Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Philosophisches zum Nachdenken
closs
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#121 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von closs » Fr 7. Jul 2017, 18:56

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Thaddäus
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#122 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von Thaddäus » Fr 7. Jul 2017, 19:26

closs hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Kant würde sich nicht dazu hinreißen lassen, zu behaupten, es gäbe Gott.
Methodisch würde er dies natürlich nicht - er muss seinen Vernunftbegriff (wenn Du ihn richtig interpretierst) beiseite legen, um zu überlegen, was er glaubt.
An dieser Antwort zeigt sich das ganze Dilemma deiner immunisierten Position.

Kant bestimmt mit den Mitteln der Vernunft die Grenzen der Vernunft. Vernunft ist dabei die Fähigkeit des Menschen (wahre) Urteile zu fällen. Das Vermögen Urteile zu fällen, ist keiner bestimmten Methode verpflichtet. Es ist ein grundsätzliches Vermögen des menschlichen Erkenntnisapparates, der ihn überhaupt dazu befähigt, wahre Urteile zu fällen, egal welchen Inhaltes und egal mit welcher spezielle Methode.
Kant behauptet nicht "methodisch", man könne Gott weder beweisen, noch seine göttlichen Eigenschaften bestimmen, sondern er kommt zu diesem Schluss, weil jeder Versuch, solches zu tun, das Vernunftvermögen des Menschen grundsätzlich übersteigen muss. Deshalb ist es nicht möglich.

Du versuchst nun wieder, auch Kant irgendeine spezielle "Methode" zu unterstellen und die Ergebnisse seiner Erkenntnistheorie dadurch relativieren zu wollen, dass du behauptest: wenn man eine andere Methode wähle, könne man sehr wohl zu völlig anderen Ergebnissen mit derselben Berechtigung gelangen, nämlich zu deiner katholischen Position. Das ist falsch.
Dein selbstimmunisierender Methoden- und Perspektivendogmatismus ist selbst unangreifbar, und du vermagst mit ihm, stets zu dem von dir gewünschten Ergebnis zu kommen: nämlich deiner katholisch-dogmatischen Position.
Und genau darum KANN dein selbstgestrickter und immunisierter Perspektivendogmatismus nicht korrekt und wahr sein. Er ist allein schon deshalb abzulehnen, weil er ein Dogmatismus ist und immunisiert gegen jede Form der Kritik.

closs hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Der Begriff "Gott" (intellectus archetypus) ist für ihn tatsächlich nur die (transzendente bzw. regulative) Idee menschlicher Vernunft, die sich genötigt sieht anzunehmen, dass es eine einheitsstiftende "höhere" Vernunft als die menschliche geben muss.
Hmm - warum kommt dann überhaupt die Idee, dass es so etwas wie höhere Vernunft geben müsste ...
Weil die Vernunft sich bedrängt sieht von Fragen, die über sie selbst hinausweisen, und die insofern unabweisbar sind, weil die Berechtigung dieser Fragen der Vernunft über sie selbst hinaus, vernunftig nachvollziehbar ist. Jeder, der über Vernunft verfügt, erkennt, dass diese Fragen selbst vernünftig gestellt werden können, ohne dass man sie fundiert beantworten könnte.

closs hat geschrieben: Mir kommt das eher so vor, dass man mit Hängen und Würgen eine Autonomie des Menschen postulieren will und den Rest irgendwie als "Nur-Idee" ins Nirwana entsorgt.
Nein, Kant nimmt die Fragen nach Gott, Unsterblichkeit und Freiheit ja gerade sehr ernst! Er weist sie nicht einfach zurück mit dem Hinweis, sie seien unbeantwortbar und darum unsinnig zu stellen. Er sagt stattdessen, sie seien gerade unter dem Aspekt der Vernunft nicht abweisbar, weil sie sich hartnäckig immer wieder jedem vernünftigem Wesen stellen. Kant versucht nur einen rational nachvollziehbaren Weg zu finden, die Fragen selbst als berechtigte Fragen akzeptieren zu können, auch wenn die Vernunft keine Antwort auf sie zu finden vermag. Von der Autonomie des Menschen spricht Kant in keinem der von mir verwendeten Zitate.

closs hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:er kritisiert den Gebrauch "reiner Vernunft", die sich zu bloßen metaphysischen Spekulationen hinreißen lässt, ohne dass ein Rückgriff auf empirische Erkenntnisse überhaupt möglich ist
Hieße das nicht, dass geistige Fragen (= transzendente Fragen) kein Fall für "Vernunft" ist?
Die Frage nach einem intellectus archetypus stellt sich ja gerade der menschlichen Vernunft selbst. Immer, wenn wir versuchen, wahre Urteile zu fällen, geht das nur, weil wir über Vernunft verfügen. Vernunft ist die Befähigung, wahre Urteile zu fällen (neben der Möglichkeit, falsche Urteile zu fällen und Irrtümer zu begehen; sei es auch Mangel an Informationen oder weil wir falsche Schlüsse ziehen).

closs hat geschrieben: Kann es sein, dass man Kant ausschließlich als im Sinne des Kritischen Rationalismus agierenden Philosophen versteht?
Nein, du kannst nicht jede philosophische Haltung, die dir nicht passt, auf kritischen Rationalismus zurückführen. Kant hat mit dem kritischen Rationalismus nichts zu tun. Seine erkenntnistheoretische Position ist eine transzendentalphilosophische.

closs hat geschrieben: Oder wenn Dir "Kritischer Rationalismus" zu eng ist: Dass man ihn als im Grunde naturalistischen Philosophen versteht - also eine materialistische oder physikalistische Position, dernach auch der Geist oder das Bewusstsein Teil der physischen Natur sei oder, alternativ, gar nicht oder höchstens als Illusion existiere. ---???---
Nein, auch das ist nicht der Fall. Kant erfindet philosophiehistorisch im Gegenteil die Haltung eines transzendentalen Idealismus. Er ist gerade kein Materialist oder Naturalist und schon gar kein Physikalist. Kants Ideen werden später von den Idealisten Hegel (= objektiver Idealismus), Fichte (= subjektiver Idealismus) und Schelling weitergeführt. Die vertreten alle idealitische Standpunkte, die das Gegenteil von dem sind, was du Kant zu sein unterstellst. Ich kann dir hier nicht jedesmal in zwei Sätzen komplexe philosophiehistorische Positionen darlegen, um deine Irrtümer bezüglich dieser Positionen richtig zu stellen.

closs hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Kant setzt das als ob in diesem Satz selbst fett, um anzuzeigen, dass die menschliche Vernunft immer nur so tun kann, "als ob" es einen intellectus archetypus, sprich: einen Gott, gäbe.
Das wiederum würde Dir (hoffentlich) jeder Ontologie ebenso sagen - oder ein radikal-skeptizistischer Philosoph. - Deswegen spricht man ja von "Glaube" und nicht "Wissen".
Dieses kantische "als ob" ist nicht bloß ein Glauben. Er sagt, dass wir so tun müssen, als ob es einen intellectus archetypus gäbe, weil ohne diese transzendente Idee die Einheit unserer Erkenntnis unserer Erfahrungswelt nicht verständlich gemacht werden kann. Es gibt also einen guten Grund, diese transzendenten bzw. regulativen Ideen als Leitideen anzunehmen. Verzichtet man auf die Annahme dieser regulativen Ideen, hat man, so Kant, die allergrößten Probleme zu erklären, warum wir die Welt, wie wir sie erfahren, als gesetzmäßig geordnete und einheitliche Welt synthetisieren und erfahren können.

closs hat geschrieben: Ein Missverständnis gibt es anscheinend beim Wort "anthropozentrisch". - Mit "anthropozentrisch" versteht man offenbar ganz Unterschiedliches:
1) Der Mensch kann nur über sich selbst erkennen - schließlich hat er ja nichts anderes als sein Ego.
Nein, "Ego" ist ganz falsch.
Der Mensch hat nichts anderes zur Verfügung, als seinen so und so gearteten Erkenntnisapparat (mit seinen fünf Sinnen, seinen 12 Verstandeskategorien und seinen Vernunfturteilen). Die bestimmen, was er erkennen kann und worüber er (wahre) Urteile fällen kann. Auch Kant sieht die Möglichkeit, dass es Wesen geben mag, die über einen anderen Erkenntnisapparat verfügen könnten. Die könnten auch anderes erkennen. Wir könnten sie aber niemals verstehen.

closs hat geschrieben: 2) Der Mensch erkennt 1) UND ergänzt: "Das, was ich erkenne, ist NICHT der Maßstab. Menschlicher Maßstab ist nur Organisations-Behelf". - Das würde ich eine "de-anthropozentrierende Erkenntnis" nennen.
Wie gerade geschrieben, sieht Kant durchaus die Möglichkeit, dass es Wesen geben könnte, die über einen anderen Erkenntnisapparat verfügen. Aber was diese Wesen vielleicht erkennen können, könnten sie uns - mit eben unserem speziellen Erkenntnisapparat - niemals vermitteln, weil wir eben nur innerhalb UNSERES Erkenntnisvermögens erkennen können.
Egal, welche Vermutungen du hier über Gott anstellst. Es sind stets deine Vermutungen als Mensch mit eben menschlichem Erkenntnisvermögen. Insofern ist alles, worüber Menschen sich austauschen können, notwendig immer anthropozentrisch.

closs hat geschrieben: Deshalb geht meine Frage nicht Richtung 1) (ist eh klar), sondern Richtung 2): "Ist die menschliche Vernunft in der Lage, göttliche Vernunft als vernüftig oder unvernünftig zu erkennen. - Oder anders gefragt: Meinen wir mit "Vernunft" a) menschliche Behelfs-Vernunft oder b) eine "höhere" Vernunft, ob erwir sie erkennen oder nicht?"
Das musst du dir jetzt eigentlich selbst beantworten können, wenn du nicht begriffsstutzig bist.

Nur zur Klarstellung: ich bin keine Kantianerin. Ich habe mich von Markus Gabriels ontologischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen überzeugen lassen und vertrete deshalb augenblicklich einen "Neuen Realismus" (und einen neuen "Existenzialismus"), den Gabriel und ein paar andere Philosophen entwickelt haben. Ich bin überzeugt, dass wir die Dinge genau so erkennen können, wie sie auch sind. Einen radikalen Konstruktivismus (auch Neuro-Konstruktivimus) lehne ich ab. Ebenso Behaviorismus, Materialismus, Physikalismus, Funktionalismus und die dumme Form des Naturalismus. Die kluge ist die, die davon ausgeht, dass es keine supra-naturalistischen Erklärungen gibt, sondern ausschließlich "natürliche".

Du hast in deiner Antwort Kantzitate von mir als Zitat von Thaddäus gekennzeichnet. Das ist schlecht, weil ich Kant zwar zitiere, aber nicht immer mit seinen Ansichten übereinstimme. Ich habe Kant hier nur erklärt und ausgelegt.
Zuletzt geändert von Thaddäus am Fr 7. Jul 2017, 19:44, insgesamt 5-mal geändert.

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#123 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von Thaddäus » Fr 7. Jul 2017, 19:27

closs hat geschrieben:@Alle
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#124 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von closs » Fr 7. Jul 2017, 21:43

Thaddäus hat geschrieben:Vernunft ist dabei die Fähigkeit des Menschen (wahre) Urteile zu fällen.
Das ist sehr klassisch gedacht - die Romantik hat dies kurz nach Kants Tod über den Haufen geworfen. - Mich stört das "wahre" in Deinem Satz, weil es so klingt, als wäre Vernunft, wenn man sie richtig einsetzt, immer der beste Weg zu einem wahren Ergebnis.

Thaddäus hat geschrieben:Du versuchst nun wieder, auch Kant irgendeine spezielle "Methode" zu unterstellen und die Ergebnisse seiner Erkenntnistheorie dadurch relativieren zu wollen, dass du behauptest: wenn man eine andere Methode wähle, könne man sehr wohl zu völlig anderen Ergebnissen mit derselben Berechtigung gelangen, nämlich zu deiner katholischen Position.
Da denkst Du zu eng - ich denke ontologisch (Du kannst dieses Wort durch ein besseres ersetzen - Du weißt ja, was ich damit meine).

Kant wählt einen speziellen Weg, der nicht alternativlos ist (ich habe es "methodisch" genannt, Du kannst es auch "perpsektivisch" nennen) - es gibt Menschen, die rein emotional zu Urteilen kommen, die gegenüber vernüftigen Urteilen "wahrer" sein können - die Alleinstellung von "Vernunft" gefällt mir nicht.

Thaddäus hat geschrieben:Und genau darum KANN dein selbstgestrickter und immunisierter Perspektivendogmatismus nicht korrekt und wahr sein.
Ehrlich - da bist Du auf der falschen Spur. - Mein Ansatz ist der Respekt vor dem, was wir NICHT wissen, weshalb ich menschliche Rezepte ("anthropozentrische Vernunft"/"Methoden") zwar als unverzichtbar, aber trotzdem immer nur als Behelfe verstehe - OHNE Anspruch auf mehr als die Hoffnung, auf dem richtigen Weg zu sein.

Thaddäus hat geschrieben:Jeder, der über Vernunft verfügt, erkennt, dass diese Fragen selbst vernünftig gestellt werden können, ohne dass man sie fundiert beantworten könnte.
Richtig - aber warum ist der Mensch überhaupt befähigt, über seine Vernunft hinaus (ins Transzendente) hinauszudenken? - Für den Selbsterhaltungstrieb ist dies doch eher kontraproduktiv. - Wäre nicht die ideale Vernunft eine, die die naturalistische Welt organisiert und erst gar nicht über sich hinausdenkt? - Wenn die Vernunft doch nur zum Ergebnis kommen kann, dass es keine transzendelle Entität gibt - oder verstehe ich Dich hier falsch?

Thaddäus hat geschrieben: Er sagt stattdessen, sie seien gerade unter dem Aspekt der Vernunft nicht abweisbar, weil sie sich hartnäckig immer wieder jedem vernünftigem Wesen stellen. Kant versucht nur einen rational nachvollziehbaren Weg zu finden, die Fragen selbst als berechtigte Fragen akzeptieren zu können, auch wenn die Vernunft keine Antwort auf sie zu finden vermag.
Das führt uns wieder zusammen. - Aber Kant glaubt nach Deinen Worten zu meinen, dass die menschliche Vernunft entscheiden kann, ob Gott vernünftig handelt - richtig? - Hießé dies nicht, dass Kant das Buch Hiob nicht verstehen könnte?

Thaddäus hat geschrieben:Vernunft ist die Befähigung, wahre Urteile zu fällen (neben der Möglichkeit, falsche Urteile zu fällen und Irrtümer zu begehen)
Ok - das entkräftet einen Teil meiner Kritik.

Thaddäus hat geschrieben:Seine erkenntnistheoretische Position ist eine transzendentalphilosophische.
Wobei "transzendental" ja nicht "transzendent" ist (wie Du gewiss weißt). - Und da haben wir schon wieder das Problem:
"Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich ... mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“
Dies wird heute (und wir reden ja eigentlich über den HEUTIGEN Vernunftbegriff, wie wichtig dazu auch Kant sein mag) interpretiert als: "Vernunft ist, was sich mit Falsifizierbarem beschäftigt" - deshalb mein ständiger Hinweis auf den Kritischen Rationalismus. - Dies führt soweit, dass man nur diejenigen Bibel-Exegesen/-Hermeneutiken für "redlich" hält, die diesem Diktum folgen - was zu Ende dazu führt, dass Theologie nur dann "redlich" ist, wenn es Gott als Entität nicht gibt. :lol:

Thaddäus hat geschrieben: Die vertreten alle idealitische Standpunkte, die das Gegenteil von dem sind, was du Kant zu sein unterstellst.
Kant wird aber gerne so interpretiert - und ist auch zum Teil selber schuld daran. - Denn wenn er "Vernunft" als höchste Urteils-Instanz versteht und seine Transzendental-Philosophie an UNSERER Erkenntnisart orientiert, ist dies eine Einladung zum Materialismus - selbst wenn er es nicht so meint. - Mir scheint manchmal, als sei Idealismus als INNER-naturalistische Größe gemeint.

Thaddäus hat geschrieben:Dieses kantische "als ob" ist nicht bloß ein Glauben. Er sagt, dass wir so tun müssen, als ob es einen intellectus archetypus gäbe, weil ohne diese transzendente Idee die Einheit unserer Erkenntnis unserer Erfahrungswelt nicht verständlich gemacht werden kann.
Inhaltlich sind wir uns vollkommen einig - allein Deine Aussage dies sei "nicht bloß ein Glaube", irritiert mich. - Denn "Glaube" macht keinen Sinn, wenn er sich nicht als alternativlos herausstellen könnte. Insofern würde ich formulieren: "Kants Glaube an die Notwendigkeit des 'als ob'" - und ich würde mich diesem Glauben anschließen.

Thaddäus hat geschrieben:Der Mensch hat nichts anderes zur Verfügung, als seinen so und so gearteten Erkenntnisapparat (mit seinen fünf Sinnen, seinen 12 Verstandeskategorien und seinen Vernunfturteilen).
Mit "Ego" habe ich das "Cogito" gemeint - ich kann nicht erkennen, dass dies mit Deiner Aufzählung kollidiert.

Thaddäus hat geschrieben:Auch Kant sieht die Möglichkeit, dass es Wesen geben mag, die über einen anderen Erkenntnisapparat verfügen könnten. Die könnten auch anderes erkennen. Wir könnten sie aber niemals verstehen.
Testfrage: Könnte Kant aus Deiner Sicht persönlich glauben, dass Jesus leiblich auferstanden ist, ohne gegen seine Lehre zu verstoßen?

Thaddäus hat geschrieben:Das musst du dir jetzt eigentlich selbst beantworten können, wenn du nicht begriffsstutzig bist.
Du musst den guten Eindruck, den Du machst, nicht unnötig strapazieren.

Nein - ich bin nicht begriffsstutzig und sehe trotzdem immer noch Lücken, die ganz und gar nicht geschlossen sind - nicht unbedingt, was Kant angeht, sondern was unser Vernunftbegriff angeht. - Vielleicht wäre als Ersatz für lange Ausführungen eine weiterführende Frage dazu: "Kann man das Buch Hiob mit kantschen und vor allem heutigem Vernunft-Begriff verstehen?"

Thaddäus hat geschrieben:Es sind stets deine Vermutungen als Mensch mit eben menschlichem Erkenntnisvermögen. Insofern ist alles, worüber Menschen sich austauschen können, notwendig immer anthropozentrisch.
Das hatten wir weiter oben: Ja - logisch - das wieß jeder. - Hier geht es aber darum, ob der Mensch sich mit seiner Vernunft de-anthropozentrieren kann ("Ich weiß jenseits pragmatischer Fragestellungen, dass ich nichts weiß").

Thaddäus hat geschrieben:Ich bin überzeugt, dass wir die Dinge genau so erkennen können, wie sie auch sind.
Zumindest ist das eine sehr pragmatische Philosophie, die allem Anschein nicht beansprucht, Fragen zu klären wie "Woher kommt der Mensch?/"Was ist der Mensch?"/Wohin geht der Mensch?". - Was dies mit "ontologisch" zu tun haben soll, entzieht sich meinem Verständnis - ich vermute einen semantischen Shift.

Thaddäus hat geschrieben:Du hast in deiner Antwort Kantzitate von mir als Zitat von Thaddäus gekennzeichnet. Das ist schlecht
Sorry - das war pure Faulheit.

Thaddäus hat geschrieben:Viel Spaß im Urlaub!
Danke.

Novas
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#125 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von Novas » Fr 7. Jul 2017, 23:40

Thaddäus hat geschrieben:
Hieße das nicht, dass geistige Fragen (= transzendente Fragen) kein Fall für "Vernunft" ist?
Die Frage nach einem intellectus archetypus stellt sich ja gerade der menschlichen Vernunft selbst.

:thumbup:

Goethe sagte, dass es die Vernunft ist, die uns den Göttern näher bringt. Sie macht die Göttlichkeit der Götter aus. Nur der vernunftbegabte und einfühlsame Mensch alleine, kann Licht und Finsternis unterscheiden. In seinem Gedicht "Das Göttliche" thematisierte er das:

In Strophe 9 wird der direkte Vergleich gezogen zwischen Menschen und Göttern: Dass nämlich das, was Götter göttlich macht, Menschlichkeit ist.

In Bezug auf den Titel des Gedichtes "Das Göttliche" ist also die Göttlichkeit die Humanität. So muss man sich also Menschlichkeit aneignen, um seinem Streben, göttergleich zu werden, nachzukommen. Götter vollbringen nämlich genau dasselbe wie wir Menschen, nur in größerem Ausmaß (V. 52-54).
http://www.goethe-gymnasium-berlin.cids ... goettliche

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#126 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von Pluto » Sa 8. Jul 2017, 10:12

Novalis hat geschrieben:In seinem Gedicht "Das Göttliche" thematisierte er [Goethe] das:

In Strophe 9 wird der direkte Vergleich gezogen zwischen Menschen und Göttern: Dass nämlich das, was Götter göttlich macht, Menschlichkeit ist.
Also ist das Göttliche menschgemacht?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

Agent Scullie
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#127 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von Agent Scullie » Mo 10. Jul 2017, 15:48

Ich habe jetzt nicht den ganze Thread gelesen. Aber...

Novalis hat geschrieben:Wir leben in einer sehr materialistischen Zeit, in der manche Atheisten die Auffassung vertreten, dass Religion schädlich ist oder sie sehen in ihr gar einen geistigen Virus und Gotteswahn, von der die Welt regelrecht gereinigt werden müsse, damit die Menschen wahrhaft mündige und freie Wesen sein können (wie kommt es eigentlich, dass sie Religion unablässig kritisieren, während sie die Probleme und Ungerechtigkeiten kaum oder gar nicht erwähnen, die durch Materialismus, Militarismus und Kapitalismus verursacht werden
Mein guter Novalis, da schießt du mal wieder einen ganz großen Bock. Du fasst hier mal eben unter dem Schlagwort "Materialismus" zwei ganz unterschiedliche Dinge zusammen, nämlich einmal den ontologischen Materialismus, also die Lehre, dass es nur materielle Dinge gibt, aber keine geistigen, und andererseits den praktischen Materialismus, das Streben nach materiellem Wohlstand. Außer dem ähnlichen Namen haben die beiden nicht sonderlich viel gemein. Man kann z.B. den ontlogischen Materialismus vertreten ohne dabei praktischen Materialismus zu praktizieren, und ebensogut umgekehrt praktischen Materialismus praktizieren, ohne einen ontologischen Materialismus zu vertreten. So haben z.B. das ganze Mittelalter hindurch Kirchenmänner, von Bischöfen bis hin zu Päpsten, einen Lebensstil gepflegt, der eindeutig als praktischer Materialismus einzustufen ist, ohne dass sie dabei einen ontologischen Materialismus vertreten hätten.

Außerdem ist praktischer Materialismus auch keineswegs notwendigerweise die Wurzel für Ungerechtigkeiten. Praktischer Materialismus kann nämlich einerseits bedeuten, dass jeder nur für sich selbst nach materiellem Wohlstand strebt (und sich dabei nicht scheut, andere auszubeuten), aber andererseits auch, dass man materiellen Wohlstand für alle zu erreichen versucht.

Und hier:
Novalis hat geschrieben:Darin erkenne ich die Notwendigkeit der Einheit von Wissenschaft und Religion. Einerseits muss die Religion mit Wissenschaft und Vernunft im Einklang gebracht werden, andererseits muss aber auch die Wissenschaft mit dem durch die Religionen vermittelten Weltethos, den höheren spirituellen und moralischen Werten in Einklang gebracht werden, sodass sie dem Wohl der Menschen dient. Denn ...

... Bildung ohne Werte, so nützlich sie ist, scheint den Menschen mehr zu einem schlauen Teufel zu machen.
~ C.S. Lewis
schießt du gleich den nächsten Bock, indem du versuchst weiszumachen, Werte hätte in besonderem Maße mit Religion zu tun. Haben sie aber nicht. Christliche Theologen versuchen zwar immer wieder gerne, das so hinzustellen, dass Religion die zwingende Voraussetzung für die Entstehung von Werten wäre, aber ebenso groß wie die fanatische Insbrunst ist, mit der sie diese Ansicht als die einzig richtige darzustellen versuchen, so sehr liegen sie damit komplett daneben. A priori haben Ethik und Religion erstmal gar nichts miteinander zu tun. Weder setzt Ethik irgendeiner Weise Religion voraus, noch ist Religion in erster Linie eine ethische Lehre. Religion ist erst einmal ein metaphysisches Konzept, kein ethisches. Man kann zwar Religion zur Grundlage ethischer Lehren machen, doch weder ist das der Hauptinhalt der Religion noch bedürfen ethische Lehren einer religiösen Grundlage.

Und was gar nicht genug betont werden kann: wenn man versucht, Ethik als Ausrede dafür zu verkaufen, dass Menschen religiös sein und an Gott glauben sollen, dann erklärt man damit zugleich religiöse Fragen wie z.B. die, ob Gott existiert, für bedeutungslos. Man tritt dann ja dafür ein, dass selbst wenn Gott nicht existieren sollte, die Menschen trotzdem an ihn glauben sollen, um eine Motivation für ethisches Handeln zu haben. Man ist dann also dafür, dass die Menschen nicht etwa um Gottes willen an Gott glauben sollen, sondern nur um des ethischen Handelns willen. Wer selbst ernsthaft an Gott glaubt, kann einen solchen Ausverkauf Gottes eigentlich nicht gutheißen.
"Atheisten langweilen mich, weil sie immer nur von Gott reden"
(aus "Ansichten eines Clowns" von Heinrich Böll)

ThomasM
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#128 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von ThomasM » Mo 10. Jul 2017, 17:03

Agent Scullie hat geschrieben: Weder setzt Ethik irgendeiner Weise Religion voraus, noch ist Religion in erster Linie eine ethische Lehre. Religion ist erst einmal ein metaphysisches Konzept, kein ethisches. Man kann zwar Religion zur Grundlage ethischer Lehren machen, doch weder ist das der Hauptinhalt der Religion noch bedürfen ethische Lehren einer religiösen Grundlage.
Ich denke, die Argumentation ist wie folgt.

Liegt einem ethischen Konzept ein metaphysisches der Existenz Gottes zugrunde, dann ist dies absolut definiert, indem man sagt, dass Gott ja das Konzept gegeben hat (Religion ist traditionell mit Geboten und Verboten verknüpft).
Beispiel wären hier die 10 Gebote.
Problem ist hier natürlich, dass eine solche Fundierung im allgemeinen nur grob ist und die Deutungshoheit der Details den Sprechern Gottes, den Priestern, überlassen ist.

Liegt dem ethischen Konzept kein metaphysisches zugrunde, dann ist es wandelbar bis beliebig.
Man kann sich zwar auf allgemeingültige Gebote einigen (z.B. Menschenrechte), aber es zeigt sich, dass ohne Rückzug auf eine absolute Autorität ein beliebiges Umdefinieren des ethischen Konzepts eine beliebte Spielerei ist. Wie man z.B. an China sieht, die Worte wie Menschenrecht nach eigenem Gusto umdefiniert.
Wenn also das ethische Konzept besagt, dass es richtig ist, alle Menschen umzubringen, die nicht blond und blauäugig sind, dann ist das in diesem Sinn ein valides und korrektes ethisches Konzept.
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

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#129 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von Thaddäus » Mo 10. Jul 2017, 21:38

ThomasM hat geschrieben: Liegt einem ethischen Konzept ein metaphysisches der Existenz Gottes zugrunde, dann ist dies absolut definiert, indem man sagt, dass Gott ja das Konzept gegeben hat (Religion ist traditionell mit Geboten und Verboten verknüpft).
[...]
Das ist ein weit verbreiteter Fehlschluss.
Macht man ein ethisches Konzept bzw. eine gelebte Moral von der Existenz eines absoluten Wesens abhängig, an welches man glaubt, dann muss man sich offensichtlich zunächst für den Glauben an dieses absolute Wesen entscheiden, damit die Moral, die es garantieren soll, für einen selbst und andere, die an dieses Wesen glauben, absoluten Gültigkeitsanspruch besitzen kann. Werden je nach Glauben diverse absolute Wesen von den Gläubigen als einzig wahre Götter proklamiert, die jeweils für mehr oder weniger voneinander abweichende Moralen einstehen, wie das z.B. für die Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam der Fall ist, dann ist objektiv nicht entscheidbar, welche Ethik und Moral nun die richtige sein sollte. Die Bezugnahme auf ein göttliches Wesen als Garanten für die Gültigkeit einer bestimmten Moral hilft also in keiner Weise weiter bei der Frage, welche Ethik und Moral objektiv für alle Menschen gültig und verpflichtend sein soll.

Genau aus diesem Grunde hat Immanuel Kant versucht, die allgemeine und strenge Gültigkeit des kategorischen Imperativs als allgemeinem Sittengesetz allein aus den objektiven Richtlinien der Vernunft abzuleiten. Kants kategorischer Imperativ erhebt den Anspruch, für alle vernünftigen Wesen zwingend und verbindlich zu sein, insofern diese Wesen bereit sind, den vernünftigen Prinzipien zu folgen. Tun sie dies nicht, liegt es jedenfalls nicht an der mangelnden Vernünftigkeit des Sittengesetzes und seiner rationalen Ableitung, sondern an der Einsichtsunfähigkeit oder -weigerung, der eigenen Vernünftigkeit Folge zu leisten.

ThomasM hat geschrieben: Liegt dem ethischen Konzept kein metaphysisches zugrunde, dann ist es wandelbar bis beliebig.
Man kann sich zwar auf allgemeingültige Gebote einigen (z.B. Menschenrechte), aber es zeigt sich, dass ohne Rückzug auf eine absolute Autorität ein beliebiges Umdefinieren des ethischen Konzepts eine beliebte Spielerei ist. Wie man z.B. an China sieht, die Worte wie Menschenrecht nach eigenem Gusto umdefiniert.
Wenn also das ethische Konzept besagt, dass es richtig ist, alle Menschen umzubringen, die nicht blond und blauäugig sind, dann ist das in diesem Sinn ein valides und korrektes ethisches Konzept.
Auch hier liegt ein Fehlschluss vor.
Auf die allgemeine Gültigkeit z.B. der Menschenrechte können sich alle Menschen per Übereinkunft freiwillig und wiederum vernünftig einigen, auch ohne Bezugnahme auf Kant. Die Menschen einigen sich dann aufgrund ihrer moralischen Souveränität und auf der Basis rationaler Überlegungen auf diese allgemeinen Rechte. Die Entscheidung basiert nicht auf Willkür, sondern auf der Akzeptanz guter Gründe, die für diese Rechte sprechen, insofern alle Menschen sie (für sich selbst und andere) wollen sollten. Sie kommen jedem einzelnen Menschen letztlich zugute. Natürlich können einzelne Menschen oder Gesellschaften sich weigern, die mit guten rationalen (und/oder historischen) Gründen beschlossenen Rechte zu achten. Dann besteht die Verpflichtung, die Abweichler von diesen guten Gründen zu überzeugen. Für ein ethisches Konzept, welches besagt, dass es richtig ist, alle Menschen umzubringen, die nicht blond und blauäugig sind, können kaum ernsthaft rationale und überzeugende Gründe vorgebracht werden. Stattdessen scheint es sich um eine willkürliche Entscheidung zu handeln, Menschen aufgrund ihrer Haarfarbe, Augenfarbe, Hautfarbe, Geschlechts, politischen oder eligiösen Überzeugung usw. bestimmte allgemeine Rechte abzusprechen.

JackSparrow
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#130 Re: Wie würde eine Welt ohne Religion und Spiritualität aussehen?

Beitrag von JackSparrow » Mo 10. Jul 2017, 22:06

ThomasM hat geschrieben:Liegt einem ethischen Konzept ein metaphysisches der Existenz Gottes zugrunde, dann ist dies absolut definiert, indem man sagt, dass Gott ja das Konzept gegeben hat (Religion ist traditionell mit Geboten und Verboten verknüpft).
Man muss noch sagen, welchen Gott man meint. Und falls es sich um den Bibelgott handelt, müsste man angeben, auf welches der zahlreichen biblischen ethischen Konzepte man sich bezieht. Ein metaphysisches ethisches Konzept ist also nicht konstant, sondern eine Funktion mit mindestens zwei Variablen.

Liegt dem ethischen Konzept kein metaphysisches zugrunde, dann ist es wandelbar bis beliebig.
Wen störts.

Wenn also das ethische Konzept besagt, dass es richtig ist, alle Menschen umzubringen, die nicht blond und blauäugig sind, dann ist das in diesem Sinn ein valides und korrektes ethisches Konzept.
Das wäre auch gemäß Kants kategorischem Imperativ valide und korrekt (wenn man blond und blauäugig ist). Oder wenn es der Bibelgott jemandem befehlen würde.

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