Rudolf Otto: Das Heilige und Numinose

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Demian
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#1 Rudolf Otto: Das Heilige und Numinose

Beitrag von Demian » So 9. Mär 2014, 16:33

Für alle Leute die sich für Religionwissenschaft interessieren ...

Diverse Reisen nach Asien, Afrika und den Nahen Osten trugen neben seiner liberalen akademischen Prägung dazu bei, dass sich Ottos Interessen auf nicht-christliche Religionen und deren Verhältnis zum Christentum konzentrierten. In seinen Arbeiten geschieht dies zumeist vor dem Hintergrund einer christlichen Apologetik. In seiner Monographie „Das Heilige“ (1917), das für alle Arbeiten Ottos „schlechthin grundlegende Werk“ (Mensching 1971: 53), beschreibt er das Christentum als vollkommene Lehre dessen, was unter Religion zu verstehen sei, während er andere Religionen als Vorstufen der christlichen Heilslehre begreift. Dies heiße jedoch nicht, dass Religion an sich einer Entwicklung unterworfen sei. Vielmehr wird Religion bei Otto zu einem Phänomen sui generis, das alle geschichtlichen Veränderungen bereits in sich trägt.

Obwohl Religionen also keine nicht-religiöse, geschichtliche Quelle besäßen, hätten sie einen geistigen Grund. Dieser sei a priori in jeder geschichtlichen Religion verankert. Ihn zu identifizieren war das übergeordnete Ziel von Ottos Forschung. In seinem gleichnamigen Hauptwerk bezeichnet er ihn als Das Heilige. Neben einer rationalen Strukturkomponente enthalte Das Heilige einen irrationalen Grund, von Otto als Das Numinose bezeichnet. Die Begegnung mit dem Numinosen beruhe zunächst auf einer Erfahrung unendlicher Entfernung. Es sei nicht verstehbar im rationalen Sinne und rufe gegensätzliche Reaktionen beim Menschen hervor. Für diesen sei es sowohl mytserium tremendum – eine übermächtige und furchterregende Erfahrung, bei der er seine eigene Nichtigkeit empfinde – als auch mysterium fascinans – eine wunderbare und wundervolle Erfahrung, bei der er Gnade, Liebe und Vertrauen spüre. Zur Voraussetzung, die Irrationalität des Numinosen zu erfassen, mach Otto eigene religiöse Musikalität. In seinen einleitenden Worten zu „Das Heilige“ fordert Otto den Leser / die Leserin auf, sich auf einen Moment einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer dies nicht könne „ist gebeten, nicht weiter zu lesen“ (Otto 1917: 8).

Aufgrund solch radikaler Positionen, die mit heute allgemein vorherrschenden Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit nur schwer vereinbar sind, und aufgrund ihrer eurozentristischen, christlich-abendländischen Forschungsausrichtung sind Ottos Arbeiten – noch immer Bestseller unter Veröffentlichungen zur Religionsforschung – innerhalb der Religionswissenschaft zunehmend scharf kritisiert worden. Otto wird dabei oft in einem Atemzug mit Mircea Eliade oder Friedrich Heiler als Vertreter der klassischen Religionsphänomenologie genannt. Otto selbst hat sich jedoch nie als Religionsphänomenologen oder Religionswissenschaftler bezeichnet und lässt sich im Gegensatz zu den oben genannten Vertretern einer Husserlschen Phänomenologie eher in eine Traditionslinie der psychologischen Phänomenologie Karl Jaspers‘ einordnen. Eine kritische Auseinandersetzung mit Ottos Werk sollte deshalb vor dem Hintergrund einer geistesgeschichtlichen Kontextualisierung und von Ottos universitärer Position als systematischem Theologen erfolgen.


„Heilig […] enthält aber, auch für unser Gefühl, einen deutlichen Überschuß den es hier zunächst zu besondern gilt […]. Das wovon wir reden und was wir versuchen wollen einigermaßen anzugeben, nämlich zu Gefühl zu bringen, lebt in allen Religionen als ihr eigentlich Innerstes und ohne es wären sie garnicht Religion […]. Ich bilde hierfür zunächst das Wort: das Numinöse, (wenn man omen ominös bilden kann, dann auch von numen numinös), und rede von einer eigentümlichen numinosen Deutungs- und Bewertungs- kategorie die allemal da eintritt wo jene angewandt, das heißt wo ein Objekt als numinoses vermeint worden ist. Da diese Kategorie vollkommen sui generis ist so ist sie wie jedes ursprüngliche und Grund-datum nicht definibel im strengen Sinne sondern nur erörterbar.“ (Otto 1917: 5-7)

Quelle

Bibliographische Auswahl
Otto, Rudolf: Naturalistische und religiöse Weltansicht, Tübingen 1904.
Ders.: Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie, Tübingen 1909.
Ders.: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917.
Ders.: Aufsätze, das Numinose betreffend, Gotha 1923.
Ders.: West-Östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung, Gotha 1926.
Ders.: Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum. Vergleich und Unterscheidung, Gotha 1930.

Rembremerding
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#2 Re: Rudolf Otto: Das Heilige und Numinose

Beitrag von Rembremerding » So 9. Mär 2014, 18:24

Danke, @Demian. :Herz:
Otto schätze ich sehr.

Rudolf Otto ist das Urgestein moderner Religionspsychologie und beschreibt sehr treffend das mysterium tremendum, die Erfahrung der menschlichen Seele, wenn sie mit dem Göttlichen zusammentrifft. Diese Erfahrung ist nicht an eine Religion gebunden, sondern eine zu erweckende Eigenschaft jeder menschlichen Seele. Otto führt dazu den Begriff des "Numinosen" ein. Die Erfahrung dieses Numinosen beschreibt er folgendermaßen:

Das Gefühl davon kann mit milder Flut das Gemüt durchziehen in der Form schwebender, ruhender Stimmung versunkener Andacht. Es kann so übergehen in eine kontinuierliche Gestimmtheit der Seele, die lange fortwährt und nachzittert, bis sie endlich abklingt und die Seele wieder im Profanen ist.
Es kann auch mit Stoßen und Zuckungen plötzlich aus der Seele hervorbrechen. Es kann zu seltsamen Aufgeregtheiten, zu Rausch, Verzückung und Ekstase führen.
Es hat seine wilden und dämonischen Formen. Es kann zu fast gespenstischem Grausen und Schauder herabsinken. Es hat seine rohen und barbarischen Vorstufen und Äußerungen und es hat seine Entwicklung ins Feine, Geläuterte
und Verklärte.
Es kann zu dem stillen demütigen Erzittern und Verstummen der Kreatur werden vor dem — ja wovor? Vor DEM, der Gegenwart eines unbeschreiblichen Mysteriums, das über allen Geschöpfen steht.

Rudolf Otto: "Das Heilige", S. 19-20.

Otto hatte bereits 1917 seine Erkenntnisse gegen aggressiven Atheismus, ja Anti-Theismus zu verteidigen, weshalb er den Leser humorvoll um ein gewisses Einfühlungsvermögen bat:
Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen.
Wer das nicht kann oder solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten, nicht weiter zu lesen. Denn wer sich zwar auf seine Pubertätsgefühle, Verdauungsstockungen oder auch Sozialgefühle besinnen kann, auf eigentümlich religiöse Gefühle aber nicht, mit dem ist es schwierig, Religionspsychologie zu treiben.

Rudolf Otto: "Das Heilige", S. 14

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2Lena
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#3 Re: Rudolf Otto: Das Heilige und Numinose

Beitrag von 2Lena » So 9. Mär 2014, 19:13

Demian zitiert: Monographie „Das Heilige“ (1917), das für alle Arbeiten Ottos „schlechthin grundlegende Werk“ (Mensching 1971: 53), beschreibt er das Christentum als vollkommene Lehre dessen, was unter Religion zu verstehen sei, während er andere Religionen als Vorstufen der christlichen Heilslehre begreift.
Das war die gängige Meinung von anno 1917 und sie ist in zahllosen Missionszeitschriften zu finden. Mit diesem Motto wurden Dritteweltländer missioniert. Mit seiner Gefühlswelle bewegt sich Otto ebenfalls im Fahrwasser zahlloser Prediger. Mich würde interessieren, ob sie alle Otto lasen, oder die Hochloberei aus einer anderen Quelle stammt und wenn aus welchen Jahrhunderten herrührt.

Otto selbst hat sich jedoch nie als Religionsphänomenologen oder Religionswissenschaftler bezeichnet und lässt sich im Gegensatz zu den oben genannten Vertretern einer Husserlschen Phänomenologie eher in eine Traditionslinie der psychologischen Phänomenologie Karl Jaspers‘ einordnen.
Das klingt alles sehr "gelehrt", aber ich frage mich, was das ganze Buch soll. Völlig andere Begriffe liegen in den "abrahamitischen Gesetzen" vor. Es sind dies die Axiome der Wunschregelung mit den Erläuterungen - was das Heilige überhaupt heilig macht.

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