abc hat geschrieben: ↑Do 3. Okt 2019, 09:25
(1) Wie hat sich besagte Menschengruppe gebildet/gefunden?
(2) Wie sahen die Anfänge der Sprachentwicklung innerhalb dieser Gemeinschaft aus?
Konkrete Bilder und Beispiele sind schwierig, wenn es keine sicheren Erkenntnisse über einen konkreten Hergang gibt.
Man kann sich eine Modellvorstellung ausdenken, doch das birgt die Gefahr, dass eine These plötzlich als Fakt angesehen wird.
Aber ich versuche es noch einmal in anderen Worten, und mit ein paar Beispielen aus der Tierwelt und einer kleinen Geschichte:
(1) Die Menschengruppe gab es schon. Ist das wirklich so schwer vorstellbar?
Ich nehme an, dass auch die frühen Vorfahren der Menschen bereits in Gruppen zusammenlebten als sie noch - vereinfacht gesagt - kleine Äffchen in den Baumwipfeln waren. Wie weit willst du dann noch zurückgehen? Auch Dinoaurier und primitive Säugetiere lebten mit großer Wahrscheinlichkeit bereits in sozialen Gruppen, und sie kommunizierten miteinander. Rangordnung, Paarung, Warnung vor Fressfeinden, gegenseitige Körperpflege, gemeinsame Wanderung... Vielleicht sogar schon kooperatives Verhalten bei der Jagd und bei der Aufzucht der Jungen.
Die Gruppe ist viel älter als die Sprache. Die Gruppe löst sich auch nicht auf sondern lebt über ihre Nachkommen fort. Manchmal wird eine ganze Gruppe ausgerottet, manchmal wechseln Individuen von einer Gruppe in die andere, manchmal schließen sich Gruppen zu größeren Verbänden zusammen.
Aber einzelne Individuen einer frühen Hominidenart, die erst einzeln verstreut sind und sich irgendwann zu einer Gruppe zusammenschließen? Wo sollten die denn herkommen? Wer hätte die denn geboren, wenn nicht eine Mutter? Wie hätten die denn die Kindheit überstanden, wenn nicht mit der Hilfe einer fürsorglichen Familiengruppe?
(2) Wie sahen die Anfänge der Sprachentwicklung innerhalb dieser Gemeinschaft aus?
Nehmen wir doch als ein konkretes Beispiel den Präriehund. Diese kleinen Säuger besitzen nicht nur einen einzelnen Warnruf, sie besitzen verschiedene Warnrufe, je nach Gefahrenlage.
- Wenn ein Raubvogel herabstösst, dann fliehen nur diejenigen Individuen, die sich direkt in der Flugbahn befinden. Der Rest der Kolonie richtet sich auf die Hinterbeine auf und beobachtet den Raubvogel weiter.
- Wenn ein Mensch gesichtet wird, dann fliehen alle Präriehunde ins Innere ihres Baus
- Wenn ein Kojote auftaucht laufen die Präriehunde zum Eingang ihrer Baue, richten sich auf und beobachten den Kojoten. Nur wenn er näher kommt tauchen sie ab
- Ein Hund ist anscheinend noch weniger gefährlich: Die Präriehunde laufen noch nicht einmal vorsorglich zum Tunneleingang, sie richten sich erst einmal nur auf und beobachten.
So weit so gut. Was hat dieses Verhalten mit Sprache zu tun? Nun, das spezielle daran ist, dass die Präriehunde das obige Verhalten auch dann zeigen, wenn gar kein Feind in der Nähe ist: Es genügt, wenn über Lautsprecher der jeweilige Warnruf abgespielt wird.
Das beweist, dass die Präriehunde ganz klar über die Lautstruktur des Warnrufs eine spezifische Bedeutung vermitteln können. Es sind also echte "Worte".
C.N. Slobodchikoff von der Northern Arizona University behauptet sogar, dass die Kommunikation der Präriehunde noch viel komplexer ist und noch viel genauere Informationen übermittelt: Nämlich sogar über Entfernung, Farbe oder Richtung der entdeckten Gefahr.
https://animalstudiesrepository.org/cgi ... t=acwp_vsm
Hat ein Präriehund ein Ich-Bewusstsein? Eine Vorstellung vom Tod? Eine Religion? - Unwahrscheinlich. Trotzdem hat er schon eine lautbasierte Kommunikation, die einer Sprache sehr ähnlich ist. Daraus schließe ich: Eine Spezies kann schon eine ganze Menge "Worte" kennen, benutzen und an die Nachfahren weitergeben, wenn sie auf anderen Gebieten (Bewusstsein, Hirnmasse, Lernfähigkeit, Gebrauch von Werkzeugen) nicht so menschenähnlich entwickelt ist.
Anderes Beispiel. Der Schimpanse. Einer unserer genetisch engsten Verwandten.
Komplexes Sozialverhalten, verhältnismäßig lange Kindheit, Gebrauch von Werkzeugen und Weitergabe von Wissen über solche Werkzeuge an die Nachkommen. Erwiesene Fälle von Ich-Bewusstsein, besonders bei älteren Individuen (der berühmte Spiegeltest. Man tupft einem Tier einen Farbklecks oder einen kleinen Aufkleber auf die Stirn. Man beobachtet solange, bis man sicher ist, dass das Tier den Klecks entweder gar nicht bemerkt oder wieder vergessen hat, weil es sich nämlich nicht darum kümmert. Dann stellt man einen Spiegel auf.
Wenn das Tier nun sein Spiegelbild bemerkt, betrachtet, und als Reaktion darauf beginnt, die eigene Stirn zu säubern - dann hat es den Farbklecks im Spiegel entdeckt, hat sein Spiegelbild als Abbild seiner selbst erkannt und korrekt geschlossen, dass ein Klecks auf der Stirn des Spiegelbildes in der Tat einen Klecks auf der eigenen Stirn bedeutet.
Ein Tier ohne Ich-Bewusstsein interessiert sich entweder gar nicht für das Spiegelbild, oder versucht mit dem Spiegel wie mit einem Artgenossen zu kommunizieren. Oder es versucht, den Farbklecks im Spiegelbild zu berühren, statt am eigenen Kopf.)
Aber entschuldige bitte den Exkurs, zurück zum Thema: Es gibt also Tiere, die haben schon ein relativ weit entwickeltes Denkvermögen und Bewusstsein. Sie erinnern sich, sie kennen und erkennen die Gruppenmitglieder als Individuen und sind sich sogar ihrer selbst bewusst. Sie können Werkzeuge gezielt einsetzen und damit ihre Umwelt zu ihren Gunsten manipulieren.
Dennoch ist ihre "Sprache", im Sinne einer mit spezifischer Bedeutung versehenen Lautäußerung, primitiver als die der Präriehunde.
(Man kann einem Schimpansen vom Tonband nicht so viele Rufe seiner Artgenossen abspielen und damit eine ganz bestimmte, je unterschiedliche Reaktion hervorrufen).
Ich denke mir, dass die Entwicklung der menschlichen Sprache irgendwo in der Kombination beider Systeme liegt.
So, wie es der Schöpfer vielleicht schon von Anfang an vorgesehen hat.
Spinnen wir einmal eine Geschichte, da du doch ein konkretes Bild suchtest:
Da ist irgendwo eine Spezies früher Menschen. Anatomisch und sozial ähnelt diese Spezies den heutigen Schimpansen. Sie belegt auch eine ähnliche ökologische Nische. Aber eine Eigenschaft dieser Wesen ist es, dass sie ein System aus spezifischen Warnlauten besitzen, mit denen sie eine ganze Reihe von Fressfeinden und Gefahrenquellen benennen können.
Über viele Generationen hinweg entwickelt sich das System. Die Laute können nun nicht nur die Art der Gefahr, sondern auch Entfernung und die Richtung relativ zum Sonnenstand kodieren.
Abseits der Warnrufe ist die "Sprache" weniger spezifisch... andere Laute drücken nur allgemein Sympathie aus, Zufriedenheit, Drohung... Außerdem sind die Lautäußerungen der Jungen eine eigene Kategorie: Es gibt ein Wimmern, das Hunger ausdrückt, und einen Ruf, der Einsamkeit und Angst zeigt, wenn es sich verlaufen hat - auch das sind Worte in dem Sinne, dass das Jungtier eine bestimmte Wirkung davon erhofft. Nämlich: Gefüttert oder wiedergefunden zu werden. Wenn es erwachsen wird nutzt es diese Laute nicht mehr.
Können wir uns noch einigen, dass alles oben beschriebene noch nicht entscheidend "menschlich" ist? Das alle oben beschriebenen Elemente, zumindest einzeln, bei Arten vorkommen, die wir noch als "Tiere ohne echtes Sprachvermögen" definieren würden?
Dennoch sind da schon alle wichtigen Punkte angelegt.
Denn spinnen wir die Geschichte weiter. Einzelne Individuen, durch Spiel, Experiment oder Zufall, entwickeln das Lautrepertoire weiter.
Eine nutzt den Laut für "in Richtung der Sonne" während sie die Gruppenmitglieder zu einer Futterquelle in dieser Richtung führt. Dieser Laut war bisher nur ein Modifikator, für die spezifischere Warnung vor Fressfeinden. Aber nun wird er entkoppelt und erhält eine eigenständige Bedeutung. Eine Richtungsanzeige. Die erste Präposition ist geboren: "sonnwärts"
Ein Anderer hat die Eigenschaft, dass er auch als Erwachsener noch den Babylaut des verlassenen Jungtiers ausstößt. Die Gruppenmitglieder verstehen die Bedeutung - auch wenn sie zunächst irritiert sind, den Laut von einem ausgewachsenen Männchen zu hören. Vielleicht ahmen sie den Laut dann ebenfalls nach, wenn sie sich einsam oder traurig fühlen. Wieder wird ein Laut also aus seinem vorigen Zusammenhang heraus geholt, abstrahiert, verallgemeinert.
Als ein Gruppenmitglied stirbt versammelt sich der Rest der Gruppe, und alle machen den Laut des verlorenen Jungtiers nach. Sie versichern sich gegenseitig: "Ich bin auch traurig." und "Wir fühlen uns einsam ohne den Verstorbenen."
Dann gibt es da noch ein Weibchen in der Gruppe, die ihre Zufriedenheit im Alltag durch ein ständiges Brummeln ausdrückt. Dieses Brummeln wird auch von anderen als Ausdruck der Zufriedenheit gebraucht, aber dieses Weibchen brummelt lauter und häufiger als die anderen.
Deren Sohn kombiniert den Wimmerlaut, mit dem er als Baby nach Milch bettelt, mit dem Brummeln, das ihm von klein auf die Gegenwart seiner Mutter signalisierte. Er nutzt diese Lautkombination, wann immer er seine Mutter begrüßt. Seine Geschwister und Cousins machen es nach. Dann auch seine eigenen Kinder, Neffen und Nichten.
Und nun kommt es darauf an:
Wird das neue "Wort" nur auf dieses bestimmte Weibchen verwendet, dann haben sie soeben den ersten Personennamen erfunden.
Wir es aber verallgemeinert und mit der Zeit auf alle erwachsenen Weibchen angewendet, wenn jüngere Nachkommen diese begrüßen oder rufen - dann haben sie das Wort "Mutter" erfunden.
Wichtig: Der Prozess geschieht in der Gruppe. Ein Individuum "erfindet" ein Wort. Aber wenn die anderen das Wort nicht verstehen, dann wird es bald wieder verschwinden. Das Individuum hat keinen Grund, diesen Laut weiterhin von sich zu geben, wenn es damit keine Wirkung erzielen kann.
Ein neu erfundenes Wort, oder ein Bedeutungswandel bei einem bekannten Laut, muss anfangs aus der Situation heraus und durch den Zusammenhang den anderen Gruppenmitgliedern "erklärt" werden. Wenn andere das Wort dann nachahmen und dies der Kommunikation in der Gruppe einen Vorteil verschafft, wird es in den festen Sprachbestand integriert. Die nächste Generation lernt es schon in der Kindheit als Bestandteil ihrer "Muttersprache".
Mit dem Wortschatz wächst dann auch die Komplexität der Sprache. Durch Verallgemeinerung und durch Neukombination können immer abstraktere und genauere Inhalte übermittelt werden.
Und die Gruppe?
Nun, das alles geschieht in einer Zeit als nur sehr, sehr wenige Menschen (Menschenartige? ab wann nennen wir sie Mensch?) auf der Erde lebten. Es sind relativ kleine Gruppen (vielleicht 10-30 pro fester Gruppe, je nach Nahrungsangebot), jede mit einem relativ großen Territorium. Eine Population besteht aus mehreren Gruppen. Sie treffen sich selten, aber einigermaßen regelmäßig. Vielleicht versammeln sie sich zur Trockenzeit an einer zentralen Wasserstelle oder wenn eine bestimmte Frucht reif ist an dem Wald, wo diese reichlich gedeiht.
Zu diesen Gelegenheiten wechseln einzelne Individuen vielleicht die Gruppe, oder die Überlebenden einer dezimierten Gruppe schließen sich einer anderen, größeren an.
Verstehen die sich noch untereinander, wenn sie doch im Alltag meist getrennt sind und getrennt ihre neuen Worte erfinden?
Nun, wenn man annimmt, dass in jeder Generation vielleicht nur ein oder zwei neue Wort erfunden werden, dann wäre schon genug Zeit, dieses neue Wort während der jahreszeitlichen Versammlungen an andere Gruppen weiterzugeben.
(Vielleicht nicht alle. Manche Worte oder Bedeutungen werden vielleicht zum lokalen "Dialekt" einer bestimmten Gruppe.)
Aber solange (a)eine Reihe von Gruppen als Population (Volk?) einen lockeren Verbund bilden und (b) die Sprachentwicklung relativ langsam voranschreitet würde ich annehmen, dass diese Population eine gemeinsame Sprache entwickelt.
Wird aber eine Gruppe isoliert, so isoliert sich auch deren Sprache. Da, wo es keinen regelmäßigen Austausch und keine Treffen zwischen den Gruppen der selben Spezies mehr gibt, da werden sie sich langsam aber sicher auseinander entwickeln. Auch in der Sprache.
Also, abc, wie sieht es aus?
Das war nun eine hoch spekulative Geschichte, aber hast du darin den Schimmer einer möglichen Antwort gefunden?
Liebe Grüße
Mirjam