kontext ankäme, wäre Vernunft eine kontext-abhängige Größe - meinst Du es so?

fin hat geschrieben:Generell haben Thaddäus (und fin) das hinreichend beantwortet
Sie haben es insofern hinreichend beantwortet, dass sie "Vernunft" im anthropolozentrischen Kontext zu definieren scheinen - genau das würde ich aber gerne genauer wissen.

fin hat geschrieben:All das macht Gott aber nicht vernünftiger!
Diese Aussage bedingt aber eine anthropozentrische Definition von "Vernunft". - Das kann machen - das hieße aber auch: "Vernunft" und "Aufklärung" sind in wesentlichen Bereichen nicht koinzident. - Würdest Du das in Kauf nehmen?

fin hat geschrieben: Vernunft meint vor allem eine entsprechende Haltung, die sich nach jeweiligen Ordnungen (Bedingungen) ausrichtet.
Das ist eine gute Aussage - zwar entspricht sie nicht meiner Meinung, aber Deine Aussage macht Sinn. - Interpretiere ich Dich richtig: "Vernunft ist die höchste menschliche Instanz im Umgang mit Ordnungen/Bedingungen der naturalistischen Welt" ---???---

fin hat geschrieben:Der Mensch muß also hier und da vernünftig sein, Gott nicht!
Ich verstehe Dich - aber das hieße doch auch, dass Vernunft nicht die höchste Instanz zur Ermittlung von Wahrheit sein muss. - Oder um Kant am Ende zu zitieren: "Ich mußte, also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen" (Reine Vernunft). - Irgendwo anders schreibt er sinngemäß (ich glaube 1797/Briefe): "Ich musste die Vernunft an ihre Grenzen bringen, um Platz für den Glauben zu haben".

Mit anderen Worten: Was ist nach dieser und Deiner Definition "Vernunft" wert, wenn es um die Auslegung geistiger Schriften geht? - Oder anders: Wie kann "Vernunft" als Maßstab zur Auslegung geistiger Schriften bezeichnet werden, wenn sie so definiert ist, dass sie nicht dazu qualifiziert ist?

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#118 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von Pluto » Fr 7. Jul 2017, 16:51

closs hat geschrieben:der um Kant am Ende zu zitieren: "Ich mußte, also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen" (Reine Vernunft). - Irgendwo anders schreibt er sinngemäß (ich glaube 1797/Briefe): "Ich musste die Vernunft an ihre Grenzen bringen, um Platz für den Glauben zu haben".
Ja. Aber damit meinte Kant nicht den Glauben an den Gott Abrahams und Noahs.

closs hat geschrieben:Mit anderen Worten: Was ist nach dieser und Deiner Definition "Vernunft" wert, wenn es um die Auslegung geistiger Schriften geht? - Oder anders: Wie kann "Vernunft" als Maßstab zur Auslegung geistiger Schriften bezeichnet werden, wenn sie so definiert ist, dass sie nicht dazu qualifiziert ist?
Vernunft ist für mich ein total überbewerteter Begriff, der gerade in geistlichen Fragen nichts zu suchen hat. Man glaubt etwas vernünftig erklären zu wollen. Doch gibt es eine Garantie, dass am Ende, gerade bei geistigen Fragen etwas Vernünftiges raus kommt?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#119 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von closs » Fr 7. Jul 2017, 17:45

Thaddäus hat geschrieben:Kant würde sich nicht dazu hinreißen lassen, zu behaupten, es gäbe Gott.
Methodisch würde er dies natürlich nicht - er muss seinen Vernunftbegriff (wenn Du ihn richtig interpretierst) beiseite legen, um zu überlegen, was er glaubt.

Thaddäus hat geschrieben:Der Begriff "Gott" (intellectus archetypus) ist für ihn tatsächlich nur die (transzendente bzw. regulative) Idee menschlicher Vernunft, die sich genötigt sieht anzunehmen, dass es eine einheitsstiftende "höhere" Vernunft als die menschliche geben muss.
Hmm - warum kommt dann überhaupt die Idee, dass es so etwas wie höhere Vernunft geben müsste - auch wenn es nur eine transzendente bzw. regulative Idee menschlicher Vernunft ist? - Müsste die menschlicher Vernunft autonom von solchen Projektionen sein, wenn sie sich selbst genügen würde?

Mir kommt das eher so vor, dass man mit Hängen und Würgen eine Autonomie des Menschen postulieren will und den Rest irgendwie als "Nur-Idee" ins Nirwana entsorgt.

Thaddäus hat geschrieben:er kritisiert den Gebrauch "reiner Vernunft", die sich zu bloßen metaphysischen Spekulationen hinreißen lässt, ohne dass ein Rückgriff auf empirische Erkenntnisse überhaupt möglich ist
Hieße das nicht, dass geistige Fragen (= transzendente Fragen) kein Fall für "Vernunft" ist? - Kann es sein, dass man Kant ausschließlich als im Sinne des Kritischen Rationalismus agierenden Philosophen versteht? - Oder wenn Dir "Kritischer Rationalismus" zu eng ist: Dass man ihn als im Grunde naturalistischen Philosophen versteht - also eine materialistische oder physikalistische Position, dernach auch der Geist oder das Bewusstsein Teil der physischen Natur sei oder, alternativ, gar nicht oder höchstens als Illusion existiere. ---???---

Thaddäus hat geschrieben:Kant setzt das als ob in diesem Satz selbst fett, um anzuzeigen, dass die menschliche Vernunft immer nur so tun kann, "als ob" es einen intellectus archetypus, sprich: einen Gott, gäbe.
Das wiederum würde Dir (hoffentlich) jeder Ontologie ebenso sagen - oder ein radikal-skeptizistischer Philosoph. - Deswegen spricht man ja von "Glaube" und nicht "Wissen".

Thaddäus hat geschrieben:Das heißt: die menschliche Vernunft verweist auf etwas Unerkennbares (Gott/intellectus archetypus) als transzendente bzw. regulative Idee. Das geht notwendig stets nur vom Menschen aus. Was göttliche Vernunft ist und ob sie etwas mit unserer Vernunft zu tun hat, können wir nicht bestimmen.
Du hast mit allen Deinen Aussagen recht - das wir nie ein Streitpunkt - und ist übrigens auch biblisch.

Ein Missverständnis gibt es anscheinend beim Wort "anthropozentrisch". - Mit "anthropozentrisch" versteht man offenbar ganz Unterschiedliches:
1) Der Mensch kann nur über sich selbst erkennen - schließlich hat er ja nichts anderes als sein Ego. - Das sollte jeder wissen.
2) Der Mensch erkennt 1) UND ergänzt: "Das, was ich erkenne, ist NICHT der Maßstab. Menschlicher Maßstab ist nur Organisations-Behelf". - Das würde ich eine "de-anthropozentrierende Erkenntnis" nennen.

Deshalb geht meine Frage nicht Richtung 1) (ist eh klar), sondern Richtung 2): "Ist die menschliche Vernunft in der Lage, göttliche Vernunft als vernüftig oder unvernünftig zu erkennen. - Oder anders gefragt: Meinen wir mit "Vernunft" a) menschliche Behelfs-Vernunft oder b) eine "höhere" Vernunft, ob erwir sie erkennen oder nicht?"

Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, welchen Stellenwert "Vernunft" eigentlich in geistigen Fragen hat - bis hin zur Frage: "Wie kann eine menschliche Behelfs-Vernunft 'aufgeklärt" sein?". - Oder wäre gar das Wort "Aufklärung" eine Behelfs-Lösung?

Und wenn wir damit durch sind, ist uns vielleicht klar, warum ein kritisch-rationaler Naturalist unter "Aufklärung" etwas ziemlich anderes versteht als ein Theologe ("Lux").

Thaddäus hat geschrieben:Alles, was von einem etwaigen Gott an Offenbarung ankommen kann, muss so geartet sein, das menschliche Erfahrung und menschliche Vernunft es auch fassen kann
Das ist ja der Gag an Offenbarungen. - Aber heißt "fassen" immer "behelfsmäßig VERNÜNFTIG" fassen? - Könnte es nicht auch ein Fassen sein, dass ÜBER intellektueller Vernunft steht?

Thaddäus hat geschrieben:Jeder Offenbarung muß ein reiner "Vernunftsglaube" zugrunde gelegt werden. Die Offenbarung muß so gedeutet werden, "daß sie mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt".
O.o. - Das ist allermindestens missverständlich. - Wie würde man damit "Hiob" interpretieren, dem die Größe dessen, was er NICHT erkennt, offenbart wird?

Thaddäus hat geschrieben:Der Ausleger offenbarter Lehren ist "der Gott in uns", "weil wir niemand verstehen als den, der durch unseren eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet
Man kann auch übers Herz reden. - Hier ist Eisler/Kant nah an Goethes Prometheus:
"Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöh'n!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen steh'n,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest"

Thaddäus hat geschrieben: "ontologisch" verwendest du an dieser Stelle falsch
Echte Verständnisfrage: Wie nennst Du es, wenn man das Sein zum Maßstab macht, selbst wenn man es nicht kennt?

Thaddäus hat geschrieben:Eine "theozentrische" Sicht kann für den Menschen und seine Vernunft also deshalb kein Maßstab sein, weil wir schlechterdings nicht wissen können, was eine theozentrische Sicht bedeuten könnte.
Moment: Die Vernunft besteht hier darin, dass man mit ihr erkennt, dass es jenseits menschlichen Vermögens ein Maßstäbliches gibt ("das, was ist"), dem wir uns nur mit unserer behelfsmäßigen Vernunft nur annähern können.

Thaddäus hat geschrieben:Sicher urteilend können wir lediglich feststellen, dass die menschliche Vernunft eine Idee davon bildet, dass es eine höhere und andersartige Vernunft geben müsste, die die Einheit unserer Erfahrungswelt garantiert.
Genau das. - Und was wäre diese "Idee"? Projektion oder Entität?

Thaddäus hat geschrieben: In dem er auf der Grenze liegt, können wir eine Ahnung von Gott (intellectus archetypus) haben, mehr aber nicht, weil wir die Grenze unseres Vernunftvermögens eben nicht überschreiten können.
Genau so ist es - das ist theologisch gedacht.

Aber auch hier: Wäre dies nicht ein Grund, die Grenzen unserer Wahrnehmungs-Provisiorien zu erkennen, anstatt sie zum Maßstab für geistige Fragen zu machen? - Pointiert: Man hat den Eindruck, als könne Theologie heute nur noch als "aufgekärt" gelten, wenn sie unsere "vernünftigen" Wahrnehmungs-Behelfe zum Maßstab für Gott macht. - Macht das Sinn?

closs
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#120 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von closs » Fr 7. Jul 2017, 17:51

Pluto hat geschrieben: Aber damit meinte Kant nicht den Glauben an den Gott Abrahams und Noahs.
Das ist irrelevant - Gottesbilder/Religionen sind immer nur Offenbarungs-Chiffren für das EINE, was Kant meint.

Pluto hat geschrieben:Vernunft ist für mich ein total überbewerteter Begriff, der gerade in geistlichen Fragen nichts zu suchen hat. Man glaubt etwas vernünftig erklären zu wollen.
Da könnten wir uns einig werden,
1) wenn "Vernunft" nicht so oft mit "Aufklärung" gleichgesetzt werden würde - als könne es nicht aufgeklärter sein, Vernunft als total überbewerteten Begriff zu erkennen.
2) wenn "Vernunft" nicht als Maßstab des Urteils auch in theologischen Fragen gelten würde - die HKM ist dafür ein gutes Beispiel.

So wie ich Thaddäus verstehe, ist "Vernunft" ein rein pragmatisches Phänomen im Umgang mit unserer begrenzten sinnlichen Wahrnehmung - wenn man es dabei beließe und dies auch so in der Gesellschaft ankommt, wäre es akzeptabel.

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